Michael Lüders schildert in seinem neuen Buch den zionistischen Staat und seine Geschichte ohne Tabus und stellt der deutschen Israel-Politik ein verheerendes Zeugnis aus. Es gibt nicht viele deutsche Autoren, die den Mut haben, die Geschichte Israels von einer vorurteilslos-kritischen Seite aus darzustellen – also aus einer Sicht, die nicht die deutsche Schuld in den Vordergrund stellt. Das neue Buch des Nahost-Experten Michael Lüders erfüllt genau diese Kriterien. Mit tabulosem und analytischem Blick geht Lüders sein Thema an – getreu seiner Absicht, ein realistisches Israel-Bild der israelischen Geschichte und Politik zu zeichnen, das nicht der Wunsch-Projektion eines idealen Judenstaates verpflichtet ist, wie sie die deutsche politische Klasse sieht: die Zufluchtsstätte der Holocaustüberlebenden und die „einzige Demokratie im Nahen Osten“. Ein Staat, wie Bundeskanzler Scholz sich ausdrückte, der sich streng ans Völkerrecht und die Menschenrechte hält. Von Arn Strohmeyer.
Die Ergebnisse, zu denen Lüders kommt, lassen auch das deutsch-israelische Verhältnis in einem ganz anderen Licht erscheinen. Denn wenn die historische Wahrheit so furchtbar ist (Israel ist ein Staat, der mit dem „Geburtsfehler“ der Gewalt der Nakba seinen Anfang genommen hat, die bis heute andauert), dann muss auch das Verhältnis zu diesem Staat, das vornehmlich vom Sühnegedanken geprägt ist, moralisch sehr anfechtbar sein.
Lüders zeigt zunächst die Geschichte des Konflikts um Palästina auf und widerlegt dabei viele zionistische Mythen, die sich auch tief ins deutsche Bewusstsein eingegraben habe: Israel, der ewig in seiner Existenz bedrohte Staat, der permanent um sein Überleben kämpfen muss. Nein, dieser Staat ist – wie schon erwähnt – mit der Ursünde behaftet, für sein Entstehen 1948/49 die Hälfte des dort seit Jahrhunderten lebenden Volkes – 750.000 Palästinenser – vertrieben zu haben. Und in dem Krieg gegen die Araber in derselben Zeit (euphemistisch „Unabhängigkeitskrieg“ genannt) verleibten sich die Zionisten 78 Prozent von Palästina ein, vor diesem Krieg hatten sie nur sechs Prozent besessen.
Lüders widerlegt auch den Mythos, dass der junge zionistische Staat, wie er selbst behauptet, den Arabern immer die Hand zum Frieden ausgestreckt habe. Ganz im Gegenteil, die Zionisten wählten im Triumphgefühl ihrer militärischen Stärke nicht den Ausgleich mit den Arabern, sondern die Konfrontation. Es waren die Araber, die Israel Friedensangebote unterbreiteten, die Israel aber mit Nichtachtung strafte. Der Suez-Krieg 1956 sowie auch der Juni-Krieg 1967 wurden Israel von den Arabern nicht aufgezwungen, sondern beide hat es aus eigenem Willen und freiem Entschluss geführt.
Im Juni-Krieg eroberte Israel das Westjordanland, Ost-Jerusalem, die Golanhöhen und den Gazastreifen und vertrieb noch einmal 350.000 Palästinenser. Der israelische Historiker Ilan Pappe konnte belegen, dass die israelische Regierung schon kurz nach diesem Krieg einstimmig beschloss, das Westjordanland und den Gazastreifen von künftigen Friedensverhandlungen auszuschließen. In den neu eroberten Gebieten wurde ein brutales Besatzungsregime installiert und der Siedlungsbau nach strategischen Kriterien forciert, der heute so weit gediehen ist, dass die Schaffung eines Palästinenser-Staates und damit eine gerechte Friedenslösung unmöglich sind.
Es war immer das zionistische Ziel gewesen, auch wenn man es aus propagandistischen Gründen nicht zugeben wollte, das gesamte Land zwischen Jordan und Mittelmeer in Besitz zu nehmen – eben mit Berufung auf das Alte Testament, Erez Israel (Groß-Israel) zu schaffen. Die Palästinenser zählen vor diesem Hintergrund gar nicht, sie sind eine überschüssige Bevölkerung, die es in Mauern und Zäunen einzuhegen und dort zu unterdrücken oder am besten zu vertreiben gilt. Lüders schreibt: „Das Ziel der allgemeinen Repression und Entrechtung ist offenkundig: Das Leben der Palästinenser unerträglich zu gestalten, damit so viele wie möglich den Weg ins Exil antreten.“
Die weitere Entwicklung in Palästina/Israel ergibt sich nach diesen Voraussetzungen von selbst – eine permanente Spirale der Gewalt, die sich aus dem zionistischen Staatsterrorismus und dem palästinensischen Widerstand dagegen automatisch ergibt – bis zum gegenwärtigen Gaza-Krieg, den Israel, indem es das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zum Vorwand für seine Rache nahm, inzwischen zu einem Genozid ausgeweitet hat.
Lüders schildert ausführlich, mit welcher barbarischen Brutalität die Israelis im Gazastreifen vorgehen. Er ordnet diese Gewaltorgie folgendermaßen ein: „Die israelische Antwort [auf das Hamas-Massaker] ist über die Maßen zerstörerisch ausgefallen und zwar von Anfang an, sodass der dahinterliegende vorsätzliche Vernichtungswille kaum zu übersehen ist. Dabei geht es nicht um einen Krieg gegen die Hamas, sondern um einen Krieg gegen die Palästinenser als Volk. Ganz offensichtlich hat die Regierung Netanjahu das weit verbreitete Bedürfnis nach Rache und Vergeltung genutzt, um ihrer Vision eines ethnisch möglichst homogenen Großisrael näherzukommen: indem die Lebensgrundlagen im Gazastreifen so umfassend zerstört werden, dass der angestrebte Exodus möglichst vieler Palästinenser zunächst in den Sinai fast schon wie ein Akt der Menschlichkeit daherkommt.“
Natürlich geben die Zionisten ihre Absichten noch nicht offen zu. Denn es gilt das propagandistische Glaubensbekenntnis, dass erstens die zionistische Seite immer das Opfer ist, das angegriffen wird; und zweitens: es gibt keinen historischen Kontext noch irgendeine Rechtfertigung für Gewaltausbrüche gegen „Juden“. Grund von Gewalt gegen sie ist immer der Hass gegen sie. Mit anderen Worten: Für den gegenwärtigen Krieg im Gazastreifen ist nach dieser Sicht ausschließlich die Hamas verantwortlich.
Lüders malt ein düsteres Zukunftsszenario für Gaza: „Alle Rahmendaten weisen unmissverständlich nur in eine Richtung: die Nakba 2.0. Es ist unmöglich, dass 2,3 Millionen Menschen in der Trümmerwüste Gazastreifen auf dermaßen kleinem Raum existieren können – ohne jede Zukunft, ohne Hoffnung auf eine menschenwürdige Existenz, ohne medizinische Versorgung, ohne Essen, ohne Wasser. Also bleibt ihnen nur ein Weg, und der wird ihnen in den nächsten Monaten und Jahren mit Nachdruck gewiesen werden: der Exodus.“
Ist diese von Israel begangene genozidale Barbarei schon furchtbar genug und fast beispiellos, erfährt sie ihre Steigerung noch durch die Akzeptanz, ja Duldung und sogar aktive Förderung des Westens – besonders eben der USA und Deutschlands, die durch ihre Waffenlieferungen das Morden in Gaza erst möglich gemacht haben und auch immer noch ermöglichen. Die deutsche Politik beruft sich bei ihrer bedingungslosen Unterstützung Israels auf das moralische Vermächtnis des Holocaust (Staatsräson).
Aus dem deutschen Mega-Verbrechen an den Juden kann aber wohl nicht die moralische Schlussfolgerung gezogen werden, einen Unrechtsstaat, dem Völkerrecht und Menschenrechte nichts gelten, rückhaltlos zu unterstützen, ja sich völlig mit seinen Interessen zu identifizieren. Einen Staat, dem sogar israelische Holocaust-Experten wie Omer Bartov, Amos Goldberg und Raz Segal bescheinigen, im Gazastreifen Völkermord zu begehen.
Die deutsche Politik hätte mit der Erbschaft des Holocaust die Pflicht, da ist Lüders uneingeschränkt zuzustimmen, aus Gründen der Moral und der Ethik einer authentischen Erinnerungskultur überall auf der Welt für die Realisierung der Menschenrechte einzutreten, wo sie gebrochen werden, und bei den geringsten Anzeichen eines Völkermordes auf dem Globus zu intervenieren und ihn zu verhindern.
Lüders nennt klar beim Namen, warum die deutsche Politik in puncto Nahost und Israel auf der völlig falschen Seite der Geschichte steht: „Unter Berufung auf die Teleologie von Auschwitz einen kollektiven Tötungsakt zu billigen oder geschehen zu lassen – in diesem Fall der israelischen Seite gegenüber den Palästinensern, der anschließend vom Internationalen Gerichtshof (IGH) möglicherweise als Genozid bewertet wird – , wäre für Deutschland der GAU. In diesem Fall wäre der deutsche Moralismus als das entlarvt, was er de facto auch ist: vor allem eine krude Mischung aus Heuchelei, Realitätsvermeidung und imperialer Weltsicht.“
Die Folgen der deutschen Staatsräson-Politik gegenüber Israel werden, so warnt Lüders, beträchtlich sein: Im Inneren eine zunehmende Repression gegen Andersdenkende – also die Dämonisierung und Kriminalisierung von Kritikern der israelischen Politik als „Antisemiten“. Die jetzt beschlossene „Bundestagsresolution gegen Antisemitismus“ wird das Ihre zu einer fatalen und die Demokratie gefährdenden Einengung und Beschränkung der Meinungs-, Informations- , Wissenschafts- und Kunstfreiheit beitragen. Und im Äußeren wird der Niedergang des Westens unaufhaltsam sein. Denn der flagrante Widerspruch zwischen der offenen Betonung der westlichen Werte und der real ausgeübten Politik, in der diese Werte – siehe Gaza – mit Füßen getreten werden. Diese Kluft ist unüberbrückbar.
Lüders zieht folgende Bilanz: „Gaza wird zunehmend zu einer Metapher für altbekannte Verbrechen. Wer im Globalen Süden mag die Selbstwahrnehmung der Machteliten in Washington, Brüssel und Berlin, nämlich für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einzustehen, noch ernst nehmen? Entsprechend groß ist die Begeisterung über Südafrikas Klage gegen Israel. Es ist das erste Mal, dass ein Land des Globalen Südens der westlichen Selbstermächtigung, internationale Rechtsnormen allein bei ‚Schurkenstaaten‘ anzulegen, nie aber bei sich selbst, öffentlichkeitswirksam Paroli bietet. Nicht allein Israel sitzt in Den Haag auf der Anklagebank, sondern der Westen insgesamt. Einschließlich der ebenso selbstgefälligen wie realitätsblinden politisch-medialen Klasse in Deutschland.“
Auch für den Nahen Osten sieht Lüders keine Hoffnung, weil die Wurzel des Übels – die israelische Besatzung über ein ganzes Volk – nicht angegangen wird. Die Zeichen dort stehen weiter auf anhaltende Gewalt und Widerstand. Verantwortlich dafür macht Lüders mit Recht die zionistische Ideologie und ihre Verteidiger und Anhänger. Er nennt die israelische Politik „nihilistisch und selbstzerstörerisch“.
Der Genozid in Gaza und das moralische Versagen des Westens angesichts der dort stattfindenden Barbarei enthalten für den Autor aber trotz alledem einen Hoffnungsfunken, so widersprüchlich und absurd das zunächst auch anmuten mag. Denn Gaza ist längst eine Metapher geworden: das einigende Band des politischen und ethischen Bewusstseins einer wachsenden Zahl von Menschen – nicht nur im Globalen Süden. Gaza kann in diesem Sinn ein „Erweckungserlebnis“, das dem vom Westen das nach dem Holocaust propagierte, aber von ihm verratene „Nie wieder!“ einen neuen Sinn geben kann.
Das würde bedeuten, den „Holocaust zu erretten“ (hier zitiert Lüders den indischen Philosophen Pankaj Mishra), ihn dem Verrat von Netanjahu, Biden, Scholz und Macron zu entziehen und seine moralische Bedeutung, sein Vermächtnis für die Menschheit wiederherzustellen. Und: dem historischen Erinnern an die millionenfachen Opfer eine neue Universalität zu verleihen. Das wäre die beste Prävention gegen ein neues Jahrhundertverbrechen auf der Grundlage der Erneuerung einer manipulierten, instrumentalisierten und beschädigten Erinnerungskultur.
Das ist zwar nur eine schwache Hoffnung, die Lüders hier anführt, aber wohl fast die einzige, die man angesichts der furchtbaren politischen und kriegerischen Realität zurzeit haben kann. Es gibt nur wenige Bücher, mit denen man eine so totale Übereinstimmung hat wie mit Lüders neuem Text. Dieses Buch sollte zur Pflichtlektüre für jeden werden, der sich zur Nahost-Problematik äußert.
Michael Lüders: Krieg ohne Ende? Warum wir für den Frieden im Nahen Osten unsre Haltung zu Israel ändern müssen, München 2024, ISBN 978-3-442-31776-9, 22 Euro