Die US-amerikanische Journalistin Abigail Shrier setzt sich in ihrem Buch „Bad Therapy. Why the Kids Aren’t Growing up“ kritisch mit Psychotherapie, vor allem in Bezug auf Kinder, auseinander. Auch wenn das Buch offensichtliche methodische Schwächen hat, so könnte die Argumentation dennoch zu einer Debatte über eine kritischere Wahrnehmung von Psychotherapie beitragen. Eine Rezension von Tobias Reichardt.
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Die Linke hatte oft ein kritisches Verhältnis zu Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Sie argwöhnte, soziale und ökonomische Probleme würden psychologisiert, also zu individuellen Problemen gemacht. Sie hat Unterscheidungen von „krank“ und „gesund“ infrage gestellt und behauptet, dass teilweise schlicht unangepasste Menschen zu Kranken erklärt würden. Psychiatrische Anstalten wurden als Orte der Herrschaftsausübung kritisiert, die Missbrauch begünstigten. Eine pychiatriekritische Bewegung hat zu grundlegenden Reformen der Versorgung psychisch Kranker geführt. Die Anzahl großer Anstalten ging zurück. Die Sozialpsychiatrie wurde geschaffen, die die Erkrankten in ihrer gewohnten Umgebung unterstützt und so eine Abschiebung in Kliniken nach Möglichkeit vermeidet. Wenn auch oft zugespitzt und übertrieben, war diese linke Kritik an der Psychiatrie doch unter vielen Aspekten berechtigt. Sie hat zu gesellschaftlichen und medizinischen Fortschritten geführt.
In den letzten Jahrzehnten haben sich große Teile der Linken, wie vielfach beobachtet worden ist, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Dies gilt auch für ihr Verhältnis zur Psychologie, das nicht länger kritisch ist. Die Linke hat ihre Skepsis gegenüber Psychologie und Psychiatrie verloren. Wir erleben in den westlichen Gesellschaften einen Bedeutungsgewinn, ja einen Kult der Psychologie, der von der Linken eher befördert als kritisiert wird. Kritik an dieser Entwicklung formulieren eher Liberale und Konservative.
So setzt sich die US-amerikanische Journalistin Abigail Shrier in ihrem 2023 erschienenen Buch „Bad Therapy. Why the Kids Aren’t Growing up“ kritisch mit der Psychotherapie, vor allem in Bezug auf Kinder, auseinander. Bekannt wurde Shrier mit ihrem Werk „Irreversible Damage: The Transgender Craze Seducing Our Daughters“ (2020, deutsch 2023: „Irreversibler Schaden: Wie der Transgenderwahn unsere Töchter verführt“). In der deutschsprachigen Öffentlichkeit wird „Bad Therapy“ bisher nicht beachtet. Im angelsächsischen Bereich wurde das Buch vor allem von Rechten, Konservativen und Nonkonformisten positiv rezipiert. So konnte Shrier ihre Thesen etwa in den Podcasts von Jordan Peterson, Joe Rogan, Ben Shapiro, Coleman Hughes, Bill Maher und bei „Unherd“ präsentieren.
Shrier ist keine Psychologin. Sie stützt ihre Erkenntnisse nicht auf eigene Studien oder ein profundes Studium und Durchdenken der einschlägigen Literatur, sondern vor allem auf eine Vielzahl von Interviews, die die Autorin mit Experten, Jugendlichen und Eltern geführt hat. Shrier leugnet keineswegs die Existenz und Behandlungsbedürftigkeit psychischer Krankheiten. Sie ist jedoch der Auffassung, dass es eine große Gruppe von Personen gebe, die nicht wirklich krank sind, sondern unsicher, ängstlich, einsam oder traurig. Um diese Gruppe, denen Shrier zufolge Psychotherapien nicht helfen, sondern eher schaden, gehe es in ihrem Buch.
„Bad Therapy“ besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil (Kapitel 1 bis 3) legt die Autorin die Begriffe „Iatrogenesis“ und „Bad Therapy“ dar. Die Autorin erklärt, inwiefern Therapie denn überhaupt schaden könne. Der Begriff der Iatrogenese (griech. etwa: „Erzeugung durch den Arzt“) meint, dass eine Krankheit durch die Therapie erst hervorgerufen oder eine bestehende Krankheit verschlimmert wird, was grundsätzlich aus verschiedenen Gründen denkbar ist. So kann es etwa zu Behandlungsirrtümern oder zu Infektionen während eines Krankenhausaufenthalts kommen. Meistens, vor allem bei körperlichen Krankheiten, gebe es aber einen handfesten Behandlungsgrund, der dieses Risiko rechtfertige. In Psychotherapien sei nun aber gerade dies oft nicht der Fall.
Manche Menschen ließen sich therapieren, ohne einen wichtigen Grund zu haben. Doch auch die Psychotherapie berge Risiken. So könne eine Therapie dazu führen, dass ein Patient sich als krank wahrnehme, ohne dies wirklich zu sein. Ein seelisches Leiden könne über Gebühr an Aufmerksamkeit und Gewicht gewinnen. Therapie könne auch dazu führen, dass Konflikte mit Familienmitgliedern noch verstärkt werden, wenn auf diese Konflikte etwa in den therapeutischen Gesprächen die Aufmerksamkeit gelenkt werde. Eine Therapie könne schließlich zu einer Abhängigkeit des Patienten von der Therapie führen. Shrier weist darauf hin, dass der Mensch auch andere Methoden habe, mit psychischen Problemen umzugehen, als sich in Therapie zu begeben – wie das Gespräch mit Freunden, die Beschäftigung mit einer als sinnvoll empfundenen Tätigkeit, Humor oder Sport. Diese Selbstheilungsprozesse könnten durch eine Therapie gestört werden. Shrier weist darauf hin, dass psychische Krankheiten unter amerikanischen Jugendlichen zu einer Mode, einem Trend, manche würden sagen: einer Hysterie geworden sind. Jugendliche, die keine Diagnose vorzuweisen haben, fühlten sich unter ihren Altersgenossen zurückgesetzt.
Obwohl sie immer mehr Aufmerksamkeit und Behandlung finde und immer mehr Geld für sie ausgegeben werde, werde die psychische Gesundheit in den USA und anderen westlichen Ländern immer schlechter. Zwischen 1990 und 2007 sei die Anzahl der psychisch kranken Kinder um das 35fache gestiegen. Die Autorin wendet sich dagegen, solche Zahlen damit abzutun, dass einfach nur mehr Kinder, vielleicht voreilig, diagnostiziert würden: Sie seien zu einem großen Teil offenbar wirklich krank: Auch die Zahl der Suizide von Jugendlichen sei erheblich gestiegen.
Nach Shrier geht die Zunahme psychischer Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen auf eine Werteveränderung und damit auch eine Veränderung in der Erziehung zurück. Das Ergebnis dieser Veränderung sei, dass die Generation Z die ängstlichste Generation der Geschichte sei. Junge Menschen glaubten nicht mehr daran, dass sie in der Welt zurechtkämen, geschweige dass sie sie positiv verändern könnten. Selbst für normale Herausforderungen, die mit dem Auszug aus dem Elternhaus verbunden sind, bräuchten die Jugendlichen heute die Vorbereitung durch einen Therapeuten. Solche Therapeuten seien jedoch oft nicht hilfreich: Die „Methoden und Behandlungen, die Experten für psychische Gesundheit (mental health experts) befürworten und anwenden, machen junge Menschen schon jetzt kränker, trauriger und vergrößern ihre Angst vor dem Erwachsenwerden“ (S. 38, Übersetzung hier und im Folgenden TR). Shriers Kritik gilt vor allem der Therapie bei Kindern, die keine Möglichkeit haben, eigenständig Entscheidungen über Behandlungen zu treffen. Therapie bei Kindern sei oft ein fragwürdiges Mittel. Die Probleme und auch die Möglichkeiten zu ihrer Lösung seien in der Regel eher bei den Erwachsenen, bei den Eltern zu suchen.
Shrier kritisiert die mit Therapien häufig einhergehende Konzentration auf die eigenen Emotionen des therapierten Individuums. Hierin komme eine extrem individualistische Gesellschaft zum Ausdruck. Negative Emotionen wie Ängste würden hierdurch hervorgerufen oder verstärkt. Das Sprechen über Probleme helfe nicht immer. Manche kämen besser alleine mit ihren Problemen zurecht. Kleinere Probleme und Leiden könne man auch bewältigen, indem man sie ignoriert oder unterdrückt. Diagnosen könnten demoralisierend und stigmatisierend wirken, obwohl Shrier auch die positiven Potenziale von Diagnosen nicht leugnet. Dazu kommen die enormen Risiken, die mit einer medikamentösen Behandlung verbunden sind.
Der zweite Teil (Kapitel 4 bis 10) stellt den inhaltlichen und quantitativen Hauptteil des Buches dar. „Bad Therapy“ wird laut Shrier heute nicht nur von Therapeuten, sondern auch von anderen Berufsgruppen, vor allem in Schulen, ausgeübt. Hierzu zählen neben Lehrern auch Schulpsychologen, Sozialarbeiter und sogenannte „school counselors“, die erhebliche, von Eltern nicht kontrollierte Macht über Kinder ausüben. Diese Personengruppen seien daran beteiligt, an amerikanischen Schulen auffallend viele angeblich therapiebedürftige Beschwerden zu identifizieren, so z.B. die „Angst“ (anxiety) davor, den Schulbus zu verpassen.
Shrier kritisiert die an US-amerikanischen Schulen praktizierte Methode des „social-emotional learning“. Diese werde von der Vorstellung geleitet, dass nahezu alle Kinder traumatisiert seien und schwere emotionale Probleme aufwiesen, bei denen sie Hilfe benötigten. Shrier sieht darin jedoch die Gefahr einer Verstärkung der Probleme. Leiden könne durch übertriebene Aufmerksamkeit verstetigt und vermehrt werden, Schulen übertrieben die negativen Erlebnisse und Befindlichkeiten von Schülern und verwiesen diese in Therapien. „Sie ermutigen jedes Kind, permanent über sich selbst und seine Schwierigkeiten nachzudenken.“ (S. 152) Dieses exzessive Reflektieren über sich selbst helfe jedoch nicht, sondern schaffe eher Probleme oder vergrößere sie. Die Autorin stellt eine maßlose Ausweitung des Begriffs „Traumatisierung“ fest: Traumata würden durch ausufernde Interpretationen überall gesehen. Sie sind nach manchen renommierten Fachleuten sogar im Körper von Individuen gespeichert (selbst wenn diese davon gar nichts wissen). Traumata könnten auch an die Kinder vererbt werden. Auch wenn man also selbst überhaupt nichts Belastendes erlebt hat, könne man auf diese Weise angeblich durch das Unglück eines Vorfahren „traumatisiert“ sein. Shrier sieht darin „einen weiteren Versuch der Experten für psychische Gesundheit, jeden zu pathologisieren” (S. 135).
Natürlich leugnet Shrier nicht, dass es Kinder gibt, die schwierige Startbedingungen haben und tatsächlich besonderer Hilfe bedürfen. Sie ist jedoch dagegen, solche Kinder in Watte zu packen. Stattdessen betont sie hier die Rolle hoher Erwartungen. Man solle seine Erwartungen nicht reduzieren, sondern im Gegenteil auch Kinder, die es schwerer haben, durch hohe Ziele und Vertrauen auf ihre Fähigkeiten anspornen, statt sie durch die Kultivierung des Opferstatus zu hemmen. Shrier kritisiert in diesem Sinne auch die Opferkultur, die den Opferstatus einer Person hervorhebt und ihre Aktivität, Subjektivität, ihre Fähigkeiten, auch Schwierigkeiten zu bewältigen, tendenziell unterschätzt. Diese Kritik der Opferkultur ist im Rahmen der Kritik an der „woken“ Ideologie auch von zahlreichen anderen Autoren des englischen wie des deutschen Sprachraums bekannt, etwa von Jonathan Haidt oder John McWhorter. Vielfach wurde und wird (auch im Zusammenhang mit ethnischer Diskriminierung) darauf hingewiesen, dass eine Opfermentalität die Lage der vermeintlich oder auch wirklich Diskriminierten nicht verbessert (z.B. von Ahmad Mansour).
Menschen als Opfer zu sehen, erscheint auf den ersten Blick als empathisch. Empathie sei jedoch zwiespältigen Charakters: Sie könne sehr selektiv sein. Wenn sie nicht rational reflektiert wird, fragt sie nicht danach, was etwa dem „Opfer“ wirklich hilft und ob der Opferstatus tatsächlich nicht überwindbar ist. Auf der anderen Seite wird auch der Täter-Status nicht hinterfragt, sondern wie ein Stempel verwendet. Als Negativbeispiele dafür, wie Empathie in Aggression umschlägt, führt Shrier die offenbar an manchen amerikanischen Schulen herrschende Denunziationskultur an, in der Schüler sich gegenseitig tyrannisieren, indem sie einander vorwerfen, etwas „Verletzendes“ oder Diskriminierendes gesagt oder getan zu haben. Shrier macht die Prinzipien von Vernunft und Gerechtigkeit gegenüber der bloßen Empathie stark.
Anstatt Kinder primär als zu schützende Opfer zu sehen, plädiert die Autorin für eine Erziehung, die Kindern auch bei psychischen Leiden, bei Enttäuschungen, Niederlagen und Kummer, Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit zutraut und sie auffordert, nach vorne zu schauen, anstatt sich übermäßig auf die eigenen verletzten Gefühle zu konzentrieren. Shrier spricht davon, dass Eltern Angst vor den eigenen Kindern hätten, keine Autorität mehr für diese darstellten, Kinder kein „Nein“, keine Grenzen mehr erführen. Hierdurch werde ihnen eine übermäßige Verantwortung auferlegt. Die westliche Kultur unterminiere die elterliche Autorität, welche an Psycho-Experten ausgelagert werde. Dabei plädiert Shrier keineswegs reaktionär für eine Rückkehr in veraltete, autoritäre Erziehungsmodelle. Sie hebt aber Irrwege des westlichen Individualismus in der Erziehung hervor und plädiert für einen Mittelweg zwischen modernen und traditionellen Elementen in der Erziehung.
Die individualistische, inklusive Pädagogik, die sich höchst tolerant gibt und deren Vertreter viele warme Worte für „Vielfalt“ haben, ist keineswegs immer so harmlos, wie sie scheint. Wenn das Kind von den Normen abweicht und Konflikte entstehen, wird dies nicht unbedingt mehr geduldet als bei traditionellen, autoritären Ansätzen. Kinder werden jedoch in solchen Fällen nicht erzogen, sondern mit Medikamenten oder Therapien traktiert. „Jahrelang haben Experten versucht, die Konflikte (idiosyncrasies) der Eltern-Kind-Interaktion auszubügeln – und in den letzten zwei Jahrzehnten waren sie fast erfolgreich. Sie injizierten Ideologie und falschen Perfektionismus in die Eltern-Kind-Beziehung und unterwarfen jeden Aspekt ihrer Prüfung und Beurteilung” (215 f.). Shrier wendet sich dagegen, negative Gefühle wie Trauer oder Wut stets als pathologisch zu betrachten. Vielmehr seien sie normale Bestandteile des Lebens und speziell der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Man habe sich erzieherisch mit ihnen auseinandersetzen, in der Regel aber nicht therapeutisch.
Der Schlussteil des Buches (Kapitel 11 und 12) enthält vor allem erzieherische Ratschläge, die freilich in den vorherigen Teilen bereits angedeutet wurden. Shriers Vorstellungen über Erziehung sind keineswegs extrem, ausgefallen oder reaktionär. Ihre Schlüsse sind nicht durch politische Ideologie geprägt, sondern folgen dem gesunden Menschenverstand und wissenschaftlichen Erkenntnissen: „Kinder brauchen Freiraum von der Aufsicht durch Erwachsene. Sie entwickeln sich, indem man ihnen Unabhängigkeit zugesteht, ein gewisses Maß an Verantwortung, Autonomie und, ja: auch Fehler. Sie lernen nicht, etwas selbst zu tun, wenn wir es für sie tun.” (S. 216) Eltern sollen ihre Erziehungsverantwortung wahrnehmen und sie weder an Therapeuten noch an ihre Kinder abgeben: „Wenn Ihr Teenager sich herausfordernd benimmt, behalten Sie einen kühlen Kopf. Bleiben Sie dabei, dass Sie die Verantwortung haben. Geben Sie Ihr Kind nicht sofort an einen Experten für psychische Gesundheit ab.” (S. 218)
Shrier unterstreicht die Gesellschaftlichkeit des Menschen und der Erziehung, was geschichtlich einmal ein Anliegen der Linken war, aber heute nach rechts gewandert zu sein scheint. Bereits zuvor wurde auf ein Interview mit dem prominenten konservativen Psychologen und Intellektuellen Jordan Peterson verwiesen, in dem dieser betont, dass der Mensch nur in Gesellschaft psychisch gesund ist. Die gegenwärtige Psychologie dagegen versuche, den Menschen zu isolieren und auf seine individuellen Gefühle zu reduzieren. Shrier betont – und dies ist zweifellos ein Punkt, an dem ihre Positionen für den Konservatismus anschlussfähig sind – die Bedeutung von Familie und Tradition für die gesunde Entwicklung des Individuums. Smartphones will sie möglichst aus Schulen und Kinderzimmern verbannen. Sie wendet sich dagegen, sich auf Diagnosen zu fixieren. Psychotherapien seien nur etwas für Fälle, in denen andere Mittel wirkungslos sind: „Bringen Sie Ihr Kind erst dann zu einem Therapeuten, wenn Sie alle anderen Optionen ausgeschöpft haben.“ (S. 246)
Die Grenzen des Buches sind unverkennbar: Die wissenschaftliche Tiefe ist gering. Psychologische Theorien und Fachdiskussionen kennt die Autorin offenbar in erster Linie aus den Interviews, die sie mit Experten geführt hat. Sie stellt keine Bezüge zur Geschichte der Pädagogik, der Psychologie und der Psychiatriekritik her, die sie möglicherweise kaum kennt. Das Buch beschränkt sich weitgehend auf die Verhältnisse in den USA, die der Autorin aus eigener Anschauung vertraut sind. Nach welchen Kriterien die Interviewpartner ausgesucht wurden und wie die Auswertung erfolgte, darüber erfährt man wenig. Ob die Auswahl ausgewogen oder eher einseitig war, bleibt somit ungewiss. Anekdoten aus ihrer eigenen Familiengeschichte sind ansprechend, haben aber wenig Beweiskraft.
Nichtsdestoweniger überzeugt das Buch in seiner Intention und Argumentation und wird hoffentlich zu einer kritischeren Wahrnehmung von Psychologie und Psychotherapie beitragen. Die westliche Welt befindet sich offenbar in einer psychologischen Krise.
Bei allen Unterschieden zu den USA lassen sich so manche Phänomene, die Shrier kritisiert, auch in Deutschland wiederfinden. Auch in Deutschland wird die psychische Gesundheit von Jugendlichen mit Sorge betrachtet. Das Bundesfamilienministerium fördert in einem Modellprojekt „Mental Health Coaches“ an Schulen. Die Zahl von Fehltagen aufgrund psychischer Krankheit hat signifikant zugenommen. Dabei sind insbesondere junge Menschen betroffen. Unlängst hat eine Studie (Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“) gezeigt, dass ein großer Teil der Jugend in Deutschland anscheinend verängstigt und sorgenvoll in die Zukunft blickt – was offenbar auch zu Sympathie für die AfD führt. Wenig selbstbewusste, verängstigte Menschen suchen Schutz bei populistischen „Führern“. In den sozialen Medien prahlen Jugendliche mit ihren angeblichen psychischen Krankheiten, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung zum Ziel gesetzt, psychische Krankheiten weiter zu „entstigmatisieren“, d.h. zu normalisieren.
Zweifellos ist Kranken zu helfen. Wenn man Shrier folgt, so ist diese „Entstigmatisierung“ jedoch ihrerseits zu hinterfragen. Die westliche individualistische Kultur, spezifische Erziehungsstile und ein unkritisches Verhältnis zur Psychologie scheinen teilweise psychische Labilitäten und Krankheiten noch zu verstärken. Psychologisierung und Therapeutisierung passen zur Opferkultur der Woken. Die politischen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind jedoch mit einer immer stärkeren Konzentration auf subjektive Befindlichkeiten und mit Therapien nicht zu bewältigen. Shriers Buch ist ein Aufruf, den Menschen nicht nur als leidendes und zu schützendes Individuum, sondern im Geiste der Aufklärung als zumindest potenziell unabhängiges und rationales Wesen zu betrachten. Gerade die Linke sollte es aufmerksam lesen.
Abigail Shrier: Bad Therapy. Why the kids aren’t growing up. Sentinel (Penguin Group), New York City 2024, 320 Seiten, gebundene Ausgabe, ISBN 979-8217097425, 24,58 Euro
Über den Autor: Tobias Reichardt ist Professor für Soziale Arbeit am Hamburger Standort einer privaten Hochschule. Ursprünglich hat er Philosophie und Geschichte studiert und umfangreich zu philosophischen, historischen, gesellschaftstheoretischen Themen und zum Sozialwesen publiziert.
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