Wenn von der einstigen DDR die Rede ist, und gerade ist dank des bemerkenswerten Jubiläums 35. Jahrestag des Mauerfalls wieder des Öfteren die Rede von diesem verschwundenen Land, dann vermisse ich mitunter Erzählungen, die eine bestimmte Phase dieser historischen Tage, Wochen und Monate 1989/1990 zum Inhalt haben. Es war die Phase eines einzigartigen gesellschaftlichen Frühlings, der den östlichen Teil unseres seit 1990 vereinten Landes durch viele ihrer Bürger einnahm, die die bleierne Zeit der Stagnation, der Abschottung, der Isolation und der Sturheit und Arroganz der politischen Elite überwinden wollten. Das vielfältige Engagement der Menschen, die im Herbst 1989 lautstark mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ auftraten, hatte viele wichtige und beeindruckende Daten. Ein Datum davon war der 4. November, an dem in Berlin die größte Demonstration der jüngeren deutschen Geschichte stattfand. Tage später sollten sich die Grenzen öffnen. Ein Beitrag von Frank Blenz.
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Der 4. November – der Tag einer grandiosen Demonstration
Der 4. November 1989 war ein Samstag. Ich erinnere mich daran so genau, weil ich damals als Soldat meinen Grundwehrdienst bei der Armee ableistete, und der Samstag bis 12 Uhr immer der Tag der großen Stuben- und Revierreinigung der Kompanien war. Das Saubermachen geriet aber zur Nebensache, weil im Fernsehraum, ein einigermaßen großes Zimmer, in dem etwa 30 Stühle standen, das Fernsehgerät lief und zu unserer Überraschung eine Originalübertragung (heute sagt man Live-Schalte) aus Berlin über den Sender DDR 1 lief: Was wir sahen, war die bisher größte Demonstration des Landes.
Kein Stuhl blieb unbesetzt, Saubermachen hin, Revierreinigen her, weitere Kameraden und selbst vorgesetzte Unteroffiziere und der Spieß standen an die Wände gelehnt oder im Türpfosten, um mindestens den vielen erstaunlichen Reden zu lauschen. Der Tonfall, die Formulierungen, die Ansagen der Menschen auf dem Podium erzeugten immer wieder Raunen, Beifall, zustimmende Kommentare. Genau so ist es. Ja, so und nicht anders. Weg mit den Bonzen. Noch heute bin ich beeindruckt davon, wie wir einfachen Soldaten, meine Kameraden um mich herum, so viel Sitzfleisch, Stehvermögen und Aufmerksamkeit aufbrachten, die stundenlange TV-Übertragung zu verfolgen. Es muss wohl an der besonderen Atmosphäre dieser Demo gelegen haben. Das Gefühl, hier passiert etwas, auf das noch was nachkommen wird, erwies sich alsbald als richtig.
Zur schlichten Information über diese riesige Demonstration in Berlin findet sich auf der Seite der Bundesregierung Folgendes:
4. November 1989 – Auf dem Weg zur Deutschen Einheit
500.000 auf dem Berliner Alexanderplatz
4. November 1989: Auf dem Ostberliner Alexanderplatz versammeln sich 500.000 Menschen zur größten systemkritischen Demonstration in der DDR-Geschichte. Die SED versucht zwar, ihre Macht zu verteidigen, doch ohne Erfolg.
Quelle: Bundesregierung
In Berlin die große Demo, in der Kaserne die kleine noch vor dem 4. November
Die Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz stand unter dem Motto, sich für die Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR einzusetzen, also für das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Nebenbei gesagt, nahmen sich die Menschen im Land schon seit dem Sommer 1989 zunehmend diese Rechte heraus, zunächst ver- oder mindestens behindert von der „Staatsmacht“, also von Funktionären, vom braven Büro-Gefolge der staatlichen und politischen „Organe“, dann aber mehr und mehr geduldet und/oder sogar gefördert. Und schließlich fanden ab dem 7. Oktober, dem Tag der Republik, mehr und mehr Demonstrationen, Protestkundgebungen und Märsche im ganzen Land statt. Das war wie der Beginn einer eigenen Jahreszeit, in der ein frischer, wohltuender Wind aufzog.
Wir Soldaten hatten am 4. November jedenfalls anderes zu tun, als den langen Flur der Kompanie-Baracke zu bohnern, die Mannschaftsräume sauberer als sauber zu wienern und uns vielleicht noch von einem Vorgesetzten anraunzen zu lassen, indem er aus Lust und Laune rumschrie: Was ist das für ein Saustall? Und tatsächlich, die Chefs sagten schon länger keinen Ton, sie lauschten vielmehr mit.
Ich fand die Rede von Schauspieler Ulrich Mühe wundervoll, der aus einem Buch von Janka vorlas. Als die Schauspielerin Spira ans Mikrofon trat und sicher vollends beeindruckt war vom Anblick der atemberaubenden Menschenmenge vor sich, dachte ich kurz, ob sie ihre Sätze herausbekommen wird? Sie brachte es. Die alte Dame sprach mit fester, beinahe schon schneidiger Stimme, als würde sie einen Brecht-Monolog aufsagen: „Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde, und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen.“ Bei Fahnenappell, Staatsbürgerkunde, Fackeln und hohen Leuten jubelten meine Kompanie und ich. Und sogar der wenig beliebte Spieß klatschte Beifall.
In Berlin erlebten mindestens 500.000 Menschen vor Ort ein einzigartiges Zusammentreffen, bei dem nicht nur die Reden einmalig waren, auch der Part der Teilnehmer war einmalig: zahlreiche Plakate, Transparente, auf Pappen geschriebene Losungen, die voller Direktheit und auch humorvoll waren, sahen wir in unserer Kaserne auf dem Bildschirm. Die Kameraleute schwenkten ihre Apparate nicht vorbei, sie hielten drauf: „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“. Das Plakat war ein lautes Lachen wert.
„Ach, der Egon Krenz, das ist doch nur ein Wendehals.“ So lautete die durchgängige Meinung in der Truppe. Der war als Kronprinz dem vorherigen Chef Erich Honecker lediglich gefolgt und tat mit einem Mal so, als führte er die Demokratie ein. In meiner Kaserne schüttelten selbst die höheren Militärs den Kopf. Mein Spieß, also der Innendienstchef der Kompanie, war noch bis Mitte Oktober 1989 ein ganz strammer Verfechter, ein Schleifer, ein Machtmissbraucher, der Soldaten schikanierte, über Urlaubsscheine herrschte und missliebige Gefreite schon mal zur doppelten Wache vergatterte. Dieser Hardliner, pardon für die englische Ausdrucksweise, war schließlich der Erste im ganzen Regiment, der mit Beginn der Wende in seinem Dienstzimmer aufräumte: Alles, was an SED erinnerte, kam weg. Das große Foto von Honecker landete im Müll.
Auch der Tonfall und der Umgang innerhalb der Kompanie, unter den Soldaten, im Dialog mit den Vorgesetzten änderte sich im Herbst. Statt eher preußisch fühlte sich Soldat-Sein jetzt zunehmend wie „mündige Bürger in Uniform“ an. Das geschah nicht in Selbstläuferschaft. Wir gründeten für das Regiment einen Soldatenrat, eine echte Stimme gegen die Befehlskettenlogik. Es gelang binnen weniger Wochen, den Alltag der Wehrpflichtigen zu erleichtern, die Dienstzeiten zu ändern, die Urlaubspraxis, den Ausgang in Zivilkleidung. Und mit „Genosse“ wurden wir nicht mehr angesprochen, es hieß nun „Herr Soldat“.
Ich war als Jungsoldat in dieser intensiven Zeit auch schreibend tätig, als Wandzeitungsredakteur meiner Kompanie verfasste ich seit Frühjahr 1989 zwei Mal wöchentlich vielfältige Ausgaben, die an ein großes Brett im Flur gepinnt wurden. Zunächst formulierte ich meine Worte vorsichtig oder so, dass meine Kameraden aufgefordert waren, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch schon in dieser Phase kamen neben Themen wie Musiktipps, Veranstaltungshinweisen, Soldaten-Anekdoten und Verlautbarungen der Regimentsführung auch solche wie das Verbot von Sputnik, Gorbatschows Perestroika und die aufkommende Fluchtwelle im Sommer zur Sprache. Gegen den Widerstand des Spießes und des Kompaniechefs, gefordert und unterstützt von den Kameraden. Ich wusste behutsam und argumentativ zu formulieren. Ich nahm dazu die Vorgesetzten ins Boot, ich zitierte sie selbst, was sie zum Beispiel vor der Truppe oder im Polit-Unterricht gesagt hatten. Keiner konnte mir unterstellen, ich sei kein guter Staatsbürger. Im Gegenteil. Offenheit lautete die Devise.
Die Lage im Land wurde nicht besser. Jeder Soldat um mich herum und ich, alle kamen sie aus verschiedenen Regionen der DDR, berichteten von Freunden, Bekannten, gar von Verwandten, die das Land verlassen hatten oder es vorhatten. Doch in Berlin bei Erich und bei Egon und Co. war man weiter fest und stur der Ansicht, keinen Tapetenwechsel vornehmen zu müssen, so wie es der Gorbi von ihnen forderte, so wie es die Menschen im Land, so wie wir Soldaten es wollten. Doch der Widerstand wuchs. Und nach den heftigen Demos, auch denen in meiner Heimatstadt, wichen die Bonzen Schritt für Schritt, wenn auch zäh und uneinsichtig.
Wie sich Dinge wenden können. Eine Wandzeitung von mir Mitte Oktober wurde zunächst vom Spieß verboten. Später erschien sogar der Chef des Militärbezirks, ein Generalmajor, auf unserem Flur. Und der befand meine überaus kritische Wandzeitung vollkommen in Ordnung und richtig. Siehe da – auf einmal fanden auch meine anderen Vorgesetzten diese gut. Ich habe noch die vielsagenden Worte meines Spießes im Ohr: „Frank, es ist ein Wunder, erst wollten wir deine Wandzeitung einstampfen, und wenig später ist sie die beste im ganzen Bezirk.“
Der besondere Kurzurlaub und eine zuversichtliche Rückkehr in die Kaserne am 9. November
Das Wochenende um den 4. November verstrich und ich konnte einen Kurzurlaub antreten. In Zivilkleidung fuhr ich erstmals nach Hause und hatte ein gutes Gefühl. In der DDR wurde der Grundwehrdienst in der NVA „Ehrendienst“ genannt. Oft hatte ich das gegenüber Vorgesetzten kritisiert, weil die offensichtlich systematische Unterdrückung von Soldaten, Gefreiten, Unteroffizieren das Wort Ehre ausschloss. Die in Gang gekommene Wende sorgte mehr und mehr dafür, dass diese Ungerechtigkeiten und Anmaßungen aufhörten.
Viel zu schnell verging der Kurzurlaub, in dem ich – wie alle Mitbürger – eine spektakuläre Geschichte erlebten. Wieder lief der Fernseher. Diesmal zu Hause, kurz bevor ich zum Bahnhof musste. Diesmal wurde eine Pressekonferenz übertragen. Günter Schabowski, Sprecher des Politbüros der regierenden SED, sprach über Reiseerleichterungen für uns DDR-Bürger. Und dann sagte er diese magischen Worte und den Zusatz, dass das mit der Reisefreiheit sofort und unverzüglich gelte. Ich schnappte meine Tasche und ging zum Zug. In die Kaserne. Am 10. November gegen 3 Uhr kam ich an meinem Dienstort an. Am Kasernentor empfing mich ein Kamerad, der mir zurief: „Was willst Du hier, während die Grenze offen ist?“ Ich weiß noch, dass wir uns dann noch länger unterhalten haben. Gemeinsamer Tenor: Keine Angst, das wird nicht zurückgedreht. Jetzt beginnt vielleicht eine bessere Zeit.
Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-437 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA 3.0