Wie eine Siebenjährige die Blockade von Leningrad überlebte und die deutsche Regierung das Thema abschütteln will

Wie eine Siebenjährige die Blockade von Leningrad überlebte und die deutsche Regierung das Thema abschütteln will

Wie eine Siebenjährige die Blockade von Leningrad überlebte und die deutsche Regierung das Thema abschütteln will

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Galina Bondarewa ist 89 Jahre alt. Sie lebt in St. Petersburg. Als im Herbst 1941 die deutsche Wehrmacht mit der Blockade der Stadt Leningrad begann, war sie sechs Jahre alt. Doch sie erinnert sich noch gut, was sie während der 872 Tage dauernden Belagerung erlebte. Einmal schlich sie sich aus dem Haus, weil sie hoffte, dass sie bei ihrer Tante etwas zu Essen bekommt. Die deutsche Heeresführung hatte angeordnet, die Stadt auszuhungern. Eine Kapitulation sollte nicht angenommen werden. Das Deutsche Reich wollte keine Russen ernähren. In ihrer Not aßen die Menschen Katzen, Tauben und Tapetenreste, und sogar Ledergürtel und Pelzmäntel wurden gekocht. Russland spricht neuerdings von „Genozid“ und fordert von Deutschland eine Entschädigung für alle Blockade-Opfer. Die Bundesregierung erklärte, sie werde nur jüdische Blockade-Überlebende entschädigen. Mit der Blockade-Überlebenden Galina Bondarewa sprach Ulrich Heyden.

Mit der U-Bahn fuhr ich in den Norden von St. Petersburg bis zur Station Dewjatkino. Hier wohnt in einem schicken Neubauviertel in einem höheren Stockwerk Galina Bondarewa. Den Kontakt hatte mir die Touristenführerin Jelena vermittelt. Andrej, Galinas Sohn, empfing mich an der Tür, und da kam schon Galina. Sie trug eine weinrote Bluse und hatte sich extra für mich zurechtgemacht.

Mein Blick fiel sofort auf die vielen Gemälde im Korridor. Galina erzählte, sie sei Malerin. Später erfuhr ich, dass sie in Frankreich und Polen ausgestellt hat. Im Korridor hingen auch Gemälde von befreundeten Künstlern wie dem bekannten Surab Zereteli. Gleich neben der Wohnungstür – nicht zu übersehen – hing ein Foto von Wladimir Putin mit einem puscheligen Hund auf dem Arm. Galina bat mich in einem Zimmer auf ein Sofa, und ich begann zu fragen.

Ulrich Heyden: Wie haben sie die Blockade als Kind erlebt?

Galina Bondarewa: „Im Radio sagten sie, die Deutschen haben das Dorf und das Dorf erobert. Meine Mutter hat Kleidung für die sowjetischen Soldaten an der Front gepackt. Sie war Kommunistin. Meine Großmutter kümmerte sich um mich. Mein Vater war an der Front. Die Deutschen hatten die Stadt umzingelt.“

Galina hatte sich auf mein Kommen vorbereitet. Neben ihrem Sofa standen verschiedene von ihr gemalte Bilder über den Alltag während der Blockade. Während des Interviews zeigte und erklärte sie ihre Bilder.

„Ich zeige ihnen dieses Bild. Es ist eine symbolische Arbeit. Das ist die deutsche Umzingelung der Stadt. Das sind Frauen und Kinder. Dort transportiert man schon die Leichen. Das ist die Newa. Dort wird bombardiert. Die russischen Soldaten haben uns geschützt. Das waren Kerle, was die ausgehalten haben. Als Symbol habe ich hier einen Soldaten gezeigt.

Der Hunger begann. Es gab kein Wasser. Es gab keinen Strom. Es gab kein Holz zum Heizen. Es wurden Öfchen aufgestellt. Das Ofenrohr ging zum Fenster. Man verheizte alles, sogar Bücher. Man konnte nirgendwo etwas zu Essen kaufen. Die Deutschen haben zuerst die Badajewski-Lager bombardiert, wo Lebensmittel lagerten.“

Zu Beginn der Blockade im September 1941 hatte die deutsche Luftwaffe die Badajewski-Lebensmittellager bombardiert. 280 Brandbomben fielen auf die Lager. 3.000 Tonnen Mehl und 2.500 Tonnen Zucker wurden Opfer der Flammen. Nach dem Brand wurden noch 1.000 Tonnen halbverbranntes Mehl und 900 Tonnen Zucker gerettet. Das gerettete Mehl reichte, um die Leningrader 18 Tage lang mit einer Tagesration von 125 Gramm zu ernähren. Dieses Brot bestand aber nur zur Hälfte aus Mehl.

Galina erzählte: „Es war schrecklich. Man machte Brot aus „Schmich“, Resten von ausgepresstem Gemüse oder Samen. Ein Kind bekam am Tag 150 Gramm Brot und sonst nichts. Warum ich nicht gestorben bin, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, warum meine Großmutter nicht gestorben ist. Meine Mutter war mutig. Von meinem Vater bekamen wir keine Briefe. Die Post arbeitete damals schlecht. Meine Großmutter sammelte im Sommer Kräuter, die dann gekocht wurden. Im Winter suchten wir Pappkartons im Abfall-Lager, die haben wir im Öfchen verfeuert. So überlebten wir.

Meine Mutter gehörte zu einer Gruppe von fünf Frauen. Wenn es Luftalarm gab, haben sie Brandbomben von den Dächern auf die Erde geworfen, damit die Dächer nicht brennen. Dafür bekam sie die Medaille ‚Für den Schutz von Leningrad‘.

Ich erinnere mich an zwei Ereignisse. Meine Mutter arbeitete in einer Fabrik, wo warme Winterausrüstung für Soldaten hergestellt wurde. Meine Großmutter war gegangen, um etwas für den Ofen zu suchen. Ich ging zu meiner Tante, um zu Essen. Ich ging los, hatte aber meiner Großmutter nicht erzählt wohin. Sie war in Panik. Wo ist Galina? Vielleicht hat man sie gegessen?

Der Weg, auf dem ich ging, war verschneit. Überall war Eis. Es waren drei Stationen mit der Straßenbahn, aber die war nicht in Betrieb. Ich habe ein gutes visuelles Gedächtnis, und ich habe die Wohnung meiner Tante gefunden. Sie war Blutspenderin und hat das Blutspenden organisiert. Putin hat in einer Rede gesagt, dass die Menschen in Leningrad sehr viel Blut gespendet haben.

Bei meiner Tante angekommen, öffnete ich die Tür und sagte: ‚Tante Anja, geben sie mir irgendetwas zu Essen.‘ Sie sagte: ‚Oh, du bist allein?‘ Telefon gab es damals nicht. Meine Großmutter war schon zur Polizei gegangen. Meine Tante hat uns immer ein Stück weißes Brot und ein bisschen Butter gebracht.

Die zweite Begebenheit, an die ich mich erinnere, war 1942/43, als der Hunger am größten war. Wir tauschten warme Sachen gegen Brot. Geld spielte damals absolut keine Rolle. Wichtig waren nur warme Sachen und Essen.“

Wieder zeigte Galina ein Bild, welches sie gemalt hat. Man sah einen düsteren Tag im winterlichen St. Petersburg. Man sah, wie vor dem Narsker Triumphbogen Menschen Leichen durch den Schnee ziehen. Galina erklärte: „Wir lebten in der Nähe des Narsker Triumphbogens, am Statschеk-Prospekt 7a. Hinter dem Triumphbogen gab es ein Krankenhaus. Die Leute brachten die Leichen, denn es gab keine Möglichkeit, Tote zu beerdigen. Es gab keine Gräber, und die Leute hatte keine Kraft mehr. So brachten sie die Leichen zum Krankenhaus und klemmten einen Zettel mit einem Namen an den Leichnam. Dann brachten Angestellte die Toten zum staatlichen Friedhof. Die Menschen hatten keine Kraft mehr. Sehen sie diesen Menschen? (Ein Mann sitzt im Schnee und streckt bittend seine Hand aus.) Der Mann kann vor Hunger schon nicht mehr Laufen.

Ich ging damals mit meiner Großmutter und sagte ihr: ‚Hilf diesem Menschen, Du siehst doch, dass er um Hilfe bittet.‘ Sie sagte: ‚Ich habe keine Kraft und falle hin. Und wer kümmert sich dann um dich?’ Das war natürlich schrecklich. Meine Großmutter und meine Mutter waren damals die wichtigsten Menschen für mich. Sie haben mich gerettet.

Ich erzähle ihnen noch eine dritte Episode. Es gab schrecklichen Hunger. Wir wärmten unsere Hände an einem Öfchen. Man nahm mir die Walenki (Filzstiefel) weg. Es war kalt. Die Großmutter sagte zu mir: ‚Galitschka, komm unter die Bettdecke, wir füttern dich ein paar Tage.’ Ich wunderte mich, warum man mir die Filzstiefel abgenommen hat. Meine Großmutter erklärte, nur meine Walenki können uns noch helfen. Warme Sachen wurden gegen Lebensmittel getauscht. Die Geschäfte hatten geschlossen. Es gab Bombardierungen.“

Und was ist auf diesem Bild?

Ich zeige auf ein weiteres Bild, und Galina erklärt. „Dieses Bild zeigt Verletzte nach einer Bombardierung. Sie haben es nicht geschafft, sich in einem Luftschutzkeller in Sicherheit zu bringen. Wir lebten damals neben einer neu gebauten Schule. Dort gab es auch einen Luftschutzkeller. In den Luftschutzkeller rannten alle, die schnell reagieren konnten.

Mein Vater hatte mir einen kleinen gelben Papagei gekauft. Meine Großmutter hat ihn an einem der hungrigsten Tage gekocht und machte eine leckere Suppe. Als ich sie aß, wusste ich nicht, dass der Vogel in der Suppe war. Ich fragte die Großmutter. Sie sagte, der Vogel ist weggeflogen.“

Galina zeigt auf ein weiteres Bild. Es zeigt ein trauriges Mädchen, dass an einem Tisch sitzt. Der Vogelkäfig ist leer. Auf dem Teller liegt etwas Kleines, Undefinierbares. Die Fenster sind mit Streifen verklebt, damit sie bei Druckwellen nicht zersplittern. Am Himmel sind Fesselballons der Luftabwehr zu sehen. An der Zimmerwand hängt ein Lautsprecher. „Wir haben den Lautsprecher nicht abgeschaltet, denn es wurden Nachrichten gesendet.“

Was für Nachrichten wurden gebracht?

„Heute haben deutsche Soldaten die und die Stadt eingenommen. Am Abend meldeten sie, dass sie ein Dorf eingenommen haben, und sie sagten, wie viele Menschen deshalb starben. Danach wurde die sowjetische Hymne gespielt, um den Menschen Mut zu machen.“

Gab es Kannibalismus?

„Ja, gab es.“

Wurde das bestraft?

„Das weiß ich nicht.“

Was gab ihnen die Kraft, morgens aufzustehen?

„Es gab etwas zu tun. Einige Leningrader sind gestorben, weil sie nicht gearbeitet haben. Sie saßen zu Hause und hungerten. Der oberste Parteisekretär von Leningrad hatte die Bevölkerung aufgefordert, die Wohnungstüren nicht zu verschließen. Man konnte die Türen mit der Türklinke öffnen.“

Warum gab es diese Anweisung?

„Wegen der sterbenden Menschen, welche die Wohnung nicht verlassen konnten. Es gab Gruppen von Frauenbrigaden – die Männer waren an der Front –, welche die Wohnungen besuchten. Sie sahen, da liegt ein Mensch.

Meine Mutter erklärte mir, was das ist, Dystrophie. (Galina öffnete einen Bildband und zeigte auf das Bild eines bis auf die Knochen abgemagerten Jungen auf einer Liege.) Dieser Mensch litt an Dystrophie. Meine Mutter sagte, im oberen Stockwerk lebt eine Familie, die alle an Dystrophie litten. Bei Dystrophie sterben die Menschen, wenn man sie nicht aufrichtet. Dieser Junge hat geschrieben, ich kenne den Text auswendig: ‚Heute hat man die Katz gefangen. Man hat sie sofort gekocht und gegessen. Sie war sehr lecker.‘

Ich habe in einem Kindergarten hier in St. Petersburg einen Vortrag gehalten. Und ich habe mich gefragt, soll ich den Kindern davon erzählen oder nicht. Natürlich interessiert es die Kinder. Ich habe es ihnen erzählt und gezeigt.“

Wie haben die Kinder auf ihre Erzählung reagiert?

„Den Mädchen liefen die Tränen über die Wangen. Nach dem Vortrag haben die Kinder mich umringt und gestreichelt. Die Lehrer wollten das nicht. Die Kinder fragten: ‚Galina Fjodorowna, sie haben Tauben und Ratten gegessen?‘ Mir kamen die Tränen. Ich sagte: ‚Wir haben diese Tiere nicht gegessen, aber unsere Nachbarn. Ein Nachbar aß einen Hund. Meine Mutter sah es.‘“

Erinnern sie sich noch an die Zeit vor der Blockade?

„Ich erinnere mich dunkel, dass mein Vater wegfuhr und mich zum Abschied auf den Arm nahm. Und ich erinnere mich an die Männer vor unserem Haus, die zur Front zogen. Sonst erinnere ich mich an fast nichts.“

Wie ging das Leben nach der Blockade weiter?

„Josef Wissarionowitsch Stalin hat, als die Blockade aufhörte, eine Anordnung erlassen. Meine Mutter war Parteimitglied. Sie las die Zeitung Prawda. Mit freudiger Stimme las sie vor, Stalin habe angeordnet, dass die Kolchosen im mittleren Russland an die Menschen, welche die Blockade überlebt haben, Zwiebeln, Mohrrüben, Kohl und Kartoffeln liefern. Der Süden der Sowjetunion musste Früchte, Äpfel und Zitronen und der Ferne Osten Fisch liefern. Wir haben uns gefreut. Als die Lebensmittel angekommen waren, hat meine Mutter mich mitgenommen zum Einkaufen in einen Laden. Ich sah roten und schwarzen Kaviar und Fisch. Meine Mutter kaufte etwas roten und schwarzen Kaviar. Sie sagte, dass Stalin die Lebensmittellieferungen kontrolliert. Wir konnten uns nun ernähren. Im April 1945 warfen die Amerikaner Lebensmittel über Leningrad ab. Meine Großmutter ging und sammelte ein Paket ein. Da waren Kaffee, Wurst und Süßigkeiten drin.

Gab es eine Schule für Sie?

Meine Mutter arbeitete wieder im Bezirkskomitee der Partei. Mein Vater kam nicht von der Front zurück. Meine Großmutter hat mich versorgt. 1943 ging ich zur Schule in die erste Klasse. Die Schule war in einem Luftschutzkeller. Die Lehrer kamen in den Keller und haben vor allem Literatur und Geschichte unterrichtet, weil man in dem Keller schlecht schreiben konnte. Von der Front kehrte der Mann einer Nachbarin zurück. Er war Offizier. Bei meiner Mutter weinte er. Er sagte, bei uns gab es den Tod, aber es gab etwas zu Essen. Aber bei Euch gab es Bombardierungen und kein Essen.“

Wie wurde 1945 der Sieg über Deutschland gefeiert?

„Die Menschen haben sich umarmt und geküsst. Auch Unbekannte küssten sich, einfach aus Freude. Es war sehr feierlich. Ich erinnere mich an eine Episode. Im Januar 1943 oder 44 wurden deutsche Kriegsgefangene über den Statschek-Prospekt geführt. Ich ging mit meiner Großmutter dorthin. Meine Mutter war auf der Arbeit. Ich habe die Deutschen gesehen. Sie gingen eingewickelt in irgendwelche dreckigen Handtücher. Es war Januar und es war kalt. Neben uns stand eine Frau mit einer Wasserflasche. Sie warf die Flasche auf die Deutschen. Eine andere Frau warf einen Stein. Dann wurden die Deutschen mit irgendwelchen Flüssigkeiten beworfen. Ich sagte zu meiner Großmutter: ‚Sind das die Deutschen, die uns kein Essen gegeben haben?´ Sie antwortete: ‚Ja.‘ Ich sagte: ‚Sie tun mir leid.‘ (An dieser Stelle zitterte die Stimme von Galina. Sie schien dem Weinen nahe.) Das Volk war verärgert, aber die Soldaten hatten ja keine Schuld. Man schickte sie ja in den Krieg. Nun, sie hätten sich ergeben können.“

Eine „wissenschaftlich begründete Methode“

Nach dem Treffen mit Galina Bondarewa las ich das „Blockade-Buch“ des russischen Schriftstellers Daniil Granin und war entsetzt, als ich dort die Wiedergabe eines Gespräches mit dem Nazi-Ernährungswissenschaftler Wilhelm Ziegelmayer fand. Dieser war von der Nazi-Führung beauftragt worden, den Lebensmittelbedarf in den okkupierten Gebieten zu berechnen. Ziegelmayer sagte im Gespräch mit Granin, er sei überrascht gewesen, dass die Menschen in Leningrad so lange durchhielten und „nur“ eine Million Menschen starben. Dabei habe er doch ausgerechnet, dass die Menschen in Leningrad nicht lange durchhalten würden und es deshalb keinen Sinn mache, für die Eroberung der Stadt das Leben deutscher Soldaten zu riskieren. Leningrad könne durch eine „wissenschaftlich begründete Methode vernichtet werden“, schrieb Ziegelmayer am 10. September 1941 in sein Tagebuch, da sicher sei, „dass Menschen mit einer solchen Ration nicht leben können“.[1]

2014 sprach Daniil Granin noch zur Blockade im Bundestag

Am 27. Januar 2014 hielt der russische Schriftsteller Daniil Granin eine Rede zum Blockade-Alltag im Bundestag. Das scheint wie aus einer vergangenen, sehr fernen Zeit. Dabei war es erst vor zehn Jahren.

Heute lässt man Russen in Deutschland bei offiziellen Gedenkveranstaltungen nicht mehr ans Mikrophon. Sie könnten ja etwas „Falsches“ sagen. „Wir sind schließlich im Krieg gegen Russland“, sagte eine bekannte deutsche Trampolinspringerin. Und damit ist alles erklärt.

Den 80. Jahrestag der Befreiung von Leningrad überging das offizielle Deutschland kaltherzig. Am 27. Januar 2024 gedachte Deutschland zwar offiziell dem 79. Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz, doch dass es Sowjettruppen waren, die das KZ befreiten, verschwieg man.

Kolonialer Völkermord nur in Afrika?

Offenbar weil deutsche Politiker versuchen, jegliche historische Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland vom Tisch zu wischen, versuchte die russische Regierung, den Tod von einer Million Menschen in Leningrad mit einem Paukenschlag in Erinnerung zu rufen. Im März 2024 schickte das russische Außenministerium eine diplomatische Note an das deutsche Außenministerium, in der es heißt:

„Während Deutschland seine Verbrechen aus der Kolonialzeit als Völkermord anerkennt, hat es bisher versäumt, die Belagerung von Leningrad und andere Verbrechen gegen die Völker der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls anzuerkennen. Russland besteht darauf, dass Deutschland diese Gräueltaten des Dritten Reiches offiziell als Völkermord anerkennt.“

Bereits im Oktober 2022 hatte das Stadtgericht von St. Petersburg die Blockade der Stadt in einem Urteil als „Kriegsverbrechen und Genozid am sowjetischen Volk“ bezeichnet. Die St. Petersburger Staatsanwaltschaft dokumentierte, dass nicht weniger als 1.093.842 Einwohner der Stadt während der Blockade umkamen. Den Schaden für den Tod dieser Menschen berechnete die Staatsanwaltschaft auf umgerechnet 329 Milliarden Euro.

Deutschland entschädigt nur „doppelt Repressierte“

Deutschland entschädigte bisher nur jüdische Blockade-Opfer. Diese Art der „Wiedergutmachung“ weist Russland zurück. Das russische Außenministerium sprach von „ethnischer Diskriminierung“ und erklärte, Opfer aller Nationalitäten müssten entschädigt werden.

Wie begründete die Bundesregierung die unterschiedliche Behandlung der Blockade-Opfer? Die Nachrichtenagentur DPA fasste den Sachverhalt im März 2024 wie folgt zusammen:

„Deutschland begründet die unterschiedliche Behandlung damit, dass die sowjetischen Juden wegen der nationalsozialistischen Rassenpolitik einem besonderen Verfolgungsdruck ausgesetzt waren. Die Entschädigung anderer Opfer sei mit den Kriegsreparationen abgegolten, die aus Deutschland nach 1945 geleistet worden seien.“

Der politischen Führung in Deutschland ist es zuwider, Verantwortung zu übernehmen. Das war bei der Gründung der Bundesrepublik so, und das ist heute so. Immer findet man einen Grund, um an Russen keine Entschädigung zu zahlen. Ja, die DDR hat bis 1953 Reparationen an die Sowjetunion geleistet. Westdeutschland hat aber keinerlei Reparationen an die schwer zerstörte Sowjetunion geleistet. Insofern ist die Position Russlands, dass Deutschland nun wenigstens alle Blockade-Opfer entschädigt, nicht weit hergeholt.

Wurde das Krankenhaus wie versprochen von Deutschland renoviert?

Gegenüber den Blockade-Opfern in St. Petersburg versucht die Bundesregierung, sich mit Brosamen aus der Verantwortung zu stehlen. Am 27. Januar 2024, dem Jahrestag der Befreiung von Leningrad, teilte das deutsche Außenministerium mit:

„Als Geste der Versöhnung und des Erinnerns fördert die Bundesregierung zum einen die Modernisierung eines Krankenhauses in St. Petersburg. In diesem Krankenhaus werden zahlreiche noch lebende Blockadeopfer behandelt. Zum anderen fördert die Bundesregierung in St. Petersburg Begegnungen mit Blockadeopfern. Dabei sollen junge Menschen mit den Überlebenden in den Austausch kommen, die Erinnerung an die Blockade soll gestärkt und weitergegeben werden.“

Das hört sich erstmal gut. Allerdings wurden nach meinen Recherchen von Deutschland im Rahmen einer „Humanitären Geste“ bisher nicht mehr als die Hälfte der 2019 vom ehemaligen Außenminister Heiko Maas angekündigten[2] 12 Millionen Euro für die Beschaffung von modernen medizinischen Geräten für ein Krankenhaus in St. Petersburg ausgegeben. Müssen die Blockade-Überlebenden in der Newa-Stadt womöglich für den „Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine“ büßen oder was ist der Grund, dass das Hilfsprojekt stockt?

Die extrem vagen Formulierungen in der Erklärung des deutschen Außenministeriums vom 27. Januar machten mich stutzig und ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich wollte herausbekommen, wie viele Jugendliche seit 2019 aus Deutschland mit Hilfe der Bundesregierung nach St. Petersburg gereist sind, um dort Blockade-Überlebende zu treffen. Doch bei deutschen Stellen biss ich auf Granit. Niemand wollte mir Rede und Antwort stehen. Offenbar gab es etwas zu verbergen.

Als ich unter der offiziellen Telefonnummer der „Humanitären Geste“ in St. Petersburg anrief, erklärte mir eine Mitarbeiterin, „es werden keine Anmeldungen mehr angenommen“. Mehr wollte die Mitarbeiterin nicht sagen.

Die deutsche „Humanitäre Geste“ hat zwar eine Website (Blog) in deutscher Sprache mit Adresse und Telefonnummer in St. Petersburg. Aber man findet dort keine Angaben, wie viele Jugendliche seit 2019 von Deutschland nach Russland gereist sind, um Blockade-Überlebende zu treffen, und ob solche Reisen von Deutschland finanziert wurden.

In der Erklärung des Außenministeriums vom 27. Januar heißt es, „junge Menschen“ sollen in St. Petersburg mit Blockade-Überlebenden „in den Austausch kommen“.

Aber was kann man sich unter „junge Menschen“ vorstellen? Deutsche Staatsbürger, die aus Deutschland anreisen, deutsche Staatsbürger, die in St. Petersburg leben, oder junge Russen? Vermutlich hat das deutsche Außenministerium die billigste aller möglichen Varianten gewählt und zu den Begegnungen mit Blockade-Überlebenden Deutschrussen mit russischem Pass und in St. Petersburg lebende Deutsche eingeladen.

Rundgang zum Thema Blockade in St. Petersburg

Nach diesem Exkurs über die Winkelzüge der deutschen Diplomatie möchte ich diesen Bericht mit ein paar persönlichen, positiven Eindrücken aus St. Petersburg schließen.

St. Petersburg hatte ich im September zusammen mit Freunden aus Deutschland besucht. Gemeinsam nahmen wir an verschiedenen Besichtigungstouren teil. Wir buchten auch eine Tour, auf der uns die Touristenführerin Jelena verschiedene Gebäude und Plätze zeigte, die mit der Blockade zu tun haben. Jelena, die auch beim russischen Fernsehkanal Mir arbeitet, schaffte es, uns ein hautnahes Bild von den Lebensbedingungen während der Blockade zu vermitteln.

Unser erster Halt war das Aleksandrische Theater, welches während der Blockade im Betrieb und mit seinen musikalischen Komödien ein Ort der Freude blieb. Weiter ging es zum „Haus des Radios“, von wo aus während der Belagerung die Radiosendungen über die in den Wohnungen installierten Lautsprecher übertragen wurden.

In der Nähe des Newski-Prospektes sahen wir kleine Denkmäler für Katzen, welche nach der Blockade die Rattenplage eindämmten. Man hatte Tausende Katzen aus anderen Gebieten Russlands nach St. Petersburg gebracht.

Nicht weit von der Isaak-Kathedrale standen wir vor dem Depot für strategisch wichtige Samen. Unsere Führerin erzählte von einem Professor, der während der Blockade an seinem Arbeitsplatz am Mikroskop starb, ein Samenkorn in der Hand. Dieser Mann wurde berühmt, denn er hielt sich an die Ordnung und aß das Samenkorn nicht.

Wie sagte doch Florence Gaub, heute Forschungsdirektorin der NATO-Militärakademie in Rom, in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ vom 12. April 2022: „Ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind – im kulturellen Sinne.“

Meine Meinung: Gegen Dummheit und Rassismus helfen nur allseitige Information und Bildung.

Titelbild: © Ulrich Heyden


[«1] Götz Aly/Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Fischer, Frankfurt am Main 2013, S. 358.

[«2] Mitteilung des Gouverneurs von St. Petersburg Aleksandr Beglow

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