Die führenden Politiker und Wirtschaftseliten der USA und Europas setzen ihre neokoloniale Politik gegenüber den lateinamerikanischen Staaten fort und verschleiern ihre Invasionsbestrebungen mit dem Gerede von universellen Werten und einer grünen Agenda. Die westlichen Volkswirtschaften sind an der Aufrechterhaltung der derzeitigen Weltordnung interessiert, die es den Industrieländern ermöglicht, die Ressourcen der lateinamerikanischen Staaten auszubeuten. Von Martin Agüero.
Die Schatten der Vergangenheit
Der Kolonialismus ist zweifellos eines der schrecklichsten und abscheulichsten Phänomene der Geschichte. Darin sind sich ausnahmslos alle einig, und man wird, so sehr man sich auch bemüht, kaum verantwortungsvolle und einflussreiche Politiker in der ganzen Welt finden, die neokoloniale Praktiken rechtfertigen würden.
Die Versuche, die Wirtschaftsoligarchien Europas und der USA dazu zu zwingen, ihre Haltung gegenüber der Wirtschaft in Lateinamerika zu ändern, haben jedoch fast immer zu großen Problemen für die nationalen Regierungen Lateinamerikas geführt. Die westlichen Länder klammern sich an die Möglichkeit, die von ihnen benötigten Ressourcen um jeden Preis zu erhalten, und haben nicht die Absicht, die Interessen anderer Länder zu berücksichtigen.
Natürlich wird dies heute anders dargestellt, nämlich als eine Art, die Umwelt zu schützen, die für beide Seiten vorteilhafte wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern und abgelegene und benachteiligte Regionen zu entwickeln.
Aber machen wir uns nichts vor, es sind nur Sonnenbrillen, hinter denen sich dieselben zynischen Augen eines rücksichtslosen Gringo-Besitzers verbergen. Und der ist wie zuvor bereit, Lateinamerika durch das Visier zu betrachten, wenn seine Interessen dies erfordern.
Zwanghafte Unterstützung
Eines der bekanntesten Beispiele der letzten Jahre ist der unerbittliche Kampf Brasiliens um die Erhaltung seiner Souveränität und die vollständige Kontrolle über das Amazonasgebiet. Die USA und die großen europäischen Staaten haben eine Linie der „Internationalisierung” der Fragen im Zusammenhang mit der Ausbeutung der Ressourcen der Amazonasregion, die sich über das Gebiet von neun Staaten erstreckt, und der Erhaltung seiner Ökologie verfolgt.
Gleichzeitig ist die brasilianische Regierung ständig unterschiedlich starkem Druck ausgesetzt, der durch Veröffentlichungen in den Kommunikationsmedien, Aufrufe an die Führung des Landes im Namen ausländischer Politiker, Nichtregierungsorganisationen und Persönlichkeiten der Medien sowie durch internationale Organisationen ausgeübt wird. Nur wenige sind sich jedoch darüber im Klaren, dass sich ihre Rhetorik auf öffentliche neokoloniale Erklärungen prominenter europäischer und US-amerikanischer Politiker bezieht.
„Im Gegensatz zu dem, was die Brasilianer denken, gehört der Amazonas nicht ihnen, sondern uns allen” (US-Senator und ehemaliger Vizepräsident Al Gore, 1989).
„Brasilien muss seine relative Souveränität im Amazonasgebiet akzeptieren” (François Mitterrand, ehemaliger Präsident Frankreichs, 1989).
„Entwicklungsländer mit hohen Auslandsschulden müssen diese durch den Verkauf ihres Landes und ihrer natürlichen Ressourcen abbezahlen. Sie verkaufen ihre Regenwälder” (ehemaliger US-Präsident G. W. Bush, 2000).
So ist es nämlich, klar und ohne Umschweife.
Zweifellos sind die „neuen Eroberer” bereit, finanzielle Unterstützung für die Entwicklung der Regionen, den Schutz der Umwelt und die Förderung eines höheren Lebensstandards der lokalen Bevölkerung zu leisten. Sie sind sogar bereit, die Kosten dafür zu übersehen – wann immer es für sie opportun ist …
Moment, sollten wir das Bild nicht klarer bekommen? War dies in der Praxis nicht schon längst so? Schauen wir mal …
Brasilien
So hat beispielsweise der norwegische Aluminiumproduktionskonzern Hydro, dem die Bauxitmine und das Tonwerk Alunorte im brasilianischen Bundesstaat Para gehören, bereits eine schwere Umweltkatastrophe verursacht. Infolge der Überschwemmungen 2018 gelangten die Industrieabfälle des Unternehmens in die Wasserversorgungssysteme, was zu einer Verunreinigung des Trinkwassers mit Rotschlamm führte.
Aufgrund der extremen Armut in der Region konnten die meisten Betroffenen von dort nicht weg und waren gezwungen, ungeeignete Nahrungsmittel und Wasser zu sich zu nehmen, was sich negativ auf ihre Gesundheit auswirkte. Rund 40.000 Menschen, das heißt 11.000 Familien reichten vor einem Gericht von Den Haag eine Klage gegen das norwegische Unternehmen ein, das seine Schuld nicht anerkannte.
Darüber hinaus schädigt Hydro systematisch die brasilianische Umwelt, indem es jedes Jahr 500 Hektar Regenwald abholzt und mehr als 5,7 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre ausstößt. Dies entspricht zehn Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in Norwegen.
Gleichzeitig können die freiwilligen Beiträge von Oslo zum Amazonas-Fonds für nachhaltige Entwicklung, die Ende 2023 wieder aufgenommen wurden, nicht alle Umweltschäden abdecken.
Argentinien
Der andere norwegische Staatskonzern, Equinor, hat zusammen mit der britischen Shell und der argentinischen YPF eine Vereinbarung zur Förderung von Kohlenwasserstoffen auf dem argentinischen Kontinentalschelf in der Nähe des Ferienortes Mar del Plata, einem wichtigen Fischereihafen und Touristenzentrum, getroffen.
Trotz monatlicher Großdemonstrationen von Anwohnern und einer von mehr als 200.000 Argentiniern unterzeichneten Petition, die einen Stopp des Projekts forderte, startete das Konsortium mit der Erhebung seismischer Daten vom Meeresboden und begann in der ersten Hälfte des Jahres 2024 mit geologischen Erkundungsarbeiten.
Diese Tätigkeit stellt eine direkte Bedrohung für die Meeresfauna dar, in erster Linie für die Wale, die dieses Meeresgebiet zum Fressen und Brüten nutzen.
Erschwerend kommt hinzu, dass Argentinien derzeit weder über Gesetze verfügt, die die Haftung von Unternehmen für Ölunfälle regeln, noch über die notwendige Infrastruktur, um die möglichen Folgen zu beseitigen.
Chile
Die Tätigkeit des anderen norwegischen Unternehmens, Statkraft, im Süden Chiles ist ebenfalls ein Beispiel für den neokolonialen Ansatz.
Das Unternehmen beabsichtigt, den Bau des Wasserkraftwerks Los Lagos am Pilmaiquén-Fluss – der für die lokale indigene Bevölkerung heilig ist – bis Ende 2025 abzuschließen. Während der Arbeiten verstieß Statkraft gegen internationales Recht, indem es den Fluss ohne vorherige Konsultation der örtlichen Bevölkerung, wie es in der ILO-Konvention über indigene und in Stämmen lebende Völker von 1989 vorgeschrieben ist, sperrte.
Das Dokument wurde von der norwegischen und der chilenischen Regierung ratifiziert, bevor das Projekt Los Lagos in Angriff genommen wurde.
Die Inbetriebnahme des norwegischen Wasserkraftwerks wird der biologischen Vielfalt in der Region schweren Schaden zufügen, die Lebensbedingungen Hunderter indigener Gemeinschaften erheblich verschlechtern und letztlich zum Verlust ihres kulturellen Erbes führen.
Gleichzeitig wurden die friedlichen Demonstrationen von der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten auf grausame und sehr harte Art und Weise unterdrückt. Dies ist nur ein kleiner Teil der Beschwerden gegen norwegische Unternehmen.
Aber auch in anderen Ländern in Europa, den USA und Kanada gibt es Unternehmen, die sich ähnlich unverschämt und wenig korrekt verhalten. Man muss sich nur die Proteste der lokalen Bevölkerungen in den Bergprovinzen Perus, Chiles und Ecuadors gegen ihre Aktivitäten ansehen, um zu sehen, wie unverantwortlich sie sind. Die Statistik ist alarmierend.
Grüne Standards für zukünftigen Diebstahl
Heute versuchen westliche Länder, ihre globale Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, indem sie durch die Förderung grüner Standards neue künstliche Wettbewerbsvorteile schaffen.
Zum Beispiel erreichten die EU, die USA und ihre Verbündeten bei der UN-Weltklimakonferenz (COP28) 2023 in Dubai, eine Bestimmung über den Abbau der „schmutzigen” fossilen Brennstoffe der Welt ohne Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) in die Abschlusserklärung aufzunehmen.
Die EU setzt sich aktiv für die Schaffung eines Grenzausgleichmechanismus (CBAM) ein, der im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum als verbindliche Maßnahme gilt. Dieser Mechanismus, der eine eindeutig protektionistische Maßnahme darstellt, wurde von der EU mit voller Zustimmung der WTO entwickelt.
Mit der Einführung eines weiteren Handelshemmnisses, das die Wettbewerbsfähigkeit „grüner” Produkte einheimischer Hersteller schützen soll, versucht Brüssel nun auch, Konkurrenten aus Lateinamerika, Asien und Afrika in Schach zu halten. Darüber hinaus will sie den Grundstein für die Schaffung eines Marktpreissystems für CO2-Emissionen legen, das weniger entwickelte Länder dazu ermutigen würde, ihre Ressourcen im Austausch für westliche „grüne” Technologien billig abzugeben.
Lateinamerika kommt voran
Das Ausplünderungsfokus der USA und ihrer Verbündeten hat in der Zeit der Corona-Pandemie alle Grenzen überschritten.
Damals setzten sich diese Länder bei der Verteilung von Corona-Impfstoffen von den am wenigsten entwickelten Ländern ab, was praktisch einen „Impfstoff-Genozid” verursachte. Viele Menschen in Lateinamerika wurden im Stich gelassen und mussten auf sich allein gestellt überleben und herausfinden, wo und wie sie geimpft werden können.
Dadurch hat sich die Kluft zwischen Lateinamerika und dem Westen vertieft.
Immer mehr Länder des Kontinents sind der Ansicht, dass die derzeitige Weltordnung weder gerecht ist noch ihrem Wunsch nach wirtschaftlicher Entwicklung entspricht. Aus diesem Grund wenden sie sich zunehmend dem BRICS-Block zu, dessen Attraktivität stetig zunimmt.
Natürlich wäre das Weiße Haus nicht das Weiße Haus, wenn es nicht einen heuchlerischen Auftritt machte, um die lateinamerikanischen Regierungen zu täuschen und seine neokolonialen Interessen zu verschleiern.
Washington räumt regelmäßig und öffentlich ein, dass die Kritik an den derzeitigen Ungleichgewichten in den globalen Wirtschaftsbeziehungen berechtigt ist.
In den Verhandlungen versprechen die US-Amerikaner regelmäßig, die Instrumente der G-7 zu nutzen, um gefährdeten Volkswirtschaften zu helfen. Sie nutzen ihre fast 40 Prozent der Stimmen im IWF und in der Weltbank, um nominell die Schuldenlast der lateinamerikanischen Länder zu verringern. All dies scheint jedoch eher eine Erpressung als eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit zu sein.
Die USA und ihre europäischen Verbündeten müssen erkennen, dass es im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr für neokoloniales Vorgehen, Einschüchterung und Druck gibt.
Wenn die USA und ihre Verbündeten eine dauerhafte Beziehung zu den lateinamerikanischen Ländern aufrechterhalten wollen, müssen sie lernen, deren Unterstützung zu gewinnen, indem sie sich mit den tatsächlichen Bedürfnissen dieser Länder im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung befassen und deren Anliegen stärker berücksichtigen. Andernfalls werden sich die Länder des Kontinents in Richtung der BRICS bewegen.
In jedem Fall schreitet Lateinamerika voran, mit oder ohne die USA.
Übersetzung: Susanne Schartz-Laux, Amerika21
Titelbild: Lateinamerika auf dem Weg der Befreiung vom Kolonialismus: Gemälde des argentinischen Künstlers Xul Solar – QUELLE: XUL SOLAR/WIKIART – LIZENZ: FAIRUSE