Am 29. November kam es zu einer durchaus als historisch zu bezeichnenden Bundespressekonferenz. Christine Binzel, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft des Nahen Ostens, Michael Barenboim, Professor an der Barenboim-Said Akademie, Hanna Kienzler vom King’s College in London sowie der Völkerrechtler Wolfgang Kaleck vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) sprachen sachlich und ohne Angst und Tabus von den Völkerrechtsverbrechen Israels in Gaza und der Rolle Deutschlands als „Mittäter“. Die NachDenkSeiten waren vor Ort und dokumentieren die Pressekonferenz in vollem Umfang. Von Florian Warweg.
„Weckruf für Berlin, sich der Wirklichkeit zu stellen“
Eingeleitet wurde die Pressekonferenz durch eine Stellungnahme von Christine Binzel, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft des Nahen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie betonte, die Verbrechen durch die israelische Regierung und ihre Streitkräfte seien mittlerweile klar belegt. Berlin unterstütze Israel dabei „militärisch, politisch, finanziell und rechtlich“. Damit nicht genug, die Bundesregierung spreche bis heute – entgegen zahlreichen Berichten der Vereinten Nationen sowie internationaler Menschenrechtsorganisationen – dem Vorwurf, Israel begehe oder beabsichtige in Gaza einen Völkermord, jede Grundlage ab. Die vom Internationalen Strafgerichtshof ausgestellten Haftbefehle gegen Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant bezeichnete Binzel in diesem Zusammenhang als „jüngsten Weckruf“ für Berlin, sich der Wirklichkeit zu stellen. Ebenso verwies sie auf den belegten Einsatz deutscher Waffen in Gaza und forderte vor diesem Hintergrund ein „vollständiges Waffenembargo“.
Deutschland muss aufhören, die „Vernichtung des palästinensischen Volks“ zu unterstützen
Ihr folgte Michael Barenboim, Professor an der Barenboim-Said Akademie (und Sohn des bekannten argentinisch-israelischen Dirigenten Daniel Barenboim). Er erinnerte an die einschlägigen Äußerungen als zentrale Grundlage des begründeten Verdachts einer genozidalen Absicht der israelischen Regierung. Barenboim zitierte unter anderem die Aussage des damaligen Verteidigungsministers Gallant gleich zu Beginn der israelischen Invasion im Oktober 2023 von »menschlichen Tieren«, gegen die Israel im Gazastreifen kämpfe („Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend“).
Barenboim verwies auch darauf, dass Israel als Besatzungsmacht verantwortlich für die humanitäre Versorgung der Bevölkerung in Gaza sei, tatsächlich aber mit dem Vorenthalten von Strom, Wasser und Nahrungsmitteln das Gegenteil praktiziere. Die Bundesrepublik müsse aufhören, die „Vernichtung des palästinensischen Volks“ zu unterstützen. In dem Zusammenhang verwies er auch auf mediale und medizinische Dokumentationen, welche belegen, dass Kinder in Gaza regelmäßig und gezielt von israelischen Scharfschützen mit Kopfschüssen getötet werden. Ebenso verwies er auf Äußerungen von israelischen Regierungsmitgliedern, die offen erklären würden, dass es das Ziel sei, „die palästinensische Bevölkerung dauerhaft zu vertreiben“. Vor dem Hintergrund dieser Taten und Äußerungen müsse Deutschland „mit der Unterstützung von Israel auf politischer und militärischer Ebene umgehend aufhören“. Es sei die historische Verantwortung Deutschlands, sich für die Einhaltung der Genfer Konventionen, die als Reaktion auf die Taten Deutschlands während des 2. Weltkriegs formuliert worden seien, einzusetzen. Das sei die wahre Staatsräson.
Reparationszahlungen wegen „erheblicher Mitverantwortung für diesen Völkermord“
Hanna Kienzler von der Gesundheits- und Sozialmedizinischen Fakultät des King’s College London brachte im Anschluss die Frage der Reparationszahlungen in die Pressekonferenz ein. Staaten wie Deutschland, die es Israel ermöglichen, Völkerrechtsverbrechen zu begehen und „Gaza dem Erdboden gleichmachen“, tragen laut Kienzler „eine erhebliche Mitverantwortung für diesen Völkermord“. Deutschland müsste sich in Folge als „Mittäter“ in Form von Reparationszahlungen am Wiederaufbau von Gaza beteiligen. Zudem betonte sie, dass es in Deutschland keinerlei Geschichtsverständnis über Palästina gebe:
„Wir haben hier doch überhaupt kein Geschichtsverständnis über Palästina und die hochentwickelte Kultur dort. Palästina kommt in unseren Geschichtsbüchern in den Schulen nicht vor.“
„Deutschland wird nicht mehr ernstgenommen“
Die Runde schloss der Völkerrechtler Dr. Wolfgang Kaleck vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Laut ihm seien in Deutschland die Auswirkungen der bisherigen Stellungnahmen und Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs zu Israels Vorgehen in Gaza und Westbank in ihrer ganzen Bedeutung noch gar nicht erfasst worden:
„Das muss hier erstmal in seiner ganzen Bedeutung rezipiert werden.“
Zudem kritisierte er die tendenziöse Auslegung Deutschlands des Genozid-Begriffs. So habe das Auswärtige Amt federführend im Falle von Myanmar für einen sehr breite Auslegung des Begriffs geworben (ähnlich auch im Falle Bosniens) und setze sich nun aber bei Israel für eine sehr enge völkerrechtliche Auslegung des Begriffs ein. Zur Frage der anhaltenden Rüstungsexporte nach Israel erklärte der ECCHR-Generalsekretär, völkerrechtlich sei der „begründete Verdacht ausreichend, um Waffenlieferungen nach Israel zu verbieten“. Das sollte Deutschland auch umgehend tun, sonst, so seine Prognose, wird es einen „weiteren Fall wie Nicaragua gegen Deutschland“ geben (Nicaragua hatte am 1. März 2024 offiziell Klage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) gegen Deutschland wegen „Beihilfe zum Völkermord“ eingereicht. Begründet wurde dies unter anderem mit der politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung für Israel und der Streichung der Mittel für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) durch die Bundesrepublik.
Aufgrund der im Falle Israels angewandten Doppelstandards erleide Deutschland derzeit einen massiven Ansehensverlust in der internationalen Völkerrechts-Community, so Kaleck abschließend:
“Deutschland wird, was Völkerrecht angeht, nicht mehr ernstgenommen“
Die NachDenkSeiten fragten in diesem Rahmen auf der BPK nach der konkreten Umsetzung der geforderten Reparationszahlungen Deutschlands an die Palästinenser sowie welchen Spielraum das Völkerrecht lässt, den Haftbefehl gegen den israelischen Premier in Deutschland nicht durchzuführen, wie es zuvor Regierungssprecher Steffen Hebestreit zu verstehen gegeben hatte:
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 29.11.2024
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