“Kein Wachstum ohne Sozialstaat”

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

„In Skandinavien gelingt scheinbar die Quadratur des Kreises: Wachstum und soziale Sicherheit, hohe Steuern und konkurrenzfähige Ökonomie. Das glückt, weil viel in Bildung investiert wird”, so beginnt ein Interview der taz mit Joakim Palme, Sozialwissenschaftler und Sohn von Olof Palme (vom 4.5.2006 Interview ROBERT MISIK).
Wir werden darauf aufmerksam gemacht, weil die Antworten von Palme über weite Strecken dem entsprechen, was Sie bei uns in den NachDenkSeiten und auch in unseren anderen Publikationen finden. Genauso interessant wie die Antworten von Palme, ist die Tatsache, wie weit selbst Journalisten der taz, die man zu den eher Kritischen zählen könnte, vom herrschenden Geist geprägt sind.

Schon der oben zitierte Vorspann spricht Bände. Wieso soll es die Quadratur des Kreises sein, Wachstum und soziale Sicherheit unter einen Hut zu bringen? Wieso sollen sich hohe Steuern und konkurrenzfähige Ökonomie ausschließen? Wenn der Staat für eine gute Infrastruktur sorgt und in Bildung investiert – aber nicht nur -, warum soll dann eine Volkswirtschaft nicht wettbewerbsfähig sein?

Ich ziehe noch ein paar Fragen aus dem Interview und die entsprechenden Antworten heraus und kommentiere kurz:

(…)

Also macht die Kombination von Erfolg und sozialem Zusammenhalt Skandinavien zum Vorbild?
Ja, dass jetzt alle so von Skandinavien schwärmen ist auch eine Reaktion auf die grassierenden Zweifel, ob sich die europäische Sozialtradition überhaupt mit einer globalisierten Konkurrenzökonomie verträgt. Die skandinavischen Länder zeigen: Sie vertragen sich. Die skandinavischen Länder haben übrigens eine lange Tradition einer global orientierten, offenen Wirtschaft mit Unternehmen, die am Weltmarkt stark sind – von Volvo bis Ikea. Aber die skandinavischen Länder haben Wachstum mit einer erfolgreichen Sozialpolitik kombiniert, die nicht nur Armut und Ungleichheiten reduziert hat, sondern auch andere Probleme angegangen hat – etwa die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, aber auch die Herausforderung alternder Gesellschaften.

Kommentar: Auch bei uns war über Jahrzehnte hinweg der soziale Zusammenhalt, der soziale Friede, wie wir das früher nannten, ein wichtiger Faktor der volkswirtschaftlichen Produktivität. Insofern und in vielem anderen unterscheiden wir uns überhaupt nicht von dem, was heute als skandinavisches Modell hochgespielt wird, zumal sich zum Beispiel Dänemark und Schweden deutlich unterscheiden.
Dass Deutschland eine höhere Arbeitslosigkeit und niedrigeres Wachstum als Schweden hat, hat weniger mit dem Modell als damit zu tun, dass wir eine miserable Makropolitik machen. Die Schweden haben in den neunziger Jahren ihren Sozialstaat mit expansiver Beschäftigungspolitik kombiniert und sind auf diese Weise aus dem Loch heraus gekommen, in dem sie waren und wir uns noch befinden. Das unterschiedliche Ergebnis auf Unterschiede im Sozialstaat zurückzuführen, ist die gängige Masche, auf die offenbar auch kritische Journalisten hereinfallen.
Jedenfalls ist es ziemlich seltsam, zu unterstellen, die Schweden seien erfolgreicher, weil sie mehr in Bildung oder mehr in Eltern Geld investiert hätten. Wenn das der Fall wäre, dann dürften wir nicht so wettbewerbsfähig sein.

(…)

Wohlfahrtsprogramme und Weltwirtschaftskonkurrenz können sich also gut vertragen – müssen das aber nicht?
Genau. Manche sind gut für Wachstum, manche sind schlecht für Wachstum.

In soziale Dienste zu investieren, in Schulen, Kindergärten, Umschulungen, ist produktiv – sich auf Überweisungen an Arbeitslose zu beschränken ist eher unproduktiv?
Exakt. Die Länder in Nachkriegseuropa, die viel in Bildung investiert haben, hatten auch hohe Geburtenraten und hohes Wachstum. Und die Länder, die höhere Steuern hatten, hatten auch höheres Wachstum. Dabei ist nicht der Umfang des Steueraufkommens für das Wachstum entscheidend, sondern die Frage, wofür diese Steuern ausgegeben werden. Die Bildungsausgaben sind das Entscheidende – für die soziale Gleichheit, aber auch für das Wirtschaftswachstum. Außerdem sind die sozialen Dienste, wie wir sie in Skandinavien haben, nicht nur eine Investition in das Humankapital. Es sind auch Jobangebote – in einem Sektor, in dem traditionell Frauen arbeiten. Deshalb haben wir eine hohe Frauenerwerbsquote in Skandinavien.

Kommentar: Schon in der Frage taucht die typische Schwarz-Weiß-Malerei auf. Weder wird bei uns nur Geld an Arbeitslose überwiesen, noch findet das in Schweden nicht statt. Wenn die Schweden so viel Arbeitslose hätten, müssten sie dafür auch mehr zahlen. Richtig ist, dass Investitionen in Schulen, Kindergärten und Umschulungen produktiv sind.. Aber um das zu wissen, braucht man kleine Unterschiede nicht zum Modellunterschied hoch zu stilisieren.

Mit den Sozialausgaben wird also Arbeit geschaffen?
Und mit der höheren Erwerbsquote schafft man natürlich auch eine größere Anzahl an Steuerzahlern, was die Finanzierung des Wohlfahrtsstaats wiederum auf eine breitere Basis stellt. Dabei geben die Skandinavier gar nicht so viel Geld für den Wohlfahrtsstaat aus. Am meisten geben in Europa die Franzosen aus, gefolgt von Deutschland – und erst dann kommt Schweden.

Aber offenbar ist die Wohlfahrtsfinanzierung in Deutschland weniger effizient.
Ja, nehmen wir nur die Zuwendungen für allein stehende Mütter. Wir geben ihnen keineswegs generös viel Geld, im Gegenteil. Aber wir haben soziale Dienstleistungen, die es ihnen ermöglichen, sowohl zu arbeiten als auch Kinder zu haben.

Die deutsche Regierung will das einkommensabhängige Elterngeld einführen. Geht das in die richtige Richtung?
Ich kenne mich in den Details nicht aus. Es ist ein erster Schritt, um etwas mehr Balance zwischen den Geschlechtern herzustellen. Um die steht es in Deutschland ja ziemlich schlecht. Die Basisabsicherung für jene, die keinen Job haben oder studieren, ist aber genauso wichtig. Das ist Gebot der Gerechtigkeit.

Kommentar: Man muss Palme dankbar sein, dass er auf so undifferenzierte Fragen, differenziert und zurückhaltend antwortet. In Deutschland gibt es offenbar Leute, die vom Elterngeld irgendwelche Wirtschaftswunder erwarten.

Welche Auswirkungen hat all das auf die Gleichheitskultur? Der deutsche Sozialstaat hat ja nicht viel an der Sozialvererbung geändert – wer aus der Elite stammt, wird Elite, wer als Unterprivilegierter geboren wird, bleibt Unterprivilegierter. Ist das in Skandinavien anders?
Natürlich ist die Sozialvererbung auch in Skandinavien noch stark, aber sie nimmt ab. Das ist eine entscheidende Frage für die Sozialstaatsdiskussion in Europa. Die “Chancengleichheit” wird heute so groß geschrieben – aber man weiß, dass wir die “Gleichheit der Chancen” nicht erreichen werden, wenn wir Angst davor haben, die “Gleichheit der Bedingungen” herzustellen.

Das heißt: Ohne Umverteilung geht das nicht?
Ja.

Kommentar: Sehr gut, wie Palme den Zahn zieht, die Gleichheit der Chancen sei etwas ganz Neues und ohne den Versuch, auch „Gleichheit der Bedingungen“ zu schaffen, wie er das nennt, zu haben.

In Kontinentaleuropa werden die Sozialsysteme vorwiegend über Lohnnebenkosten finanziert, in Skandinavien über Steuern. Wie bedeutend sind diese Unterschiede?
Nicht sehr bedeutend.

Kommentar: Bravo, endlich sagt das einer von außerhalb. Denn auch hier ist in der Frage erkennbar, wie selbstverständlich Meinungsführer bei uns das Ammenmärchen glauben, die Senkung der Lohnnebenkosten löse irgend ein Problem.

Tatsächlich? Viele Experten meinen, wegen der Steuerfinanzierung sei der Sozialstaat nicht so sehr von der Lage am Arbeitsmarkt abhängig und außerdem verteuere er die Arbeit nicht. Stimmt das?
Nein, das ist nicht so wichtig. Die Globalisierung macht es sehr schwierig, Kapital zu besteuern. Kapital ist mobil. Das heißt: Auch die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten sind ganz überwiegend über Steuern finanziert, die auf Lohneinkommen erhoben werden. Ob man das Einkommenssteuer nennt oder ob man Sozialabgaben von Lohn abzieht, ist nicht zentral. Denn immer wird der Sozialstaat über die Abgaben auf Löhne finanziert, die Differenz ist vielleicht semantisch, aber sie ist ökonomisch nicht relevant.

Kommentar: Noch ein Bravo. Und noch Respekt und danke für die taz, da sie dieses Interview überhaupt geführt und gedruckt hat.

Quelle: taz

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