Die Reform der herrschenden Ökonomielehre im universitären Bereich und in der Politik kann man als kritisch hinterfragender Bürger aktuell nur als „zartes Pflänzchen“ bezeichnen. Und wenn selbst höchste Gremien der Politikberatung, z.B. die Mitglieder der „Wirtschaftsweisen“ (Sachverständigenrat für Wirtschaft der Bundesregierung), immer noch überwiegend als Bewahrer der neoliberalen Dogmen agieren, dann kann man schon den Mut hinsichtlich einer gelingenden Zukunft der Gesellschaft verlieren. Zwar bieten Internet-Magazine wie beispielsweise Makroskop und die Webseite Relevante Ökonomik von Heiner Flassbeck aufklärende Artikel zu den Realitäten der Ökonomie. Aber die Reichweite dieser Publikationen ist noch nicht umfassend genug, und zwar trotz Hinweisen auf deren Beiträge in den NachDenkSeiten, also einer der meistgelesenen gesellschaftspolitischen Qualitätswebseiten im Netz. Umso wertvoller ist das neue Buch des renommierten Universitätsprofessors in Makro-Ökonomie und Wirtschaftspolitik Tom Krebs. Von Grünter Grzega.
Es braucht sicherlich persönlichen Mut, um als universitärer Wirtschaftswissenschaftler in der aktuellen Ökonomie-Szene das Werk „Fehldiagnose – Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“ zu veröffentlichen. Schon die Einleitung „Ende der Märchenstunde“ macht neugierig, denn der Autor lässt sofort erkennen, dass er ohne Tabus die Grundfesten der herrschenden Wirtschaftsideologie erschüttert, und zwar in einer Sprache, die auch Nicht-Wirtschaftswissenschaftler verstehen und die Lust auf mehr weckt. Und man wird nicht enttäuscht.
Im Teil I beschreibt der Autor in bestechender Weise die Fehldiagnosen der etablierten Ökonomen und ihrer Anhängerschar zur Energiekrise im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg. Dabei scheut er sich nicht, die geradezu naive Marktgläubigkeit der Neoklassiklehre sowie die, wie er es bezeichnet, „irrsinnige Liebe zur Schocktherapie“ dieser Ökonomen schonungslos mit den Realitäten einer Volkswirtschaft zu konfrontieren. Aber nicht nur Kritik enthält dieser Teil I, sondern auch Anerkennung für die von den etablierten Ökonomen mehrheitlich abgelehnten staatlichen Eingriffe zur Beherrschung der Energiekrise. Diese entschlossenen Eingriffe der Bundesregierung in die Wirtschaft beschreibt der Autor als gelungene Stabilisierung, wobei er auch die von den Marktfundamentalisten abgelehnten Entlastungspakete für die Bürger als sinnvolle und notwendige Politik aufzeigt.
Dass trotz dieser erfolgreichen Wirtschaftspolitik in der Ökonomen-Zunft kaum Interesse an einer empirischen Überprüfung der neoklassischen Modelle besteht, zeigt nach Meinung des Autors leider, dass interne Korrekturmechanismen in den Wirtschaftswissenschaften immer noch versagen. Ein „Lernen aus Fehlern“ findet nach seiner Diagnose kaum statt. Leider führt diese Erkenntnisverweigerung der Mehrheit der Ökonomen jedoch auch dazu, dass die politisch Verantwortlichen nach den richtigen Entscheidungen zu Beginn der Krise wieder sogenannten marktliberalen Empfehlungen folgten. Zu dieser Entwicklung beschreibt Tom Krebs die dahinter stehende Ideologie und die Sehnsucht vieler Ökonomen, ihre Modelle als „naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse“ zu etablieren.
Im Teil II beschäftigt sich das Buch mit den Fehlentscheidungen der Bundesregierung nach den ersten erfolgreichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung. Hier wird der interessierte Leser mit verständlichen Tabellen über die die Volkswirtschaft Deutschlands beschädigenden politischen Entscheidungen aufgeklärt. Darüber hinaus kann man sich auch am Beispiel der USA über international erfolgreiche Klima- und Wirtschaftspolitik informieren – im Gegensatz zu Deutschlands „Märchenwelt der Ökonomen“. Aber auch über die als grundsätzliche Fehlentscheidungen zu bewertende Zinspolitik der EZB wird in Teil II fundiert aufgeklärt. Dass der Autor auch die Themen Arbeits-„Markt“, Klimapolitik, Mindestlohn, Kindergrundsicherung sowie vor allem auch das Verfassungsgerichtsurteil zur „Schuldenbremse“ kritisch beleuchtet, macht das Buch besonders lesenswert.
Im Teil III „Der Weg aus der Dauerkrise“ wird faktenbasiert aufgezeigt, wie die aktuelle Politik der Ampelregierung Deutschland bereits Wohlstand kostet und ohne eine Initiative für öffentliche Investitionen weiterhin kosten wird. Werden makroökonomisch unverzichtbare staatliche Investitionen in die inzwischen marode Infrastruktur, Bildung, Energie, Umwelt- und Klimaschutz etc. weiter vernachlässigt, steuert Deutschland in eine langfristige Rezession. In diesem Teil III werden die Möglichkeiten einer modernen Wirtschaftspolitik präzise beschrieben. Voraussetzung ist dabei jedoch, dass die aktuelle neoliberale Wirtschaftsideologie durch den vom Autor immer wieder aufgezeigten Wandel einer naiven Marktgläubigkeit durch eine faktenbasierten Ökonomie aller Beteiligten, vor allem des Staates, abgelöst wird.
Eine gelingende Marktwirtschaft wird es offensichtlich jedoch nur dann geben, wenn auch die soziale Gerechtigkeit, z.B. faire Löhne, also eine Gemeinwohl-Ökonomie, das Handeln in Politik und Gesellschaft bestimmt. Besonders wertvoll für die Leser sind die Ausführungen zur Finanzierung staatlicher Investitionen. Die „schwäbische Hausfrau als Unternehmerin“ wird entzaubert und die Möglichkeiten einer Kreditfinanzierung zusätzlicher staatlicher Investitionsausgaben trotz Schuldenbremse aufgezeigt. Selbst dem aktuellen Tabu-Thema der Politik, nämlich dem Thema Steuern, z.B. Vermögenssteuer auf Großvermögen, widmet der Autor Aufmerksamkeit.
Ein Wunsch bleibt jedoch zum Thema Finanzierung offen, nämlich die Erwartung, dass in diesem umfassend die Realitäten der Ökonomielehre aufzeigenden Buch auch das Thema Geldsystem behandelt wird. Vor allem die Realität der absoluten Übereinstimmung von Geld-Schulden und Geld-Vermögen ist für das Verständnis der grundsätzlichen Unsinnigkeit einer staatlichen Schuldenbremse und der Fehlkonstruktion der Euro-Fiskalregeln unverzichtbar. Solange der Mehrheit in Politik, Ökonomie und Gesellschaft nicht bewusst ist, dass die Forderung eines realen Abbaus von Staatsschulden gleichzeitig eine Forderung zum Abbau des Geldvermögens der Wirtschaftssektoren Unternehmen und private Haushalte in exakt gleicher Höhe bedeutet, bleibt die staatliche Investitionspolitik ein schwieriges Thema. Dies alles aufzuzeigen, wäre eine Bereicherung des Werks, denn ohne ein Verständnis der Funktionsweise unserer modernen Geldsysteme gibt es auch kein vollständiges Verstehen ökonomischer Prozesse. Aber vielleicht gibt es ja eine Fortsetzung dieses geradezu fesselnden Ökonomie-Buchs.
Fazit: Für alle an Wirtschaft und Politik Interessierte ist dieses an den realen Gegebenheiten orientierte und im Hinblick auf die herrschende Lehre sehr mutig zu nennende Buch ein Geschenk. Man wünscht diesem Werk, dass es ein Bestseller wird, denn dann gibt es auch eine Verbreiterung ökonomischen Wissens, das die Grundvoraussetzung für eine gelingende Zukunft der Gesellschaft ist.
Anmerkung des Autors: Aus Gründen der flüssigen Lesbarkeit wurde im gesamten Text grundsätzlich die maskuline Form angewandt. Alle Geschlechter sind jedoch gleichermaßen angesprochen.