Jeffrey Sachs: Diplomatie oder Desaster

Jeffrey Sachs: Diplomatie oder Desaster

Jeffrey Sachs: Diplomatie oder Desaster

Ein Artikel von Ernst Burger

Das vor kurzem im Westend-Verlag erschienene neue Buch von Jeffrey Sachs „Diplomatie oder Desaster: Zeitenwende in den USA – ist Frieden möglich?“ fasst zahlreiche seiner Aufsätze, die in den letzten Jahren zum Ukraine-Krieg und dessen Vorgeschichte erschienen waren, systematisch zusammen. Eine Buchrezension von Ernst Burger.

Die aktuelle Einleitung vom August 2024 stellt in einem souveränen historischen Rückblick die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland bzw. der Sowjetunion und Deutschland dar: bis zum 2. Weltkrieg, die durch die deutsche Niederlage bewirkte Teilung Deutschlands, den Kalten Krieg und die Wiedervereinigung 1990 wesentlich bedingt durch Gorbatschow. Jeffrey Sachs betont die frühen Perspektiven einer deutschen Wiedervereinigung, beruhend auf einem Vorschlag von George Kennan bereits 1948/Anfang der 1950er-Jahre auf der Basis eines Friedensvertrages – den es nach wie vor nicht gibt (!) –, durch Neutralität und Abrüstung, den Abzug aller ausländischen Streitkräfte und politische Kontrolle der Siegermächte. Dies wurde ebenso abgelehnt wie danach, 1952, das bekannte Angebot von Stalin zu einer deutschen Wiedervereinigung auf der Grundlage von Neutralität. In allen Fällen von den USA verhindert wegen des Ziels einer Eindämmung der Sowjetunion und Aufrechterhaltung der außenpolitischen Kontrolle der USA über Westdeutschland (nach der bekannten, auch hier zitierten Prämisse von Lord Ismay, des ersten Generalsekretärs der NATO, dass deren Zweck darin bestehe, „die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“).

Die ausdrückliche, vielfach belegte Zusage von US-Außenminister James Baker und von Genscher gegenüber Gorbatschow bei der Wiedervereinigung, die NATO werde nicht nach Osteuropa expandieren, wurde bekanntlich gebrochen. Sachs listet die Verstöße der USA und der NATO gegen die nationalen Sicherheitsinteressen Russlands seit 1999, der ersten Welle der NATO-Erweiterungen, bis März 2022, der Ablehnung des Entwurfs eines Friedensabkommens zwischen Russland und der Ukraine, chronologisch umfangreich auf. Ziemlich ratlos steht er vor der Frage, wieso Scholz und Baerbock, anders als ihre Vorgänger, keinerlei Bedenken gegen die amerikanische Außenpolitik artikuliert und jederzeit bereitwillig sämtliche Positionen der US-Hardliner unterstützt haben, obwohl diese offensichtlich nicht im Interesse der deutschen Sicherheit und Wirtschaft lägen: Ukrainekrieg, Nord Stream II und deutsche Energiepolitik usw. Eine mögliche – kaum vollständig überzeugende – Erklärung sieht er in Scholz‘ persönlicher Schwäche als Politiker, seinem fehlenden außenpolitischen Verständnis und den Grünen als Koalitionspartner („Man kann argumentieren, dass die deutschen Grünen in gewisser Weise selbst das Machwerk der US-Außenpolitik sind“).

Im Folgenden werden in einzelnen Kapiteln, überschrieben mit „Basiswissen: Hinter dem Krieg in der Ukraine“, „Vor dem Krieg“, „Direkt nach Kriegsbeginn“ und „Ewiger Krieg“ jeweils einige einschlägige Aufsätze oder Beiträge von Jeffrey Sachs abgedruckt. Leider fehlen hier Angaben zum jeweiligen Medium, in dem diese insgesamt 19 Beiträge bereits erschienen sind.

Auch gehen diese Aufsätze, datiert im jeweils angegebenen Zeitraum von Juni 2021 bis Juli 2024 und hier nicht immer in dieser chronologischen Reihenfolge abgedruckt, naturgemäß von zum Teil unterschiedlichen historischen Situationen aus (insbesondere bei der Entwicklung des Ukraine-Krieges) und überschneiden/wiederholen sich teilweise inhaltlich, was die Bewertung der politischen Hintergründe betrifft.

Zusammengefasst finden sich dort die – NachDenkSeiten-Lesern nicht unbekannten – Thesen von Jeffrey Sachs, dass die Ideologie der (ursprünglich von Leo Strauss beeinflussten) Neocons (Paul Wolfowitz, Robert Kagan, Victoria Nuland, Irving Kristol u. a.) die alleinige imperiale Hegemonie der USA und damit auch die Einkesselung Russlands ist. Deshalb haben diese aktuell innerhalb der Regierung Biden durch die NATO-Erweiterung in mehreren Wellen nach Osteuropa und zuletzt den Versuch der Aufnahme der Ukraine den Einmarsch Russlands in die Ukraine provoziert.

In der amerikanischen Außenpolitik gehe es nicht um das Wohl des amerikanischen Volkes, sondern um die Interessen der Insider in Washington – letztlich den „Deep State“, den militärisch-industriellen Komplex. Die gescheiterten Kriege der USA haben nach Rechnung von Jeffrey Sachs seit 2000 rund fünf Billionen Dollar an direkten Kosten, entsprechend etwa 40.000 Dollar je Haushalt, verursacht. Die Aufwendungen für das US-Militär werden im Jahr 2024 rund 1,5 Billionen Dollar (!) betragen, wenn neben den direkten Ausgaben des Pentagon auch diejenigen der CIA und anderer Geheimdienste, das Atomwaffenprogramm und weitere „sicherheitsrelevante“ Posten mitgerechnet werden. Diese Kosten des militärisch-industriellen Komplexes werden jedoch nunmehr, anders als beim Vietnam-Krieg, nicht mehr durch Steuern finanziert, sondern wesentlich durch Defizitausgaben (= Schulden) verschleiert.

Die USA, das Team Biden-Sullivan-Nuland, hatten bereits 2014 den gewaltsamen Sturz des ukrainischen Präsidenten Janukowytsch, der für die Neutralität der Ukraine eingetreten war, offen und verdeckt massiv unterstützt. Die USA haben auch sämtliche Bemühungen zur Vermeidung und sodann Beendigung des Ukrainekrieges als Stellvertreterkrieg der USA mit Russland sabotiert. Die USA haben aufgrund überwältigender Beweise die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines gesteuert (aufgrund dieser öffentlichen Aussage sei er ab sofort nie wieder ins „US-Mainstream-Fernsehen“ eingeladen worden, so Jeffrey Sachs im abschließenden Interview mit Oskar Lafontaine). Das – sich ständig steigernde – Sanktionsregime gegen Russland ist nicht nur weitgehend wirkungslos geblieben, es wird vom größeren Teil der Länder außerhalb der Europäischen Union nicht unterstützt und richtet überdies als Bumerang-Effekt die größeren wirtschaftlichen Schäden für Europa und die USA an. Die Risiken eines Atomkrieges würden bewusst heruntergespielt.

Jeffrey Sachs bezieht sich wiederholt auch auf die frühe Prophezeiung von George Kennan, der 1997 die bereits damals geplante NATO-Erweiterung mit der Ukraine als Wiederherstellung des Kalten Krieges bezeichnete. Gleiches sagten frühzeitig der Verteidigungsminister von Präsident Clinton, William Perry, und der damalige US-Botschafter in Russland und aktuelle CIA-Direktor William Burns voraus.

Sachs rekurriert in seinen Artikeln überdies mehrfach auf John F. Kennedy, der in seiner Friedensrede 1963 angesichts der Atomwaffenrisiken überzeugend für außenpolitische Vernunft, ein besseres Verständnis und Kommunikation eingetreten sei – ganz anders als das Verhalten von Präsident Biden (im abschließenden Gespräch mit Oskar Lafontaine deutet Jeffrey Sachs sogar an, dass nach seiner „Überzeugung … Kennedy durch eine Verschwörung der US-Regierung getötet wurde“). Eine solche wiederholte Hommage an Kennedy mutet etwas naiv an, wenn Jeffrey Sachs sich an anderen Stellen auch auf die bekannte Warnung von Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede vor den Gefahren des militärisch-industriellen Komplexes und weiter darauf bezieht, dass amerikanische Präsidenten eigentlich qua Amtes eine Art imperialistische Charaktermasken seien.

Das Highlight des Buches ist nach Ansicht des Rezensenten das abschließende Gespräch zwischen Jeffrey Sachs und Oskar Lafontaine, moderiert von einem (anonym gebliebenen!) Vertreter des Westend-Verlages. In dieser sehr offenen und inhaltlich weit gespannten Diskussion nennt sich Jeffrey Sachs nach seiner „Wirtschaftsphilosophie“ und seinem Ansatz selbst einen Sozialdemokraten (Anmerkung: wohl eher aus einem nostalgischen Verständnis traditioneller Sozialdemokratie als aus aktuellem Politikansatz sich sozialdemokratisch Nennender, nunmehr eigentlich neoliberal, außenpolitisch entspannungsfeindlich und russophob Ausgerichteter solcher Parteien heraus – Oskar Lafontaine bezeichnet die SPD in diesem Gespräch auch „als schon keine linke Partei mehr“).

Er berichtet zunächst ausführlich von seiner umfangreichen Beratertätigkeit für die polnische Regierung 1989 und andere postkommunistische Regierungen des ehemaligen Osteuropa im Übergangsprozess. Lafontaine stellt als sein eigenes „Fazit aus den letzten Jahren“ fest: „Die USA sind die aggressivste Weltmacht überhaupt und völlig ungeeignet, ein Verteidigungsbündnis anzuführen“ – sie agieren mittels ihrer willigen Vasallen. Beide finden auch hier unverändert keine schlüssige Antwort auf die Frage, warum die deutschen Regierungschefs im Allgemeinen und jetzt Olaf Scholz im Besonderen, anders als etwa noch Helmut Schmidt, nicht die deutschen Interessen wahrnehmen, sondern ihre Vasallenabhängigkeit von den USA vollständig hinnehmen (wiederum Oskar Lafontaine: „Und Olaf Scholz ist eine einzige Katastrophe. Manche glauben, dass die USA bezüglich seiner Verwicklung in den Cum-Ex-Skandal irgendetwas gegen ihn in der Hand haben, um ihn zu nötigen. Ob das zutrifft, weiß ich nicht.“). Hinsichtlich einer Beendigung des Ukraine-Krieges, nunmehr durch Trump, sind beide nicht besonders optimistisch, da es hierzu letztlich auf die Interessen des „Tiefen Staates“ in den USA ankomme.

Dieses Buch gibt einen sehr guten, zusammenfassenden Überblick über den Stand der Diskussion zum Ukraine-Krieg, jenseits des weitestgehend einheitlich veröffentlichten Mainstream-Narrativs vom überraschenden und unprovozierten russischen Angriffskrieg seit Februar 2022, der die Vorgeschichte ausblendet. Für Leser der NachDenkSeiten im Allgemeinen und der Beiträge von Jeffrey Sachs im Besonderen ist insoweit nicht so arg viel Neues enthalten.

Editorisch fehlt zumindest ein Verzeichnis der Fundstellen der hier abgedruckten Beiträge von Jeffrey Sachs. Ein Novum ist: Dessen Aufsätze enthalten insgesamt 142 Fußnoten. Deren Texte selbst werden jedoch nicht, wie sonst editorisch und redaktionell üblich, am Ende der Seite oder am Ende der einzelnen Beiträge oder zusammengefasst am Ende des Buches wiedergegeben. Dort findet sich lediglich ein ganz knapper Hinweis, dass sich „ein umfassendes Quellenverzeichnis“ (gemeint sind die Texte der Fußnoten selbst!) auf der Website des Westendverlages unter einem dortigen Untermenü befindet! Dies ist somit kein ganz vollständiges Buch – der Leser muss, will er naheliegend mal auf den Inhalt von Fußnoten zurückgreifen, bei der Lektüre der Texte immer parallel einen Bildschirm geöffnet halten oder sich dieses „Quellenverzeichnis“ mit der Fußnotenauflistung, im Umfang von sieben Seiten (!), ausdrucken und die Ausdrucke gesondert rezipieren, also das Buch allererst vervollständigen – im Ergebnis ein editorischer Hybrid, ein verlagstechnisches Novum, zumal bei einem broschierten Büchlein von ca. 170 Seiten zu einem Preis von immerhin 20,- €.

Oskar Lafontaine, Jeffrey Sachs: Diplomatie oder Desaster: Zeitenwende in den USA – ist Frieden möglich?, Westend Verlag 2024, 176 Seiten, 20,00 Euro

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