Der Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten ist weit mehr als eine historische Erzählung über Befreiung aus der Sklaverei. Diese Geschichte hat sich als bedeutende Metapher in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingegraben, und sie ist aktueller denn je. Die Frage, ob wir uns heute, im 21. Jahrhundert, nicht auch aus einer Art moderner „Sklaverei“ befreien müssen, beschäftigt viele kritische Denker. Burkhard Bujotzek beleuchtet in seinem Artikel die Bedeutung dieser Metapher und hinterfragt das fortbestehende Modell hierarchischer Führung, das seit Jahrtausenden unser Denken und Handeln prägt.
Dass der Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten die Geschichte einer Befreiung aus der Sklaverei erzählt, dürfte auch säkularen Zeitgenossen bekannt sein, die sich eine ausführliche Lektüre des Alten Testaments versagen. Liest man den entsprechenden Text aus Exodus 1.15 allerdings als reinen Historienbericht, der aufgrund manch wundersamer Episode leicht als unglaubwürdig überführt werden könnte, so entgeht einem dessen wahrer Sinn. Wie viele andere Erzählungen aus dem „Buch der Bücher“ ist auch diese biblische Episode letztlich eine Metapher. Ihre Bedeutung liegt, wie der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann nicht müde wird zu vermitteln, vorrangig im übertragenen Sinn.
So verstanden sind wir es, die hier und jetzt aufgerufen sind, dem „Land der Pyramiden“ zu entfliehen. Aber lassen Sie mich etwas ausholen:
Heijo Rieckmann, im Jahre 2008 viel zu früh verstorbener Professor der Betriebswirtschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, vermittelte sein Wissen in zahlreichen Artikeln und Seminaren über „Systemisches Management“ für Führungskräfte. In seiner 1997 erschienenen Aufsatzsammlung „Managen und Führen am Rande des 3. Jahrtausends“ findet sich eine erschütternde Feststellung – nämlich diejenige, dass das „Zeitalter der Pyramiden“ vorbei sei. Überzeugend erläutert er seiner Leserschaft, dass sie auf dem Holzweg sei, wenn sie glaube, es ginge so weiter wie in den letzten 10.000 Jahren. Damals, mit der Sesshaftwerdung der Menschheit, nahm nicht nur die Landwirtschaft ihren Anfang, es war auch die Geburtsstunde des hierarchischen Führungsmodells. Organisationsstrukturen entstanden, die jeweils von einer einzelnen Person „geführt“ wurden. Diese Person war üblicherweise männlich, weshalb der gesellschaftspolitische Evolutionsschritt der Sesshaftwerdung – grob vereinfacht – auch mit dem Beginn des Patriarchats gleichgesetzt wird.
Das neue hierarchische Führungsmodell stellte sich als ungeahnt wirkungsmächtig heraus. Mit den Erfolgen wuchsen die Ziele ebenso wie die Komplexität der aufeinander aufbauenden Organisationsstrukturen. Jeweils von einer Führungskraft geleitete Gruppen wurden gewissermaßen aufeinandergestapelt – und das funktionierte. Der Siegeszug des Römischen Reiches, die Entdeckung Amerikas, die Macht der Katholischen Kirche, die Massenproduktion von Industriegütern – nichts davon wäre vorstellbar gewesen ohne Hierarchien, also Führungspyramiden. „Oben“ an der Spitze wird entschieden, wer wann was wie und warum tun muss, und „unten“ wird es von der breiten Basis ausgeführt.
Es ist wenig erstaunlich, dass eine derartige, jahrtausendealte Erfahrung sich tief in das kollektive Bewusstsein hineingefräst hat. Und doch ist das altbewährte hierarchische Problemlösungsmodell heute am Ende seiner Möglichkeiten angelangt. Für die Anforderungen des dritten Jahrtausends ist es untauglich. Die Autobahn, die uns in den letzten 10.000 Jahren zivilisatorisch so schnell vorangebracht hat, führt uns sozusagen auf den Holzweg: Wir verlieren die Kontrolle, werden durchgerüttelt und drohen aus der Kurve zu fliegen.
Die Ursachen für diese Tatsache sind bekannt, wurden oft beschrieben und brauchen an dieser Stelle nur kurz unter Verweis auf den exponentiellen Zuwachs an Menschen, Wissen und Technologien der letzten Jahrzehnte erwähnt werden. Unser Planet ist klein, fragil und durchsichtig geworden und scheint sich immer schneller zu drehen. Die sich aus dieser Entwicklung ergebenden Dynamiken sind von einer überwältigenden Kraft, sie schaffen Komplexitäten und Konflikte, vor denen eingeübte Verhaltensmuster und Lösungsstrategien versagen.
In diesem Zusammenhang sind auch aktuelle gesellschaftliche Phänomene wie die Zunahme von Politikverdrossenheit, Depressionen, Aggressionen und Vereinsamung zu sehen. Wer diese Phänomene als Krisen begreift, hat ihren Urgrund nicht begriffen: Krisen sind vorübergehend, sie können durch Maßnahmen und Korrekturen durch- und überstanden werden, ohne dass sich etwas Grundsätzliches ändert. Wandlungen hingegen verlangen tiefgreifende Anpassungen.
Wie Heijo Rieckmann gehört auch der Hirnforscher Gerald Hüther zu denjenigen, die die Überwindung hierarchischer Strukturen als Schlüssel für die Lösung der Probleme unserer Zeit beschrieben haben. Und das ist wahrlich kein Wunder, ist doch unser Gehirn ein gigantisches Problemlösungsorgan, das tagtäglich hochkomplexe Anforderungen meistert; aber nur, weil es eben nicht wie eine Pyramide aufgebaut ist, weil es kein Zentralbüro kennt, kein Präsidium und auch keinen CEO, sondern nur dynamische, dezentral weit verteilte, miteinander stark und mehrfach vernetzte, kooperierende Einheiten. Wäre unser Gehirn hierarchisch aufgebaut, würden wir wahrscheinlich schon vor der Käsetheke im Supermarkt scheitern.
Auch die Informationstechnologie beweist uns im Internet tagtäglich die Leistungsfähigkeit von Netzwerktypologien. Jüngstes Beispiel ist der aktuelle Durchbruch im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI). Dieser Quantensprung wurde erst mit der Überwindung hierarchischer Datenbank- und Netzwerkmodelle und deren Ersatz durch relationale und neurale Strukturen möglich. Dass damit ein Tor zu neuen Dimensionen aufgestoßen wurde, ist offensichtlich. Ebenso offensichtlich ist, dass mit der Überwindung von Hierarchien auch ein Richtungsschild hin zu einer neuen Dimension von Demokratie aufleuchten könnte.
In Politik und Bevölkerung scheint sich die Erkenntnis vom Ende der Pyramiden allerdings noch nicht durchgesetzt zu haben. Im Gegenteil! So baut beispielsweise die Art und Weise, wie die grandiose Idee einer Europäischen Union umgesetzt wird, indem diese immer mehr Kompetenzen an sich zieht, der Pyramide eine weitere Etage auf. Dies kann nicht zu einer besseren Welt führen, zeigt jedoch, wie stark der Glaube an Zentralisierung und Führung von oben in uns allen noch immer verankert ist. Der Aufbruch in ein neues Land wird nicht ermöglicht, weder von den Mächtigen noch von ihren „Untertanen“. Stattdessen rufen wir nach vermeintlich starken Persönlichkeiten, die „klare Kante“ zeigen, „mit der Faust auf den Tisch“ hauen können, sagen, „wo es lang geht“. Da erfüllt Herr Scholz nicht die Erwartungen, schon eher ein Boris Pistorius oder Friedrich Merz, für andere gar Kräfte der AfD. Enttäuscht von überforderten Politikern rufen wir nach überforderten Politikern wie Süchtige, die wissen, was ihnen schadet, und dennoch nicht von der Droge lassen können.
Die Wirtschaft ist da schon weiter. Die Überlegungen von Rieckmann, Hüther und anderen Denkern und Analysten haben längst zu weitreichenden Veränderungen in vielen Unternehmen geführt. Sie werden in Debatten, Erprobungen und Umsetzungen von Veränderungsprozessen erkennbar, die mit Begriffen wie „Lean-Management, „flachen Hierarchien“ und „agilen Methoden und Techniken“ assoziiert sind. Große Unternehmen können sich die Inflexibilität starrer Führungspyramiden längst nicht mehr erlauben, wollen sie in einer veränderten Welt bestehen. Komplexe Konzernstrukturen, reduzierte Führungsebenen in den einzelnen Unternehmensteilen sowie die Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen sind die Folge.
Motor solcher Wandlungen ist u. a. die Erkenntnis, dass das Wissen über Problemlösungen in aller Regel im Unternehmen vorhanden ist – aber nicht nur oder auch nur überwiegend in der Unternehmensspitze. Es steckt vielmehr in der formellen wie informellen Unternehmensstruktur, also im eigenen Netzwerk und in der Belegschaft. Dieses verborgene Potenzial kann jedoch nur entdeckt und geborgen werden, wenn Führungskräfte in den Mitarbeitenden nicht die „Untergebenen“ als Ressource, als ausführende Objekte ihrer Anweisungen sehen, sondern ihnen auf Augenhöhe als menschliche Subjekte begegnen. Wer ernsthaft verstanden hat, dass Menschen zur Freisetzung ihrer Fähigkeiten intakte Beziehungen und das Erlebnis der Selbstwirksamkeit brauchen, wird anders nicht mehr handeln können. Und wer ernsthaft verstanden hat, dass es in Netzwerken nicht um Durchsetzungsfähigkeit auf Kosten anderer geht, sondern um Kooperationsfähigkeit, beginnt zu begreifen, wie fehlgeleitet auch das notenbasierte Leistungsprinzip unserer Schulen ist. Unternehmen wie Gesellschaft brauchen weder willenlose Jasager noch ellbogenbewährte Egoisten, sondern gut ausgebildete, empathische Teamplayer.
Der Pharao in der biblischen Geschichte ließ das Volk Israel zunächst nicht ziehen, was Gott mit immer krasseren Plagen beantwortete. Erst vergiftete er die Flüsse, dann brachte er Seuchen über das Land, und am Ende mussten gar alle Erstgeborenen sterben, ehe der Weg zu neuen Ufern möglich wurde. Die Plagen unserer Tage sind Corona, Klimawandel, Flüchtlingsströme, Rassismus, international agierende Bandenkriminalität, Terrorismus sowie die Rückkehr zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit. Jeden Tag geben die für das Wohl ihrer Völker verantwortlichen Mächtigen etwa 5,5 Milliarden Dollar für Rüstungsgüter aus, gut 60 Prozent davon der sogenannte Westen. Und das sei nicht genug, erschallt es aus den Pyramiden. Man braucht nicht viel, nur ein bisschen gesunden Menschenverstand, um zu erkennen: Wir fahren auf einem Narrenschiff, von dem Reinhard Mey schon 1997 sang: „Volle Fahrt voraus und Kurs aufs Riff“. Das sehen übrigens anscheinend auch die wirklich Reichen unserer Zeit so, wie der Medienwissenschaftler Douglas Rushkoff im Deutschlandfunk eindrucksvoll zu berichten weiß. Im am 6. Oktober 2024 gesendeten Essay und Diskurs „Die Angst der Tech-Milliardäre vor ihrem Personal“ heißt es, die Milliardäre der Tech-Konzerne fürchteten sich vor „dem Ereignis“ und meinten, sich in ihren Bunkeranlagen in Alaska und andernorts vor dem erwartbaren Inferno in Sicherheit bringen zu können.
Wie aber kann die Flucht gelingen, welcher Weg führt ins „gelobte Land“ und aus der „Sklaverei“? Welche Fähigkeiten braucht ein Moses unserer Tage? Was genau ist gemeint, wenn eine ganz andere Politik gefordert wird? Einer gab die Antwort bereits vor 55 Jahren, am 28. Oktober 1969, mit der Überschrift seiner ersten Regierungserklärung: Willy Brandt. Sie lautete schlicht und prophetisch: „Mehr Demokratie wagen“. Auch hier hatte er recht, auch hier, wie in seiner Entspannungspolitik, hat ihn insbesondere die SPD verraten, auch hier müssen wir ihn wieder auferstehen lassen. Statt den Bürgern vorzuwerfen, sie wählten falsch und brächten die Demokratie in Gefahr, sollte die politische Elite endlich begreifen, dass ein Urnengang alle paar Jahre aufgeklärten Bürgern nicht mehr genügt. Sie wollen einbezogen werden und mitwirken können. Wohlgemerkt: Es sind Bürger gemeint, nicht finanzstarke Lobbyisten! Um deren Einfluss muss sich nicht gesorgt werden. Aber wir brauchen mehr Beteiligung von Vereinen und Verbänden der Zivilgesellschaft, mehr Bürgerbefragungen, bessere Kommunikation über bereits erlebbare Teilhabe, deren Ausbau und wahrscheinlich auch neue Formate. Statt unter dem Eindruck der Gefahr demokratische Errungenschaften und Freiheitsgrade einzuschränken, gilt es, den Aufbruch zu einer neuen Ebene der Demokratie zu verkünden.
Klar sollte geworden sein, dass das Wissen über das „Wie“ des Wandels längst in unserem Land vorhanden ist. Nicht auf den Regierungsbänken von Bund und Ländern, nicht in den Ministerien, wohl aber im Netzwerk von etwa 82 Millionen Netzwerkknoten, Bürger genannt, und deren Beziehungsgeflecht. Das ist ein gewaltiges Gestaltungspotenzial, welches gehört werden und sich einbringen will und kann, sich aber, wie die letzten Wahlen und Meinungsumfragen überdeutlich zeigen, weder gehört noch einbezogen, sondern eher bevormundet fühlt. Wir brauchen keine Politiker, die Reden halten und Phrasen dreschen, sondern solche, die richtig zuhören. Wir brauchen keine Politiker, deren Umgang mit anderen Meinungen deutlich macht, dass sie bereits den Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht begriffen haben, sondern solche, die zwischen Wort und Sprecher unterscheiden können. Wir brauchen keine Politiker, die den Papst kritisieren, sich selbst aber für unfehlbar halten. Und schon gar nicht brauchen wir Politiker, die eskalieren, sondern solche, die Lösungen mit Betroffenen moderieren und für Verständigung sorgen können.
Zugegeben, das klingt wie ein Wunder, so als ob sich vor uns die unüberwindliche Barriere eines Meeres an Problemen teilen und uns den Weg hindurch weisen würde. Wäre aber nicht das erste Mal.
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