Wohlhabende leben unbeschwert, Arme werden ärmer und die Mitte hat Angst vorm sozialen Abstieg. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung liefert die Zustandsbeschreibung einer materiell und mental auseinanderdriftenden Gesellschaft. Wer noch genug zum Leben hat, ist mit dem System halbwegs d‘accord, während sich Zukurzgekommene vermehrt von der Demokratie abwenden und nach unten treten. Den Mächtigen spielt das in die Karten, und die Regierenden spielen mit – solange man sie lässt. Von Ralf Wurzbacher.
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Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) war der Vorgang sogar einen Kommentar wert. „Wenn das kein Weckruf für die Politik ist: Die Armut wächst in Deutschland“, murrte der Schreiber des SPD-nahen Medienverbunds am Montagnachmittag in den Äther. Gerade hatte die Kunde einer neuen Studie aus dem Hause der Hans-Böckler-Stiftung die Runde gemacht. Darin findet sich allerhand Betrübliches über Deutschland rapportiert, aber mitnichten etwas Neues. Immer mehr Menschen sind sozial abgehängt, haben zu wenig zum Leben, ernähren sich bei den Tafeln, können sich keine Wohnung mehr leisten, bei nicht wenigen reicht das Geld nicht einmal mehr für ein paar Schuhe. Und: Die Abstiegsängste reichen inzwischen bis hoch in die obere Mittelschicht hinein. Fast die Hälfte ihrer Angehörigen plagt die Sorge, den erreichten Lebensstandard nicht halten zu können.
Höchste Zeit also für ein politisches Erwachen, sollte man meinen. Aber da oben regt sich nichts, nicht bei den Regierenden, den Wirtschaftsführern und beim Rest der gesellschaftlichen Eliten. Heute nicht, gestern nicht und all die Jahre davor nicht. Im Gegenteil: Sie machen einfach munter weiter beim großen Umverteilen und strafen die zahllosen Zeugnisse ihres Versagens – für sie in Wahrheit Erfolgsmeldungen – mit Nichtbeachtung. Ist etwas gewesen?
Wobei: Die Bundestagswahl rückt näher, und in deren zeitlichem Vorfeld befallen die Parteien gerne Anwandlungen von Mitgefühl, Verständnis und Herz für die einfachen Leute, gerade die Sozialdemokratie. Dort palavert man seit ein paar Wochen über eine höhere Besteuerung von Reichen, eine gerechtere Erbschaftssteuer, eine Lockerung der Schuldenbremse, ja sogar die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer wird beschworen. Alles toll und super durchdacht, aber nach dem Urnengang halt irgendwie nicht machbar – wegen der ganzen Krisen und Kriege in der Welt, der klammen Kassen und der Koalitionsräson. Stattdessen wird man spätestens in einem Jahr, eher schon früher, erleben: mehr Freiheit für’s Kapital, mehr Lohndruck, mehr Arbeitslose – mehr Elend.
Neoliberaler Plan
Dabei gibt es das längst im Überfluss, und streng genommen bildet der „Verteilungsbericht 2024“ des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) gar nicht das ganze Desaster ab. Der Report zeichnet unter dem Titel „Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte“ die Einkommensentwicklung zwischen 2010 und 2021 nach. Die massive Teuerungs- und Verarmungswelle im Zeichen der „Zeitenwende“ mit Energiepreisschock und Rekordinflation haben die Forscher gar nicht berücksichtigt, weil die Daten des zugrundeliegenden Sozioökonomischen Panels (SOEP) das nicht hergeben. So gesehen werden die Ampel-Parteien als wenigstens Mitverantwortliche der Misere noch geschont.
Von Verdienst ist die Untersuchung dennoch, weil sie mit der Erzählung aufräumt, Armut und wachsende Ungleichheit wären irgendwie jeweils singulären historischen Ereignissen geschuldet, also etwa der Weltfinanzkrise, der EU-Staatsschuldenkrise oder der Corona-Krise. Ja, diese Einschnitte haben die Verwerfungen verschärft und beschleunigt, aber waren doch nur Ausschläge einer seit Jahrzehnten wirksamen Tendenz, bei der sukzessive zunehmende Bevölkerungsteile systematisch von der Wohlstandsvermehrung ausgeschlossen werden.
Rot-grüne Grausamkeiten
Hierzulande nahm die Deklassierung insbesondere in und nach den Regierungsjahren unter Gerhard Schröder (SPD) Fahrt auf: mit der rot-grünen Unternehmenssteuerreform, den Hartz-Reformen und der Teilprivatisierung der Rente. Die „Agenda 2010“ öffnete die Tür zu bis dahin unbekannten sozialen Grausamkeiten, gerade mit Blick auf die Drangsalierung von Langzeitarbeitslosen. Aber auch dieser Umbruch war bloß Teil der schon in den 1970er-Jahren losgetretenen neoliberalen Wende, die bis heute ungebremst anhält und eines bestimmt nicht ist: ein Zufallsprodukt.
Eine wichtige Kennziffer der Entwicklung ist der sogenannte Gini-Koeffizient als statistisches Maß für Ungleichheit. Dessen Bandbreite reicht vom Wert „null“, der totale Gleichheit bedeuten würde, bis zum Wert „eins“, bei dem alle Einkommen eines Landes auf eine Person konzentriert wären. Laut WSI machte der Gini-Faktor schon in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren einen satten Sprung, verharrte dann länger auf erhöhtem Niveau, um dann wieder mit mehr Dynamik zuzulegen. 2010 lag der Gini-Wert noch bei 0,282. Bis 2021 kletterte er auf 0,310, einen „neuen Höchststand“, wie die beiden federführenden Wissenschaftler Dorothee Spannagel und Jan Brülle in einer Medienmitteilung festhalten.
Griffiger sind ihre Zahlen zur gewachsenen Einkommensarmut. Die Quote der Personen, die in einem Haushalt mit einem Nettoeinkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) leben, ist in Deutschland demnach in elf Jahren von 14,2 Prozent auf 17,8 Prozent gestiegen. Für einen Single bedeutete das, weniger als 1.350 Euro monatlich zur Verfügung zu haben. 11,3 Prozent waren gar von „strenger Armut“ betroffen, sie verfügten im Mittel über höchstens 1.120 Euro, was 2021 Nettobezügen von weniger als 50 Prozent des allgemeinen Durchschnittseinkommens entsprach. Elf Jahre davor waren es „nur“ 7,8 Prozent.
Kleidung unerschwinglich
Innerhalb eines Jahrzehnts hat das Auskommen der in Armut Lebenden lediglich um zehn Prozent zugelegt, während das der höheren Schichten um 19 Prozent aufwuchs. In großer Zahl geht es dabei um Menschen, die entweder komplett oder in Teilen von Sozialtransfers abhängen, weil ihr Job zu wenig Geld abwirft. Offensichtlich wurden die Hartz-IV-Leistungen (heute Bürgergeld) immer weiter von den tatsächlichen Bedarfen und der allgemeinen Lohn- und Preisentwicklung abgekoppelt. Besonders betroffen sind nach wie vor Frauen, Kinder, junge Erwachsene und Ostdeutsche. Noch härter ist das Los von Erwerbslosen, Menschen mit Migrationshintergrund und fehlendem Schul- und Berufsabschluss.
Wie die Betroffenen ihr Dasein fristen, geht aus einer gesonderten Lebenslagenbefragung hervor, die die Sozialforscher zwischen 2020 und 2023 durchführten. 42,8 Prozent der Armen und 21,3 Prozent der in der Skala darüber verorteten „prekären Einkommensgruppe“ (weniger als 1.800 Euro für einen Singlehaushalt) haben keinerlei finanzielle Rücklagen, um kurzfristige Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent waren nicht einmal in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen. Bei 17 Prozent der Armen reicht das Geld nicht, um Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch oder den einer Sportveranstaltung zu finanzieren, knapp 14 Prozent können ihre Freunde nicht zum Essen einladen, zumal mit der Not auch der Bekanntenkreis schwindet. Je geringer das Einkommen ist, desto einsamer geraten die Leidtragenden, desto öfter machen ihnen gesundheitliche Sorgen zu schaffen. Andere Statistiken belegen, dass sie häufiger und schwerer erkranken und früher versterben.
Mitte mit Muffensausen
„Deutschland steckt in einer Teilhabekrise, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Diese Krise hat eine materielle Seite und eine stärker emotional-subjektive“, warnte Studienautorin Spannagel und weiter: „Die Gruppe der Armen ist nicht nur seit 2010 größer geworden, sie ist zudem im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden.“ Zugleich griffen verstärkt Zukunfts- und Abstiegsängste um sich. 55 Prozent der Armen und über 58 Prozent derjenigen mit prekärem Einkommen haben der Studie zufolge Sorge, sozial noch tiefer abzustürzen. Vor vier Jahren lagen die Werte bei 48,8 Prozent beziehungsweise 44,1 Prozent. Auch in den „höheren“ Kreisen der Gesellschaft herrscht vermehrt Muffensausen. Im Vorjahr hatten nahezu 47 Prozent der Befragten der oberen Mittelschicht Befürchtungen, Abstriche von ihrem Status hinnehmen zu müssen.
Was die Studie nicht offenbart, ist die krasse Verschiebung der Reichtümer an die „Spitze“ der Gesellschaft. Zwar ist die Quote derer mit höchstem Einkommen zwischen 2010 und 2021 den Befunden zufolge von 1,9 Prozent auf 2,3 Prozent gestiegen. Nicht betrachtet werden jedoch Vermögen und Gewinneinkünfte aller Art, also die vornehmlich leistungslosen Profite aus Finanzgeschäften, die gerade in den großen Krisen unserer Zeit in astronomische Höhen schnellten. Preist man diese in die Rechnung ein, stellen sich die Unwuchten bei der Verteilung des Wohlstands noch viel eklatanter dar.
Stimmungsmache gegen Schwache
Wann wird das ein Ende haben? WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch ist wenig hoffnungsfroh. „Die Machtverhältnisse sehen momentan eher so aus, dass sie zu einer Verstärkung von Ungleichheit führen“, bemerkte sie am Montag vor Pressevertretern in Berlin. Während progressive Kräfte der Entwicklung derzeit wenig entgegenzusetzen hätten, könne man „konstatieren, dass Oben-Unten-Konflikte erfolgreich in Innen-Außen-Konflikte umgedeutet wurden“. Gleichwohl baue sie darauf, „dass da stärker ein Konsens unter demokratischen Kräften in der Gesellschaft entsteht“.
Danach sieht es nicht aus. Vielmehr trägt die deutsche Politik mehr denn je dazu bei, die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen und die Ressentiments gegen die Schwächsten der Gesellschaft noch zu befeuern. Die Revitalisierung des Hartz-IV-Sanktionsregimes unter dem Namen Bürgergeld, die verbalen Übergriffe gegen sogenannte Faulenzer und Sozialbetrüger, der kommende Nachschlag in puncto Deregulierung und Entbürokratisierung, dazu die faktische Absage der Kindergrundsicherung – all das sind Schritte, die die Verarmung breiter Gesellschaftsschichten forcieren und das gesellschaftliche und soziale Klima weiter vergiften werden. Gegen unten zu treten, wird künftig noch gesellschaftsfähiger.
Rechtsruck keine Überraschung
Das alles ist freilich ein Spiel mit dem Feuer. Der Verteilungsbericht beleuchtet sehr klar, wie mit sozialen Nöten und Abstiegsängsten das Vertrauen ins politische System schwindet. Danach sind lediglich noch 52 Prozent der unteren Mitte mit der Demokratie im Wesentlichen zufrieden, wobei in der oberen Mitte die Zustimmung mit knapp 60 Prozent auch rückläufig ist. Unter den Armen und den Menschen mit prekärem Einkommen sind weniger als 50 Prozent einverstanden, und mehr als ein Drittel von ihnen stimmen der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk.“ Die WSI-Forscher sehen hier einen „problematischen Kreislauf“ und starke Bewegungskräfte pro „rechtspopulistischer Einstellungen und die Unterstützung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien“. Die Regierenden sehen das auch, tun aber so, als wären sie daran kein bisschen schuld.
Eine verantwortungsvolle Politik müsse „auf jeden Fall darauf verzichten, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen“. Statt die ohnehin zu knappen Leistungen für Bürgergeldempfänger weiter zu kürzen, um den Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen zu erhöhen, sei es „viel sinnvoller, Niedriglöhne wirksam zu bekämpfen und Tarifbindung zu stärken“. Außerdem braucht es laut WSI eine auskömmliche gesetzliche Rente, eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur, funktionierende Verkehrswege und Energienetze sowie ein gut ausgestattetes Bildungs- und Gesundheitssystem, also nichts weiter als die Stärkung „über Jahrzehnte bewährter Institutionen“.
So einfach geht das. Aber wen dafür wählen?
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