Unser ukrainischer Gastautor hat im Namen der ukrainischen Linken einen Offenen Brief an die Sozialistische Internationale (Socintern) verfasst und die NachDenkSeiten um Veröffentlichung gebeten. Er appelliert darin an die Rückbesinnung auf die sozialistischen und sozialdemokratischen Ideale von Politgrößen wie Olof Palme und Willy Brandt. Den Verfasser befremdet die ausbleibende Unterstützung für die von Terror und Repressalien der ukrainischen Regierung gebeutelten linken Organisationen und Aktivisten im Land. Er listet in diesem Zusammenhang unzählige Fälle von Verhaftungen, Folter und Ermordung von linken ukrainischen Politikern, Aktivisten und Journalisten in den Jahren ab 2022 auf. Von Maxim Goldarb.
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Vor einem Monat tagte in den Vereinigten Staaten das Präsidium der Sozialistischen Internationale, einer Organisation von mehr als 150 sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien aus 126 Ländern, die sich als Nachfolgerin der Ersten und Zweiten Internationale und der Sozialistischen Arbeiter-Internationale versteht und auf eine mehr als 150-jährige Geschichte zurückblicken kann.
Die Geschichte der Internationalen umfasst so berühmte Namen wie Engels, Liebknecht, Luxemburg, Kautsky, Vandervelde, Bauer, Adler und Bebel. Die Geschichte der Sozialistischen Internationale des 20. Jahrhunderts ist untrennbar mit Olof Palme, dem schwedischen Ministerpräsidenten, François Mitterrand, dem französischen Staatspräsidenten, und Willy Brandt, dem sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, verbunden. Im Übrigen war es Brandt, der den Anstoß dafür gab, dass die Sozialistische Internationale die wichtigsten Weltprobleme nicht isoliert, sondern im Zusammenhang betrachtet: Kriege und Frieden, wirtschaftliche Entwicklung, Entwicklung der Demokratie und Gewährleistung echter nationaler Unabhängigkeit, Beziehungen zwischen der entwickelten Welt und den Entwicklungsländern, Ökologie.
Im 20. Jahrhundert wurde die Socintern zu einem Subjekt der Weltpolitik, das die globalen Probleme nicht von einem abstrakten Standpunkt aus analysierte und bearbeitete, sondern von einem ideologischen und politischen Standpunkt aus, indem es die offensichtlichen Zeichen der Krise der kapitalistischen Lebensweise hervorhob. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederbelebte Socintern wurde zum einflussreichsten Sprecher und Vertreter der Ideen des Sozialismus auf der Weltbühne.
Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – das sind die wichtigsten politischen Grundsätze der Sozialistischen Internationale, die in ihrem wichtigsten Programmdokument, der „Stockholmer Grundsatzerklärung”, verankert sind.
Heute steht an der Spitze der Sozialistischen Internationale der Vorsitzende der spanischen PSOE, der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez, ein begabter Politiker, der auf der Bühne gut aussehen und seine Gedanken eloquent ausdrücken kann.
Wir, die ukrainischen Sozialisten und Sozialdemokraten, haben die Sitzung des Präsidiums der Sozialistischen Internationale, ihre vereinheitlichenden und fortschrittlichen Erklärungen mit Freude, gutem Neid und etwas Fassungslosigkeit verfolgt.
Erfreulicherweise, denn die sozialistische Weltbewegung ist nach dem Vorbild der Socintern nicht ausgestorben, sondern hat im Gegenteil erklärt, dass sie wächst und erstarkt, sich konsolidiert, sich modernen, für die gesamte Menschheit lebenswichtigen Aufgaben stellt, auf dem Weg zu globalen Zielen ist und alle Chancen hat, ein Global Player im Gegensatz zu Neoliberalen und Oligarchen und ihren Satelliten zu sein.
Der Grund für den Neid ist lediglich die Tatsache, dass die ukrainischen Sozialisten nicht in der Socintern vertreten sind und sich nicht an deren Aktivitäten beteiligen. Einer der Gründe dafür ist, dass ukrainische sozialistische und andere linke Parteien durch das Regime von Präsident Selenskyj zerschlagen und verboten wurden und es niemanden gibt, der einen offiziellen Antrag stellt.
Unsere Fassungslosigkeit rührt von dem für uns ukrainische Linke unverständlichen absoluten Ausbleiben einer Reaktion der Sozialistischen Internationale im Allgemeinen und ihrer Mitglieder im Besonderen auf die Verfolgung der ukrainischen linken Bewegung, ihrer Führer und ihrer Mitglieder in der Ukraine durch die gegenwärtigen ukrainischen Behörden her, die nun schon seit fast drei Jahren andauert.
Die Socintern, ihr Vorsitzender und viele ihrer europäischen Mitgliedsparteien müssen wissen, dass die ukrainische Regierung seit Beginn des Krieges alle, wir betonen !!!ALLE !!! linken ukrainischen Parteien verboten hat. Sie wurden verboten – unter weit hergeholten und absolut absurden, unbegründeten Anschuldigungen! Diejenigen ihrer Führer und Mitglieder, die das Land nicht verlassen konnten, wurden getötet oder hinter Gitter geworfen: 6. März 2022 – Verhaftung und Inhaftierung der Kommunisten, der Brüder Kononowitsch; 10. März 2022 – Verhaftung des sozialistischen Journalisten Jan Taksyur; 19. März 2022 – Verhaftung der Oppositionspolitikerin und Menschenrechtsaktivistin Olena Bereschnaja; 22. Februar 2022 – Verhaftung des Bloggers und Publizisten Dmytro Skworzow; 19. März 2022 – Verhaftung des linken Journalisten Juri Tkatschew; 31. März 2022 – Verhaftung von Gleb Ljaschenko, Journalist und oppositioneller Blogger. Ein Jahr später wurde Ilja Kiva, der ehemalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Ukraine, in Moskau von einem Agenten der ukrainischen Sicherheitsdienste ermordet. Die Liste ließe sich noch zwei Seiten lang fortsetzen. Parteibüros linker Parteien wurden von Nationalisten und Radikalen verwüstet.
Die linken Parteien der Ukraine, insbesondere die Union der Linken Kräfte der Ukraine, wurden allein deshalb verboten, weil sie für den Frieden, die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Friedensverhandlungen eintraten; weil sie erklärten, dass eine nukleare Katastrophe bevorstehe; weil sie direkt auf die Nutznießer des Krieges in der Ukraine hinwiesen – die Oligarchie und den militärisch-industriellen Komplex; weil sie über Korruption katastrophalen Ausmaßes schimpften, über den Höhepunkt des Neonazismus im Land, über die Zerstörung der nationalen Wirtschaft und die Bereicherung von Oligarchen und dem Präsidenten nahestehenden Beamten; im Allgemeinen über alles, was auch die Massenmedien im Dienste der Weltoligarchie heute verkünden.
Unsere zahlreichen Appelle an viele linke Parteien in Europa, insbesondere an die PSOE und persönlich an den Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale P. Sanchez, blieben einfach unbeantwortet. Woran liegt das? Gleichgültigkeit? Was ist dann die weltweite Solidarität und gegenseitige Unterstützung der Linken, von der auf den Kongressen der Sozialistischen Internationale so oft die Rede ist? Wo bleiben die von Ihnen erklärte „Solidarität”, „Freiheit”, „Gerechtigkeit”? Oder gilt das nur für Mitglieder der Sozialistischen Internationale, andere linke Parteien sind nicht erfasst? Wo sind die Solidaritätsproteste der Sozialistischen Internationale mit uns? Warum begrüßen Ihre Führer wie Sanchez und Scholz fröhlich die Bosse von Selenskyjs Regime, anstatt auf dessen offensichtliche diktatorisch-nationalistische Züge in einer strengen, sozialistischen Weise hinzuweisen?
Oder ist es die stillschweigende Unterstützung der Unterdrückung und Verfolgung der ukrainischen Sozialisten und Kommunisten durch die Führung der Sozialistischen Internationale und der europäischen sozialistischen Parteien? Und warum? Wofür? Ich möchte nicht an Letzteres glauben, aber wie sonst lässt sich Ihr Schweigen in diesen Jahren erklären? Unwissenheit? Noch einmal: Unsinn, ich habe Sie persönlich darüber informiert.
Verstellung, schöne Worte, Slogans, Erklärungen und Posen auf der Bühne werden kaum ausreichen, um die Rolle und die Kraft und Tiefe Ihrer Überzeugungen mit Brandt und Palme gleichzusetzen. Ein solches Verhalten und die Position „Ich sehe nichts, höre nichts, sage nichts” werden das weltpolitische Niveau der Sozialistischen Internationale auf nichts Entscheidendes und nichts Beeinflussendes reduzieren. Und ihr derzeitiges spezifisches Gewicht in der Weltpolitik des neuen Jahrtausends droht absolut unvergleichbar zu werden mit der Zeit Brandts.
Wie der damalige Vorsitzende der Sozialistischen Internationale, B. Carlsson, vor etwa 35 Jahren zu Recht sagte: „Die Kongresse der Organisation werden zu Strömen schöner Worte, die in der Wüste der Untätigkeit versiegen.”
Die auf der jüngsten Präsidiumssitzung erklärten globalen Ziele sind gut, aber es lohnt sich natürlich, klein anzufangen: zu lernen, die Linke in anderen Ländern zu verteidigen, hart und unversöhnlich gegenüber den Feinden des Sozialismus zu werden, uns als zuverlässiger Verteidiger der linken Bewegung weltweit zu zeigen. Nur dann können wir zur Hauptthese der Sozialistischen Internationale übergehen: eine globale Koalition für den globalen Fortschritt aufzubauen.
Wir erinnern uns, dass fast alle linken Parteien in ihren eigenen Ländern verfolgt wurden, ihre Führer und Mitglieder saßen im Gefängnis oder mussten emigrieren, einige von ihnen wurden von den herrschenden Regimen zerstört. Doch am Ende standen sie nicht nur wieder auf, sondern wurden in vielen Staaten zu den siegreichen Parteien, zu den Regierungsparteien. Auch wir glauben an solche lichten Momente des Sieges des modernen Sozialismus in der Ukraine, und wir arbeiten dafür – auch wenn wir im Exil leben und verfolgt werden.
Wir brauchen heute Unterstützung und Verteidigung – etwas, das in der Realität, nicht in Worten, die Einheit des Sozialismus zu einer einzigen Faust, einer einzigen Kraft auf der ganzen Welt zeigen wird.
Titelbild: Socintern