160.000 weitere Soldaten will das ukrainische Militär einziehen. Brutale Zwangsrekrutierungen auf der Straße sind zu beobachten. Und die NATO spricht von über 600.000 getöteten russischen Soldaten. Unabhängig davon, ob diese Zahl stimmt oder propagandistisch kontaminiert ist: eine Wertegemeinschaft, die es nicht fertigbringt, innerhalb von drei Jahren in diesem Krieg mit den Mitteln der Diplomatie einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung herbeizuführen, hat jeden Anspruch auf moralische Überlegenheit verloren. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
Die gerade durch die Medien gehenden Zahlen sind ungeheuerlich. Nun will Selenskyj noch mehr Soldaten mobilisieren. Von 160.000 ist die Rede. 160.000 Bürger, die an die Front geschickt werden sollen. 160.000 Menschen, die in die Fleischwölfe des Krieges geschmissen werden. Das hat mit Vernunft und „Freiheitskampf“ nichts mehr zu tun. Die Lösung zur Beendigung dieses Krieges liegt nicht auf dem Schlachtfeld. Diesen Krieg müssen Politiker politisch schnellstmöglich zu einem Ende führen. Doch 160.000 weitere Soldaten, die das Schlachtfeld betreten sollen, lassen erahnen, dass das Gemetzel und das Abschlachten weitergehen und die Anzahl der Toten, Verwundeten und Verstümmelten weiter steigen wird.
Wer sieht, wie sich die sogenannte „westliche Wertegemeinschaft“ in diesem Krieg aufführt, hat den Eindruck, in eine römische Kampfarena zu blicken. Es ist, als würde von der Herrschaftstribüne eine Waffe nach unten gereicht, um das Spektakel des Kampfes noch etwas länger bestaunen und genießen zu können. Abgesehen davon, dass die vorgeblich moralisch überlegene Politik des Westens im Vorfeld des Krieges auf ganzer diplomatischer Ebene „versagt“ hat: Auch nach Ausbruch des Krieges bis heute sind die Forderungen nach einem raschen Frieden erstaunlich leise. Stattdessen ist die Rede von „Lumpen- und Unterwerfungspazifismus“, flankiert von Waffen, Panzern und Raketen. Das Ergebnis nach drei Jahren ist ein unfassbares, schier endloses Kriegsgrauen.
„Mehr als 600.000 russische Soldaten wurden in Putins Krieg getötet oder verwundet, und er ist nicht in der Lage, seinen Angriff auf die Ukraine ohne ausländische Unterstützung aufrechtzuerhalten.“ Das sind die Worte von NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Focus merkt an, dass sich die „von der Nato genannte Opferzahl (…) damit innerhalb von rund einem Jahr verdoppelt“ hat. „Wie viele der russischen Opfer nach Einschätzung der Nato Tote sind, sagte Rutte nicht.“ Es ist an dieser Stelle gar nicht so wichtig, ob diese Zahl stimmt oder propagandistisch kontaminiert ist. Natürlich ist bei Kriegen davon auszugehen, dass jede Seite die Verluste das Gegenübers versucht größer darzustellen, als sie sind; genauso wie jede Seite jeweils versucht, die eigenen Verluste kleiner zu rechnen. Doch selbst wenn man annähme, dass diese Zahl um 50 oder 70 Prozent zu hoch wäre, selbst dann würden wir immer noch von Opferzahlen im sechsstelligen Bereich sprechen. Hinzu kommt dann noch die Zahl der getöteten, verwundeten und verstümmelten ukrainischen Soldaten. Wir reden, egal wie es gedreht wird, von Hunderttausenden, die auf das Konto einer Politik des Krieges gehen.
Wie kann ein friedliches Europa solch eine Vernichtung vor der eigenen Haustür zulassen, oder genauer: unterstützen? Denn, wie nun nach drei Jahren wirklich nicht mehr geleugnet werden kann: Die militärische „Hilfe“ ist in Anbetracht der enormen menschlichen Schäden keine „Hilfe“. Ein Politiker, der das anders sieht, sollte das Feld der Politik verlassen. Längst kommt auch in deutschen Mainstreammedien an, was seit längerem immer wieder im Netz zu sehen ist: Videos, die zeigen, was mit ukrainischen Männern passiert, die sich dem Dienst an der Waffe widersetzen. Auch wenn diese Videos oft schwer zu verifizieren sind, gegebenenfalls auch eine gewisse Anzahl an gefälschten Videos in Betracht gezogen werden kann: Von Anfang an sprachen die Gesamtumstände dafür, dass auf den Straßen eines Landes, das vorgeblich für unsere Werte einsteht und das „wir“, die „Guten“ unterstützen, Bürger auf der Straße zwangsrekrutiert und regelrecht verschleppt werden – aus den Händen der eigenen Familien und Freunden.
Gerade zeigte ein Reporter der Welt in einem Beitrag entsprechende Videos und merkte an, dass er zunächst davon ausgegangen sei, es würde sich um russische Propaganda handeln. Mittlerweile sei er aber in der Ukraine und es habe sich herausgestellt, dass es sich nicht um russische Propaganda handelt. „Nach solchen Leuten suchen eben die Beamte auf der Straße, in Restaurants, in Fitnessclubs, auf Konzerten. Da werden regelrechte Razzien veranstaltet, um dieser Männer, die nicht dienen wollen, habhaft zu werden. Und mitunter eben dann mit brutalen Methoden, wie diese Videos auch zeigen, dass die gesuchten dann regelrecht in die Minibusse der Behörde reingestopft werden. Und dann wird eben kontrolliert, ob sie dienen müssen. Und wenn sie dienen müssen, dann geht es sofort in ein Ausbildungslager und dann auch an die Front.“
Menschenrechte? Empathie? Wertebasierte Außenpolitik? Das angeblich so vereinte, friedliche politische Europa hätte schon in aller Deutlichkeit seine Stimme erheben müssen, als zu Beginn des Krieges bekannt wurde, dass Männern im wehrfähigen Alter in der Ukraine die Ausreise untersagt wird. Die Verpflichtung zum Kampf, zum Krieg, zum Töten und sich töten lassen: Das unterstützt also die friedliche, den Menschenrechten sich verpflichtend fühlende Politik Europas?
In der „liberalen“ Zeit ist im Sommer ein Beitrag über die, wie die Redaktion es nennt, „Mobilisierung“ in der Ukraine erschienen. Im Vorspann heißt es: „Die Ukraine braucht neue Soldaten und rekrutiert sie auch auf offener Straße. Unter Männern wächst deshalb die Angst. Die meisten wollen sich dennoch nicht verstecken.“ Steht hier tatsächlich „rekrutiert“? Wie lässt sich in Anbetracht dessen, was Menschen, die nicht bereit sind, in den Krieg zu ziehen, erleiden müssen, das Verhalten weiter Teile der Medien und der Politik bezeichnen? Ich betrachte das als Verrat an der Menschlichkeit.
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