Deutsche Politiker und Journalisten reden aktuell die Gefahr eines Atomkriegs klein, um den verlorenen Ukrainekrieg noch in die Länge zu ziehen. Russische Drohungen mit Atomwaffen sollen hier nicht verteidigt werden – aber die deutsche Diplomatie wäre verpflichtet, diese Gefahren ernst zu nehmen, um Schaden von den Bürgern abzuwenden. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Russlands Präsident Wladimir Putin hat am Dienstag die seit Monaten angekündigte Verschärfung der russischen Atomdoktrin in Kraft gesetzt, wie die Tagesschau berichtet. Das Dokument zähle Bedrohungsszenarien auf, in denen Russland zu Atomwaffen greifen könnte. Neu sei unter anderem, dass Moskau die Aggression eines nichtnuklearen Staates, der aber von Atommächten unterstützt wird, als gemeinsamen Angriff auf Russland wertet. Das richte sich gegen die Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich, so der Artikel, in dem sich weitere Details zur Sache finden.
In dieser brisanten Situation hat sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) laut Medienberichten „unbeeindruckt“ von Russlands geänderter Atomwaffendoktrin gezeigt. Putin spiele mit der Angst, dies sei seit Beginn des Ukraine-Kriegs immer wieder deutlich geworden, sagte die Grünen-Politikerin nach einem Treffen mehrerer europäischer Außenminister in Warschau. Dann sagte sie, wie so oft in stilistisch und inhaltlich unangemessener Weise:
„Wir lassen uns nicht einschüchtern, egal, was immer wieder Neues herumposaunt wird.“
Es geht aber in dieser Frage um Leben und Tod – und nicht um Haltungsnoten. Es geht also nicht darum, den Eindruck zu erwecken, dass einen solche Drohungen nicht beunruhigen würden – wen solche Drohungen nicht beunruhigen, der ist an verantwortlicher Stelle völlig fehl am Platze.
Statt eine unangemessene Unberührtheit von den beunruhigenden russischen Reaktionen zur Schau zu tragen, müsste jetzt (ganz im Gegenteil) vom ideologischen Ross heruntergestiegen und mit (möglicherweise unspektakulärer) Diplomatie der kleinen Schritte auf einen Waffenstillstand hingearbeitet werden.
Die Behauptung „Wenn Putin in der Ukraine nicht verliert, dann macht er einfach weiter“ – sie ist nichts weiter als eine nicht belegte Behauptung. Russland wäre sogar – entgegen vieler Darstellungen – noch immer bereit, etwa Energie an Deutschland zu liefern, wenn die deutsche Regierung daran Interesse zeigen würde, wie es etwa in diesem aktuellen Bericht der TASS heißt. Dass dieses Interesse von deutscher Seite nicht gezeigt wird, richtet sich direkt gegen die Interessen der Bürger hierzulande.
Atomwaffeneinsatz ist nicht zu rechtfertigen
In diesem Text soll keine moralische Verteidigung eines möglichen russischen Einsatzes von Atomwaffen vorgenommen werden. Ein solcher Einsatz ist meiner Meinung nach moralisch nicht zu rechtfertigen, egal wie dramatisch oder blumig die Rechtfertigungen vorher oder hinterher klingen mögen.
Darum soll hier nicht die moralische Dimension eines möglichen Einsatzes debattiert werden, sondern allein, wie die deutsche Politik einen Beitrag dazu leisten kann, dass er nicht stattfindet – auch wenn dafür Abstriche bei der eigenen Ideologie und bei manchen eigenen moralischen Vorstellungen gemacht werden müssen.
Auch ein Atomschlag „als Verteidigung“ ist meiner Meinung nach nicht zu rechtfertigen: Ich würde als Präsident mein Land eher von feindlichen Mächten besetzen lassen, als die Welt mit Atomraketen in Schutt und Asche zu legen. Ich glaube aber, dass wohl nur wenige Staatschefs dieser Welt so handeln würden. Darum muss man mit der theoretischen Möglichkeit eines (aus Sicht Russlands) „verteidigenden“ Atomschlags umgehen – moralische Feststellungen sind hier irrelevante Worthülsen.
Zum Prinzip der Atomdoktrin
Noch ein Wort zum Prinzip der Atomdoktrin: Das „Gleichgewicht des Schreckens“ und Drohungen mit atomaren Reaktionen sind einerseits eine schwer zu akzeptierende Realität. Andererseits haben Atomdoktrin aber durchaus einen Sinn – nämlich für potenzielle Gegner die Schwelle für „militärische Abenteuer“ sehr hoch zu legen. Diese hohe Schwelle hat möglicherweise schon zahlreiche Kriege verhindern können. Diese Schwelle kann auch eine politische Krücke für „Zauderer“ wie Kanzler Scholz sein, weil er sich in seiner „Mäßigung“ auf unkontrollierbare Gefahren berufen kann. Dem „Gleichgewicht des Schreckens“ nun den Schrecken auszureden, wie es in diesem Artikel geschildert wird, ist darum verantwortungslos und kann Kriegstreiberei stützen.
Die Appelle, die russischen Sicherheitsbedenken und die daraus folgenden russischen Drohungen ernst zu nehmen, haben nichts mit einem „Einknicken“ vor Russland oder mit einer Anhängerschaft von militärischen Lösungen zu tun. Sie folgen stattdessen der Akzeptanz einer unleugbaren und grausamen Realität, die über Deutschland, Europa und die Welt hineinzubrechen droht und deren Abwendung das oberste Ziel der deutschen Diplomatie sein sollte.
Die Abwesenheit von einem gesunden Selbsterhaltungstrieb in der deutschen Politik und in der Folge die Weigerung etwa des grün geführten Außenministeriums, im Sinne der Bürger gefährliche Eskalationen zu vermeiden, die zudem das proklamierte Ziel verfehlen („Russland ruinieren“) – sie sind nur noch als irrational und gefährlich zu bezeichnen. Motiviert wird dieses Verhalten mutmaßlich vor allem durch den Willen, wirtschaftliche und militärische US-Interessen zu bedienen.
„Putin blufft“
Es gibt zahlreiche weitere verantwortungslose Stimmen aus Medien und Politik, die das Risiko eines Atomkriegs verniedlichen wollen oder Russlands aktuelle Äußerungen damit entkräften wollen, dass sie „nicht neu“ oder nicht ernst zu nehmen seien. Exemplarisch sollen hier Artikel im Spiegel betrachtet werden. In einem aktuellen Beitrag, den Thomas Röper hier besprochen hat, bemüht sich das Magazin um Entdramatisierung:
„Dass Russland mit Atomschlägen oder einem Weltkrieg droht, ist nicht neu. Putin hatte im Zuge seines Angriffskrieges gegen das Nachbarland immer wieder mit Nuklearwaffen gedroht und das Arsenal in erhöhte Bereitschaft versetzt. Vor dem Hintergrund der Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine diskutierte Russland seit Längerem eine Änderung seiner Atomdoktrin.“
Bereits Ende August hatte der Spiegel unter dem Titel „Wladimir Putin und seine Schauermärchen von den roten Linien“ Verniedlichung betrieben. Die Autorin Ann-Dorit Boy, die laut Spiegel auch „Public Information Officer bei UN OCHA in Kiew“ war, schreibt:
„Die Erkenntnis, dass Putins Drohungen leer sind, ist nicht neu. Der Kreml hat in seinem Krieg gegen die Ukraine schon viele angeblich rote Linien gezogen. Militärhilfe von Drittstaaten sollte tabu sein, später Angriffe auf die Brücke zur Halbinsel Krim, die Lieferung von weitreichenden Raketen und Marschflugkörpern und F-16-Kampfjets. Alle diese Linien sind überschritten worden. Passiert ist nichts.“
So geht das dann weiter: „Putin blufft“, man frage sich, wo Putins echte rote Linie eigentlich verlaufe, es sei höchste Zeit, dass der Westen aufhöre, „den Ukrainern aus Angst die Hände hinter dem Rücken zusammenzubinden“, statt Putins vermeintliche rote Linien zu respektieren, müsse man ihn „in die Schranken weisen“.
Diese Propaganda kann gar nicht verlieren
So klingt gesellschaftliche Verantwortungslosigkeit. Mit solchen Positionen kann man auch kaum verlieren: Wenn Russland weiterhin auf den Einsatz von Atomwaffen verzichtet, haben diese Stimmen „recht gehabt“. Und wenn russische Atombomben in Deutschland einschlagen sollten, wird keiner mehr fragen, wer es (vorsätzlich) versäumt hat, diese katastrophale Zuspitzung zu verhindern.
Titelbild: Alexandros Michailidis / Shutterstock
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