„Einsatz von ATACMS wird den Verlauf des Krieges nicht ändern“ – Exklusivinterview mit Dmitri Trenin

„Einsatz von ATACMS wird den Verlauf des Krieges nicht ändern“ – Exklusivinterview mit Dmitri Trenin

„Einsatz von ATACMS wird den Verlauf des Krieges nicht ändern“ – Exklusivinterview mit Dmitri Trenin

Ein Artikel von Éva Péli

Der Westen klettert auf der „Eskalationsleiter“ immer höher. Nach der Entscheidung Joe Bidens, den Einsatz von weitreichenden Raketen auf russischem Gebiet freizugeben, baten wir den renommierten russischen Politologen Dmitri Trenin um eine Einschätzung. Das Interview mit Dmitri Trenin wurde von Éva Péli geführt und aus dem Russischen übersetzt.

Éva Péli: Der scheidende US-Präsident Joseph Biden hat die Ukraine ermächtigt, US-Waffen mit größerer Reichweite gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen. Was denken Sie über diese Entscheidung?

Dmitri Trenin: Die US-ATACMS-Raketen haben bereits die Region Brjansk in Russland getroffen. Ihnen folgten Storm-Shadow-Angriffe auf die Region Kursk. Zuvor hatten die ukrainischen Streitkräfte die Krim mit diesen Raketen beschossen. Für Russland gibt es im Prinzip keinen Unterschied zwischen den Zielen dieser Angriffe: Beide sind verfassungsmäßiges Territorium der Russischen Föderation, aber psychologisch gesehen gibt es in den Köpfen der Menschen immer noch einen Unterschied zwischen den „neuen“ und den „alten“ Regionen des Landes. Der Einsatz von ATACMS ist ein weiterer Schritt des Westens zur Eskalation des Krieges in der Ukraine. Er wird den Verlauf des Krieges nicht ändern. Die Motive der Biden-Administration sind im Allgemeinen klar: erstens, um Trump mit ihrem Ukraine-Kurs zu „fesseln“; zweitens, um Kritikern zu antworten, die glauben, dass Biden Kiew im Krieg nicht ausreichend unterstützt.

Welche Art von Antwort können wir von Russland erwarten, auch angesichts der Tatsache, dass Präsident Wladimir Putin im September Vergeltungsmaßnahmen angekündigt hat? Er sagte, der Einsatz weitreichender westlicher Waffen gegen Russland würde eine direkte Beteiligung der NATO-Länder am Konflikt in der Ukraine bedeuten, und warnte: „Wenn sie den Krieg nach Osten, auf das Territorium der Ukraine, verlagern, wird er dort nicht enden, denn der Krieg wird auch den Westen erreichen.“

Russland führt einen Krieg, der auf seiner eigenen Strategie beruht und dem Medieneffekt weit weniger Aufmerksamkeit schenkt, als dies der Westen tut. Darüber hinaus will Moskau nicht zu drastischen Vergeltungsmaßnahmen provoziert werden, die einen Vorwand für eine weitere Eskalation des Krieges darstellen könnten. So wird Moskau zum Beispiel gedrängt, einen Atomschlag gegen die Ukraine zu führen. Russland hingegen ist nicht nervös, sondern strebt stetig danach, seine definierten Ziele vollständig zu erreichen.

Gegen wen wird die Antwort gerichtet sein?

In der Tat erweitern die Änderungen in Russlands Nukleardoktrin die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen erheblich. Präsident Putin erklärte bereits im September dieses Jahres, dass der Einsatz westlicher weitreichender Waffen gegen Russland als direkte Aggression seitens dieser Staaten betrachtet werden würde. Der Ende November durchgeführte Test der neuen russischen Mittelstreckenrakete „Oreschnik“ ist ein wichtiges Signal an den Westen. Nachdem Moskau die Grenzen verbaler Interventionen ausgeschöpft hat, ist es nun zu praktischen Handlungen übergegangen.

Wie bereitet sich Russland auf eine weitere Eskalation vor? Welche politischen, militärischen und sozialen Maßnahmen sind ergriffen worden?

Wie es angekündigt wurde, entwickelt Russland ein Programm zum Bau von Mittelstreckenraketen. Auch die Umsetzung anderer Waffenentwicklungs- und -produktionsprogramme sind in Arbeit. Bisher war die Eskalation des Krieges in der Ukraine das Ergebnis von Handlungen der NATO-Länder, von den Panzerabwehrraketen „Javelin“ bis zur Lieferung von ATACMS. Diese Eskalation führte unmittelbar zur direkten Konfrontation der NATO mit Russland. Dies ist die Linie des Westens, die durchbrochen werden muss, um einen weltweiten Atomkrieg zu verhindern.

Wie schätzen Sie in Anbetracht dieser Entscheidungen die Chancen für eine Verhandlungslösung des Konflikts ein?

Präsident Putin hat Mitte Juni 2024 die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen zur Beilegung der Ukraine-Krise dargelegt. Putin hat auch wiederholt erklärt, dass Russland entschlossen ist, die Krise zu lösen und nicht einzufrieren. Wenn die Feindseligkeiten einfach eingestellt, aber die Probleme, die den Konflikt verursacht haben, nicht gelöst werden, wird der Krieg unweigerlich wieder aufflammen, und zwar mit noch größerer Intensität. Die Gründe für den Krieg sind auch von russischer Seite immer wieder genannt worden. Sie stehen im Zusammenhang mit der Sicherheit Russlands, der strategischen Stabilität in Europa, der Achtung der Rechte der ethnischen Gruppen, ihrer Sprache und Kultur. All dies sind lebenswichtige Interessen für Russland. Es wird sich bemühen, die Ziele der speziellen Militäroperation in größtmöglichem Umfang zu erreichen.

Meiner Meinung nach haben die USA ihr Ziel in Bezug auf die Krise in der Ukraine nicht definiert. Die bisherige Strategie der Regierung Biden war erfolglos; der designierte Präsident Donald Trump muss erst noch eine neue Strategie formulieren. Man kann ihm nur Weisheit und mehr Realismus wünschen, als sein Vorgänger hatte.

US-Präsident Biden sagte früher, dass er den Einsatz dieser Raketen gegen Ziele in Russland nicht genehmigen würde, weil dies zum dritten Weltkrieg führen würde. Kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt des Präsidenten befürchtet er offenbar keinen dritten Weltkrieg mehr. Was hat sich Ihrer Meinung nach seither geändert?

Soweit ich aus großer Entfernung erkennen kann, versucht die Biden-Regierung nach der Niederlage der demokratischen Kandidatin Kamala Harris, die militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu maximieren, bevor sie die Macht an das Team von Trump übergibt. Wahrscheinlich wollen sie Trump auf diese Weise mit Bidens bisheriger Politik verknüpfen. Darüber hinaus provozieren die Vereinigten Staaten mit ihren eigenen Händen und den Händen der Ukraine Russland zu scharfen Vergeltungsbewegungen – vielleicht sogar zum Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine, um damit Russlands Partner gegen Moskau aufzubringen. Dies ist ein unverantwortliches und äußerst gefährliches Verhalten, aber die Demokraten, die die Wahl verloren haben, handeln ohne Rücksicht auf die möglichen Folgen.

Die Zustimmung Bidens zu Angriffen mit US-amerikanischen weitreichenden Waffen tief im Inneren Russlands wird laut russischen Medien die Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz, Kiew nicht mit Taurus-Marschflugkörpern zu beliefern, nicht beeinflussen. Welches Gewicht haben die Worte des deutschen Bundeskanzlers in Russland?

Deutschlands Verhalten in der ukrainischen Krise ist eine der größten Enttäuschungen des heutigen Russlands. Die deutsche herrschende Klasse zerstörte fast vollständig die einzigartige historische Versöhnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Moskau und Bonn und dann zwischen Moskau und Berlin entstand und die sich in Moskaus Zustimmung zur deutschen Einheit manifestierte. Angela Merkel hat enttäuscht (und enttäuscht in ihren Memoiren weiter), und Olaf Scholz hat es nicht geschafft, Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

Das Einzige, was im Kreml einen gewissen Respekt für Scholz hervorruft, ist seine konsequente Haltung, Kiew keine „Taurus“-Raketen zu liefern. Hier schwimmt der Kanzler gegen den Strom der deutschen Politelite. Die Bereitschaft Putins, „zum Hörer zu greifen“, als Scholz ihn anrief, hängt wohl damit zusammen. In Deutschland hingegen stehen im Februar Wahlen an. Der Vorsitzende der CDU/CSU und wahrscheinliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz vertritt eine äußerst harte Linie gegenüber Russland. Aufrufe in Deutschland, sich auf einen neuen Krieg gegen Russland in naher Zukunft vorzubereiten, werden in Moskau auch deshalb ernst genommen.

Dmitri Trenin ist Co-Autor des vor Kurzem erschienenen Buchs mit dem Titel „Von der Abschreckung bis zur Einschüchterung“.

Titelbild: Shutterstock / Tomasz Makowski

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