Im zu Ende gehenden Jahr wurden bundesweit 23 Kliniken für immer zugemacht – mindestens. 90 weitere sind akut in ihrer Existenz bedroht. Dramatisch ist der Schwund bei der Geburtshilfe. In 30 Jahren haben sich die Kapazitäten mehr als halbiert. Der Gesundheitsminister will gegensteuern, mit „Kompetenzverbünden“, während seine Krankenhausreform die Versorgungslandschaft um Hunderte Standorte lichten soll. Eine Weihnachtsgeschichte, die im Straßengraben endet. Von Ralf Wurzbacher.
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Man stelle sich Karl Lauterbach (SPD) als Frau vor – Karlotta –, der es vergönnt wäre, ein Kind zu empfangen. Dann der Tag der Niederkunft, die Fruchtblase geplatzt, alles muss schnell gehen. Aber: keine Geburtsklinik weit und breit. Karlotta, von Wehen gekrümmt auf der Rückbank des Autos wimmernd, am Steuer ihr Gatte – nennen wir ihn Josef –, schweißgebadet und am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das Krankenhaus vor Ort: vor zwei Jahren dichtgemacht. Das in der nächsten Kreisstadt: kein Kreißsaal. Das übernächste, 50 Kilometer weg: Personalmangel. Man ahnt, wie die Sache ausgeht …
Noch sind sie eine Seltenheit: Notgeburten auf halber Strecke zum Hospital. Vor fast einem Jahr zum Beispiel gebar eine Frau ihr Baby auf dem Seitenstreifen der Autobahn 99 bei München, unter Mithilfe ihres Mannes, „glücklicherweise Arzt“, der kurzerhand als Hebamme einsprang. Oder im Sommer 2023 in Norddeutschland: Weil gleich vier Standorte in Bremen sie nicht aufnehmen konnten, wurde eine Frau in den Wehen ins fast 80 Kilometer entfernte Vechta verfrachtet, wo die Geburt schließlich erfolgreich vonstattenging.
Kreißsäle im Schwund
Die Dinge enden nicht immer so glimpflich. Dabei werden sich solche Fälle häufen. Am Mittwoch machte das „Bündnis Klinikrettung“ im Rahmen einer Videokonferenz neue Zahlen zum allgemeinen Kliniksterben publik. 2024 gingen in bis dato 23 Häusern für immer die Lichter aus, und noch ist das Jahr nicht vorbei. Dazu wurde vielerorts der Betrieb einzelner Fachabteilungen eingestellt – darunter allein 13 Geburtshilfestationen, ein Bereich, „der schon seit Jahren dramatisch ausgedünnt worden ist“, wie es seitens der Initiative heißt. So habe sich die Anzahl der Kreißsäle „in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert“, nur noch ein Drittel der Krankenhäuser könne Gebärende versorgen.
Offensichtlich rentiert es sich nicht mehr, Kinder zur Welt zu bringen – für ein sogenanntes Gesundheitssystem, das einzig entlang betriebswirtschaftlicher Parameter tickt. Wirft die Babystation keinen Gewinn ab oder macht sie gar Verluste, dann wird abgewickelt, dann hat es sich ausgewickelt. So einfach ist das. Der Bundesgesundheitsminister nahm dieser Tage Empfehlungen für eine Reform der Geburtshilfe durch die Regierungskommission Krankenhäuser in Empfang. Richten sollen es demnach „perinatalmedizinische Kompetenzverbünde“, um so die Betreuung von Schwangeren, insbesondere Risikopatientinnen zu verbessern und Komplikationen bei der Geburt zu reduzieren. Das klingt innovativ, wird aber den massiven Kahlschlag in der Breite der Versorgungslandschaft nicht wettmachen. Wo kein Kreißsaal mehr ist, wird auch kein neuer dadurch entstehen, dass sich einzelne Standorte zusammenschließen. Bestenfalls wird der Schwund gebremst.
Kahlschlag politisch gewollt
Dabei ist die Lage schon jetzt dramatisch, wie Lauterbach selbst einräumen musste. In den vergangenen Jahren sind in Deutschland im Schnitt drei von 1.000 Lebendgeborenen gestorben. Damit rangiert die eigentlich so reiche BRD unter dem EU-Mittel hinter einer ganzen Reihe anderer europäischer Staaten. „Das ist bestürzend. Wir haben wenige Kinder, und diese Kinder sollten sicher und gut geboren werden“, bekundete Lauterbach. Und was unternimmt er? Mit seiner „großen Krankenhausreform“ drohen nicht nur Hunderte mehr Kliniken von der Landkarte zu verschwinden, davon freilich auch solche mit Geburtsstation. Die Flurbereinigung ist sogar ausdrücklich gewollt. Erst vor einem Monat hatte Lauterbach der Bild wieder gesagt: „Es ist ganz klar, dass wir in zehn Jahren spätestens ein paar Hundert Krankenhäuser weniger haben werden“, weil „dafür haben wir nicht den medizinischen Bedarf“.
Nach einer durch sein Ministerium selbst in Auftrag gegebenen Analyse könnten in Zukunft nicht weniger als 358 Krankenhäuser zu sogenannten Level-1i-Standorten degradiert werden, die „stationäre Leistungen der interdisziplinären Grundversorgung wohnortnah mit ambulanten fachärztlichen Leistungen als auch mit medizinisch-pflegerischen Leistungen“ verbinden sollen. Für Kritiker wären das faktisch keine Krankenhäuser mehr beziehungsweise stünden sie ganz oben auf der Abschussliste. Der Minister findet das alles prima, denn „jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten“, wie er 2019 freimütig bekannte, als er noch SPD-Abgeordneter war.
Investoren überversorgt
Tatsächlich sind „jeder“ ein paar wenige einschlägige Gesundheitsökonomen, die als Lobbyisten der großen Klinikkonzerne seit Jahr und Tag das Lied von der „Überversorgung“ singen. Dabei wird hierzulande tatsächlich „überversorgt“, etwa in Gestalt jährlich Zigtausender medizinisch zweifelhafter, aber lukrativer Hüft-, Kniegelenks- und Wirbelsäulenoperation. „Da sind wir tatsächlich mehrfache Weltmeister“, befand der ehemalige Chefarzt Thomas Strohschneider im Interview mit den NachDenkSeiten zu seinem Buch „Krankenhaus im Ausverkauf“. Echte Unterversorgung zeigt sich dagegen dann, wenn es gefährlich wird, wenn Ärzte und Kliniken nicht mehr wohnortnah zu erreichen sind, am Mangel an Betten, Ärzten, Pflegerinnen, Medikamenten – alles Kennzeichen des deutschen Gesundheitswesens.
Es geht um die Grundsatzfrage: Sollen Krankenhäuser Profitmaximierungsanstalten sein? Dann stimmt die Rechnung der Neoliberalen, dass ein breit aufgestelltes System zu „teuer“ und „ineffektiv“ ist, weil es die Umverteilung zugunsten der Big Player hemmt. Oder sollen Krankenhäuser den Menschen dienen und flächendeckend Kapazitäten vorhalten, die viel Geld kosten können und müssen, aber keine Investoren reich machen? Lauterbach hatte seine Wahl spätestens 2003 mit den in seiner Mitverantwortung eingeführten Fallpauschalen (Diagnosis Related Group – DRG) getroffen, womit die Kommerzialisierung und Privatisierung der Krankenhäuser maßgeblich vorangetrieben wurde. Die DRGs bescheren vor allem großen und spezialisierten Häusern Gewinne, während sie den kleinen die Substanz rauben. Die Konsequenz: 40 Prozent der Allgemeinkrankenhäuser gehören inzwischen privaten Trägern, 31,5 Prozent gemeinnützigen und nur noch 28,5 Prozent der öffentlichen Hand. 1991 verwaltete der Staat noch fast die Hälfte aller Kliniken.
Kalte Flurbereinigung
Die nun geplante sachte Abkehr vom DRG-System, ergänzt durch flankierende Vorhaltepauschalen, ist kaum mehr als eine Beruhigungspille, die von der mit noch mehr Wucht forcierten Zentralisierung zum Vorteil der Platzhirsche ablenken soll. Kernstück der Pläne ist eine stärkere medizinische Spezialisierung. Vor allem kleinere Häuser sollen in Zukunft weniger Leistungen anbieten und größere Eingriffe den Großen überlassen. Das wird die Pleitewelle, insbesondere in ländlichen Regionen, noch befeuern. Wirklich glaubhaft wirken deshalb auch die Einlassungen des Ministers nicht, mit seiner Reform der Dynamik Einhalt gebieten zu wollen. Ihn stört angeblich, dass der Aderlass so ungeordnet vonstatten geht, während er lieber nach Plan plattmachen will. Seinen „Kummer“ muss man ihm trotzdem nicht abnehmen. Was sollte er dagegen haben, dass sich die Arbeit einstweilen wie von selbst erledigt?
Nach den am Mittwoch vorgelegten Zahlen wurden in den zurückliegenden fünf Jahren bundesweit über 90 Kliniken dichtgemacht. 2023 bildete den vorläufigen Höhepunkt mit 25 Abwicklungen. 2024 waren es bisher zwei weniger. Leidtragende sind neben der örtlichen Bevölkerung insgesamt 5.000 Beschäftigte, wobei der Großteil der Arbeitsplätze in der Regel wegfällt und nur in „manchen Fällen“ eine Alternative vor Ort Abhilfe schafft. Eigentlich verspricht Lauterbach für alle geschlossenen Häuser Ersatzlösungen, sogar mit qualitativen Verbesserungen in der Breite. Das „Bündnis Klinikrettung“ hatte dies zu Jahresanfang durch Recherchen widerlegt. „Bei 77 Prozent der untersuchten Schließungen gingen die Betten vollständig verloren, nur in fünf Prozent der Fälle wurden alle Betten erhalten – aber nicht vor Ort.“ In einem Drittel der Fälle sei die Versorgung „komplett“ weggefallen. Nach diesem Muster geht es weiter. Auf kurze Sicht stünden allein 90 weitere Standorte „akut“ auf der Kippe, warnten die Aktivisten.
Reform auf der Kippe
Auch die Bürger haben ihre Wahl getroffen. In einer durch die Aktivisten beim Civey-Institut in Auftrag gegebenen Umfrage plädieren über 85 Prozent der Teilnehmer für eine gemeinnützige Ausrichtung von Krankenhäusern. Nur knapp sechs Prozent befürworten die Gewinnorientierung. Zugleich rechnen mehr als 62 Prozent mit weiteren Verschlechterungen bei der medizinischen Versorgung infolge der Lauterbach-Reform. Lediglich 13,6 Prozent erwarten eine Verbesserung.
Der Gesundheitsminister wird die Ergebnisse tunlichst übersehen. Zumal er fürchten muss, dass seinem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG), dem Kern seiner Klinikreform, kurz vorm Zieleinlauf die Luft ausgeht. Nach dem Bruch der Ampel fehlen plötzlich die nötigen Mehrheiten in Bund und Ländern, und die Union droht offen damit, die Vorlage scheitern zu lassen. Am heutigen Freitag befasst sich der Bundesrat mit dem Regelwerk. Mehrere Länder haben Widerstand angekündigt und wollen den Vermittlungsausschuss anrufen, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen und wohl auch Bayern. Für Spannung ist gesorgt.
Gesundheit für alle
Müsste das Gesetz noch einmal zur Inspektion, will CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nicht mehr mitmachen. „Die Vorstellung, dass man sich auf Basis eines verkorksten Lauterbach-Gesetzes auf Reparaturmaßnahmen einigen könnte, die das Gesetz zustimmungsfähig machen, halte ich für nicht realistisch“, äußerte er sich zu Wochenbeginn. Bei den Klinikrettern wächst deshalb die Zuversicht. „Stoppen Sie Lauterbachs Blindflug, schicken Sie das KHVVG zur Nachbesserung in den Vermittlungsausschuss“, heißt es in einem Appell mehrerer gesundheitspolitischer Verbände an die Landesregierungen.
„Das KHVVG in der derzeitigen Form darf nicht in Kraft treten!“, betonte Arndt Dohmen, Sprecher vom Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“, bei besagtem Pressetermin am Mittwoch.
„Was wir brauchen, ist eine Strukturreform, die für die Zukunft ermöglicht, was eigentlich selbstverständlich sein sollte: eine für alle Menschen gut erreichbare, durch Kooperation aller Akteure qualitativ hochwertige und nicht ökonomischem Zwang unterworfene stationäre Behandlung für alle Menschen, egal wo sie wohnen und wie sie versichert sind.“
Das klingt fast wie Weihnachten. Müsste Karlotta nicht gerade im Straßengraben gebären, würde sie das bestimmt unterschreiben …
Titelbild: Katharina Greve