Der Garnisonsstaat und die Logik ‚verdeckter Aktionen‘

Der Garnisonsstaat und die Logik ‚verdeckter Aktionen‘

Der Garnisonsstaat und die Logik ‚verdeckter Aktionen‘

Ein Artikel von Günther Auth

Regierungsapparate mächtiger Staaten haben sich seit der Antike in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eingemischt. Typische Formen verdeckter Beeinflussung laufen über die Kooptierung bzw. Einsetzung politisch relevanter Funktionsträger, die Androhung bzw. Ausführung von Sanktionen und Sabotageakten sowie die gezielte Verbreitung von Desinformationen zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung. Im Zuge der Militarisierung moderner Gesellschaften hat sich die verdeckte Einflussnahme zu einer hochkomplexen Daueraufgabe bei der Verfolgung außenpolitischer Ziele entwickelt. Von Günther Auth.

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Vor über einem halben Jahrhundert putschte das Militär in Chile gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung von Salvador Allende. Die Luftwaffe hatte begonnen, den Präsidentenpalast zu bombardieren, während Bodenstreitkräfte ins Innere des Areals vordrangen. Allende selbst nahm dieses Vorgehen des Militärs zum Anlass, sich an jenem 11. September 1973 das Leben zu nehmen. In einem Wikipedia-Eintrag zum ‚Putsch in Chile‘ wird der Eindruck vermittelt, die CIA wäre nicht direkt an den Aktionen des chilenischen Militärs beteiligt gewesen, sondern hätte ‚nur‘ im Vorfeld des Putsches eine Destabilisierungskampagne in Chile durchgeführt und militante Gruppen unterstützt, die selbst einen Staatsstreich planten[1]. Im staff report, auch bekannt als ‚Church-Bericht‘, für den Sonderausschuss des US-Senats zur Untersuchung des Regierungshandelns mit Bezug zu Aktivitäten der Nachrichtendienste ließ sich eine klare Grenze zwischen direkter und indirekter Beteiligung der CIA in Chile jedoch nicht ziehen. In einer Gesamtbetrachtung aller verdeckten Aktivitäten der USA wurde vielmehr festgestellt, dass „[…] die Exekutive [der USA] beschloss, in die internen politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten dieses Landes einzugreifen, und zwar vor der Wahl, zwischen der Wahl und der Abstimmung im Kongress und während Allendes Amtszeit.“[2]

Dem staff report zufolge kam es bereits ab ca. 1961, also im Kontext der Kuba-Krise, zu den ersten Initiativen einer nachhaltigen Beeinflussung der chilenischen Gesellschaft durch Kräfte aus den Geheimdiensten der USA (und Großbritanniens[3]), die komplexe covert actions durchführten, um zu verhindern, dass ein Vertreter der Linken zum Regierungschef des Landes gewählt werden würde[4]. Der ‚Fall Kuba‘, d.h. die erfolgreiche Einsetzung einer sozialistischen Regierung im unmittelbaren Einflussbereich der USA, verstärkte die Bereitschaft aller nachfolgenden US-Regierungen, den Aufstieg linker Kräfte in strategisch wichtigen Staaten der US-amerikanischen Einflusssphäre zu verhindern:

„Kuba hatte sich als besonders heikles Thema in der Außenpolitik der USA während des Kalten Krieges erwiesen, und Meinungsverschiedenheiten mit Kuba wurden als Rechtfertigung für Präventivmaßnahmen gegen Kommunisten in Lateinamerika im Allgemeinen herangezogen. Die Dominotheorie war in den Köpfen der US-Politiker sehr lebendig.“[5]

Das Portfolio verdeckter Operationen

Die sogenannten covert actions der USA sind mutmaßlich zum ersten Mal in der US-National Security Council Directive on Office of Special Projects (NSC 10/2) vom 18. Juni 1948 beschrieben worden und belaufen sich auf verschiedene Bausteine, die sowohl einzeln als auch in Kombination zum Einsatz gekommen sind: ‚Propagandaaktivitäten‘, ‚Wirtschaftskrieg‘, ‚Sabotage‘, vorbeugende ‚Zerstörung und Evakuierung‘, ‚Förderung antikommunistischer Kräfte‘ sowie die ‚Unterstützung von Widerstandsgruppen‘ im Untergrund des betreffenden Landes[6].

In Chile beliefen sich die Aktivitäten schwerpunktmäßig a) auf verdeckte finanzielle Zuwendungen an bestimmte Kandidaten bzw. politische Parteien in der ‚Mitte‘ des politischen Spektrums und/oder (weit) rechts davon; b) auf die Anwerbung und Kooptierung von sogenannten assets, d.h. Personen, die aufgrund ihrer Eigenschaft als Regierungsbeamte, Abgeordnete, Militärs, Sicherheitskräfte und/oder Journalisten in Chile sowohl für die Informationsbeschaffung der CIA als auch für deren Weiterverbreitung dienlich sein konnten; c) auf die Ausbildung und Ausrüstung militanter oppositioneller Gruppen mit technischen Geräten und Waffen; sowie d) auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch eine Vielzahl von Propagandaaktivitäten, besonders im Vorfeld großer Wahlen, um unter der chilenischen Bevölkerung eine diffuse Angst vor dem Sowjetkommunismus zu schüren und gleichzeitig ein positives Bild der USA zu vermitteln. Ergänzend dazu griff die US-Regierung auf ein breites Spektrum von Maßnahmen zurück, um Chile wirtschaftlich zu schwächen. Wie bereits erwähnt, bestand das übergeordnete strategische Ziel darin, Vertreter der erstarkenden linken Parteien nicht an die Regierung kommen zu lassen, weswegen deren Angehörige als ‚Komplizen‘ und ‚trojanische Pferde‘ Moskaus dämonisiert wurden, während die Medien ganz überwiegend das Profil liberaler und konservativer Parteien als ‚moderate‘ Kräfte des Fortschritts kultivierten.

Dabei orientierte sich das spezifische Design der covert actions an der politischen Konstellation im innerstaatlichen Kontext Chiles. Wie sehr die US-Regierung auf verdeckte Finanzierungen, die Erschließung von sogenannten assets und den Einsatz von Propaganda zurückgriff, variierte je nach policy context, der somit ganz entscheidend für die Auswahl der einzusetzenden Mittel wurde. So war es etwa angesichts der Zustimmungswerte in der chilenischen Bevölkerung zwei Jahre vor der Präsidentschaftswahl 1964 nicht abzusehen, welcher Kandidat und welche Partei aus dem Mitte-rechts-Spektrum die besten Aussichten haben würde, sich gegen Allende als Vertreter der Linken durchzusetzen. Entsprechend drehte sich für die US-Regierung Anfang der 1960er-Jahre die Frage primär darum, ob sie einen ganz bestimmten Kandidaten aus einer Partei verdeckt unterstützen sollte oder ob sie heimlich in eine Koalition der Mitte-rechts-Parteien investieren sollte:

„Die Kennedy-Regierung hatte eine Mitte-Rechts-Regierung in Chile bevorzugt, bestehend aus den Radikalen auf der rechten Seite und den Christdemokraten in der Mitte. Die politischen Ereignisse in Chile in den Jahren 1962–1963 – vor allem die Bildung einer rechten Allianz, der auch die Radikale Partei angehörte – verhinderten jedoch eine solche Koalition. Infolgedessen finanzierten die Vereinigten Staaten im Laufe des Jahres 1963 sowohl die Christdemokraten als auch die rechte Koalition, die Demokratische Front.“[7]

Die Umstände implizieren die Taktik/en

Nachdem sich die Unterstützung der Christdemokraten als erfolgreich herausgestellt hatte und nicht Allende, sondern Eduardo Frei anno 1964 zum Präsidenten Chiles gewählt worden war, ging es der US-Regierung bis zur nächsten Präsidentenwahl darum, die Kongresswahlen in den Jahren 1965 und 1969 jeweils so zu beeinflussen, dass die hinter Allende stehende Koalition zwischen Sozialisten und Kommunisten nicht die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen würde. Geheime Wahlkampfunterstützung führte im Vorfeld beider Wahlen dazu, dass das Linksbündnis geschwächt und vormals aussichtslose Kandidaten aus der Mitte bzw. dem rechten und sogar dem alternativen linken Spektrum in den Kongress einzogen.

„Die CIA betrachtete die Wahlkampagne als erfolgreich, da sie ihr begrenztes Ziel erreicht hatte; zehn der zwölf Kandidaten, die für eine Unterstützung ausgewählt wurden, gewannen ihre Wahl, darunter ein sehr unerwarteter Sieg. Durch die Unterstützung der sozialistischen Dissidentengruppe verlor die Sozialistische Partei mindestens sieben Sitze im Kongress.“[8]

Vor der Präsidentschaftswahl 1970 änderte die US-Regierung ihre Taktik: Anstatt ein weiteres Mal primär auf verdeckte finanzielle Unterstützung an einen bestimmten Kandidaten zu setzen, beschloss das zuständige 40 Committee des Nationalen Sicherheitsrates unter Vorsitz von Henry Kissinger die Durchführung von sogenannten spoiling operations gegen die Koalition von Allende. Das heißt, die US-Regierung setzte in diesem Zeitraum noch erheblich stärker als vorher auf orchestrierte Propagandaaktivitäten, um die Wahl Allendes zum Regierungschef zu verhindern. Die entsprechende Kampagne bündelte dabei zahlreiche Techniken, die vereinzelt bereits vorher zum Einsatz gekommen waren und „[…] nutzte praktisch alle Medien in Chile und […] platzierte und wiederholte Beiträge auch in der internationalen Presse. Durch die Subventionierung rechter Frauen- und Bürgerrechtsgruppen wurden Propaganda-Platzierungen erreicht. Eine „Angstkampagne“, die viele der gleichen Themen wie das Präsidentschaftswahlprogramm von 1964 aufgriff, setzte einen Sieg Allendes mit Gewalt und stalinistischer Unterdrückung gleich.“[9]

Etwas präziser ausgedrückt: Um die breite Bevölkerung gegen die von Allende geführte Koalition einzustellen, setzte die US-Regierung stark auf die suggestive Kraft von Bildern und ließ Hunderttausende Broschüren, Flugblätter und kleine booklets drucken. Wandbilder/Poster zeigten kommunistische Erschießungskommandos in Kuba und sowjetische Panzer in Santiago de Chile. Ergänzend dazu wurden Übersetzungen von persönlichen Leidensgeschichten über die Unterdrückung in der Sowjetunion in Umlauf gebracht, um an die hearts and minds der chilenischen Bevölkerung zu appellieren und eine antikommunistische Hysterie zu erzeugen. Eine eigens geschaffene editorial support group erarbeitete politische Kommentare und Nachrichtentexte für chilenische Radiosender und Printmedien; eine andere Gruppe konzentrierte sich auf die Anfertigung explizit antikommunistischer Beiträge, u.a. verbunden mit Warnungen, dass eine sozialistische Regierung unter Allende die Rolle der Familie entwerten und auch die Ausübung der Religion verbieten würde. Ein regelmäßiger Newsletter ging an ca. 2.000 Journalisten, Akademiker, Politiker und andere Meinungsbildner[10].

Bei der größten und einflussreichsten Zeitung Chiles, El Mercurio, die zudem in ganz Lateinamerika eine große Strahlkraft genoss, pflegte die CIA gleich zu mehreren assets Kontakte. Tatsächlich fungierte die CIA ab 1968 als eine Art Schattenredaktion für El Mercurio, insofern ihre Agenten und Kontaktleute in der Redaktion die tägliche Berichterstattung der Zeitung dominierten und die Auslandsberichterstattung kontrollierten[11]. Die Kontaktleute bzw. assets schrieben zahlreiche Beiträge, die im Tenor den Eindruck erweckten, dass das Weltgeschehen in einem simplen Antagonismus zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ gefangen wäre, indem sie den militärischen Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei anno 1968 zwar völlig zu Recht hart und anhaltend kritisierten, gleichzeitig aber auch versuchten, kritische Informationen über die Außenpolitik der USA, wie z.B. die bekanntermaßen bestialische US-amerikanische Kriegsführung in Vietnam[12], nicht an die chilenische Öffentlichkeit gelangen zu lassen[13].

Die spoiling operations konnten die Regierungsübernahme durch Allende anno 1970 zwar nicht verhindern, dennoch waren durch die seit Jahren betriebene und tiefreichende Infiltration der politischen und Medienlandschaft Chiles bereits wichtige Weichen gestellt, um mit etwas Verzögerung – und einer weiteren Intensivierung der verdeckten Einflussnahme – den Sturz der Regierung Allende und die Installierung einer faschistischen Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet bewerkstelligen zu können. Vor allem für den Vorsitzenden des 40 Committee, dem Planungsausschuss der covert actions, Henry Kissinger, schien Chile ein geeignetes Experiment zu sein, „[…] um festzustellen, ob ein Regime, das er ablehnte, ohne den Einsatz militärischer Gewalt, für den sich die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit an anderen Orten entschieden hatten, „destabilisiert“ oder gestürzt werden könnte. Konkret war Chile ein Test dafür, ob ein demokratisch gewähltes linkes Regime, wie das von Allende, durch die Schaffung von innerem Chaos durch äußere Kräfte gestürzt werden könnte.”[14]

Der Erfolg heiligt die Mittel

Die Vorbereitungen für den finalen Sturz der Regierung Allende liefen dann zweigleisig. Zusätzlich zu den vielen bereits laufenden Aktivitäten betrieben geheimdienstliche Kräfte der USA nach dem Amtsantritt Allendes immer stärker Wirtschaftssabotage, organisierten Streiks und förderten sogar offene Gewalt. Im Design sehr ähnlich zur zeitgleich verfolgten ‚Strategie der Spannung‘ in Italien[15] versorgte die CIA rechtsradikale Kräfte wie z.B. die Frente Nacionalista Patria y Libertad mit Waffen und half somit dabei, den paramilitärischen Widerstand gegen die Regierung Allende zu mobilisieren[16] – ganz im Sinne der globalen CIA-Strategie des unconventional war[17]:

Zum Beispiel versorgte die CIA die rechtsextreme Militärgruppe, die den chilenischen Armeekommandanten René Schneider entführte, mit Maschinengewehren und Granaten. Schneiders Respekt für die Verfassung wurde als Hindernis für den Militärputsch angesehen. Es wird behauptet, dass die CIA auch 100.000 Dollar für eine erfolgreiche Entführung von Schneider angeboten hat. [Seymour] Hersch argumentiert auf der Grundlage von Aussagen eines Mannes, der bei der Marine anheuerte und im Nationalen Sicherheitsrat arbeitete, dass eine der Optionen, die von der CIA in Betracht gezogen wurden, die Ermordung von Allende selbst war.“

Parallel dazu versuchte Kissinger mit dem in der US public diplomacy bewährten rhetorischen Trick der Täter-Opfer-Umkehr, die Fakten in ihr Gegenteil zu verkehren und die Regierung Allende als den ‚wahren‘ Urheber terroristischer Gewalt erscheinen zu lassen.

Auf dem zweiten Gleis fuhren weiterhin die eingeübten Propagandaaktivitäten, die sich nun noch stärker als bisher auf reichweitenstarke outlets wie vor allem die Zeitung El Mercurio konzentrierten. Der Zeitung flossen ab 1970 nicht nur fast die Hälfte der in den USA bewilligten Mittel für verdeckte Operationen zu, „El Mercurio wurde genutzt, um die gesamte psychologische Kriegsführung gegen die Regierung Allende zu synchronisieren und zu koordinieren“.[18] Die Redaktion der Zeitung favorisierte aus eigenem Antrieb eine ‚liberale Gesellschaft‘ und wurde ab 1970 zu einem der wichtigsten Verbündeten der US-Regierung. Das kam u.a. darin zum Ausdruck, dass sie fast täglich gegen die von Allende geführte Koalition linker Parteien in der Unidad Popular agitierte und Allende als Person diffamierte[19], indem sie ihn wiederholt – und ohne jeglichen faktischen Anhaltspunkt – der Komplizenschaft mit der Sowjetunion beschuldigte und als eine Bedrohung der ‚wahren Demokratie‘ in Chile dämonisierte.

Nach Geheimdiensteinschätzungen (National Intelligence Estimates) der CIA war jedoch bekannt, dass Allende eine eigenständige und unabhängige Position gegenüber der Sowjetunion anstrebte und keine militärische Präsenz der Sowjetunion in Chile dulden würde, während die sowjetische Regierung ihrerseits darauf bedacht war, keinen Konflikt mit den USA zu riskieren und „[…] um mit Allende die Art von unbefristeter Verpflichtung zur Hilfe zu vermeiden, die sie mit Castro eingegangen waren. Die Sowjets rieten Allende offenbar, seine Differenzen mit den USA zu verhandeln.“[20] Beschwerden der Allende-Regierung über die Diffamierungen und Desinformationskampagnen von El Mercurio hatten sogar zur Folge, dass ihr prompt die Verletzung der Pressefreiheit vorgeworfen wurde, woraufhin „[…] die CIA mithilfe ihrer Ressourcen für verdeckte Aktionen Unterstützungs- und Protesttelegramme ausländischer Zeitungen, eine Protesterklärung eines internationalen Presseverbandes und die weltweite Berichterstattung über den Protest des Verbandes organisierte“. [21]

Die Zusammenarbeit zwischen der CIA und El Mercurio erwies sich schließlich als entscheidender Faktor bei dem Versuch der US-Regierung, den Rückhalt von Allende in der Bevölkerung erheblich zu schmälern und auf diese Weise die Akzeptanz eines (irregulären) Regierungswechsels zugunsten eines totalitären Regimes zu erhöhen[22]. Obzwar sich viele Inhalte der Kampagne auf spezifische Probleme der chilenischen Gesellschaft bezogen hatten, folgte der subversive Aktivismus von El Mercurio einem Muster, das 1917 von Woodrow Wilson mit Einrichtung des Committee on Public Information grundgelegt[23] und während des Zweiten Weltkriegs als US public diplomacy institutionalisiert wurde[24]. Entsprechend seiner Funktionslogik versuchen Regierungsapparate und Geheimdienste der USA, in den Gesellschaften ‚strategisch wichtiger‘ Länder unter Zugriff auf assets in allen relevanten Bereichen eine diffuse Angst vor einer neuen Stalin- oder Hitlerfigur, ‚dem Kommunismus‘ oder einem bedrohlichen ‚anderen‘ Staat zu erzeugen, um mit entsprechenden Feindbildern den politischen Kurs im Sinne der USA kontrollieren zu können.

Analog zu den Gesellschaften Europas (v.a. in Italien und Deutschland), Afrikas (u.a. Nigeria und Kongo) und Asiens (v.a. in Südkorea und Japan) durften nach 1945 auch diejenigen in Lateinamerika nicht sich selbst überlassen bleiben „[…] sowohl wegen ihrer Nähe zu den Vereinigten Staaten als auch wegen der geringen Meinung, die US-Beamte von den Regierungsfähigkeiten der lateinamerikanischen Völker hatten“.[25] Je stärker sich linke Kräfte und/oder Emanzipationsbewegungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent mit Rufen nach mehr individueller Freiheit, nationaler Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit entfalteten, desto konsequenter wurde ihr politischer Einfluss durch orchestrierte Medienkampagnen sowie die gezielte externe Förderung rechter bzw. rechtsextremer Parteien bekämpft. Im Ergebnis standen in fast allen Ländern Lateinamerikas eine stetig zunehmende Zentralisierung von Macht, die sukzessive Einschränkung bürgerlicher Rechte bis hin zur staatlichen Ausübung von Willkür und Terror gegen die eigene Bevölkerung.

Die Konturen des 1937 von Harold D. Lasswell beschriebenen ‚Garnisonsstaates‘ (garrison state), der die verdeckte Kriegsführung zur Sicherung ‚nationaler Interessen‘ als eine Daueraufgabe begreift, in dem eine Kultur des Militarismus die Zivilgesellschaft vollständig durchdringt und das Politische absorbiert[26], zeichnen sich nach Einschätzung informierter Beobachter in den USA und der von der US-Regierung kontrollierten Einflusssphäre immer stärker ab[27]. Die Herstellung eines für die private Kapitalakkumulation günstigen global economic space hat sich in einen fanatisch und erbarmungslos geführten Kampf gegen alle seine Widersacher verwandelt. Dabei wird wie selbstverständlich auf Propaganda, Repression und militärischen Zwang zurückgegriffen. Der ‚Fall Chile‘ illustriert, wie und unter welchen Umständen die Fassaden einer nur noch zum Schein existierenden mystic democracy durch eine Diktatur ersetzt werden.

Titelbild: Shutterstock / Rudall 30


[«1] Vgl. Wikipedia, Putsch in Chile 1973, (zuletzt aufgerufen am 07.10.2024).

[«2] US Senate Select Committee To Study Governmental Operations With Respect to Intelligence Activities, Staff Report Covert Action in Chile 1963-1973 (Washington, 1975), 48.

[«3] Vgl. Kevin John McEvoy, Before the rubble: Britain’s secret propaganda offensive in Chile (1960-1973), Contemporary British History 35:4 (2021), 597-619.

[«4] Vgl. US Senate Select Committee, Staff Report, a.a.O., 1-2.

[«5] Audra D. Edwards, US Funded Propaganda goes to Chile, MA thesis (Mobile: University of South Alabama, 2015), 14.

[«6] Vgl. Office of the Historian, Foreign Relations of the United States, 1945–1950, Emergence of the Intelligence Establishment, (zuletzt aufgerufen am 12.10.24).

[«7] US Senate Select Committee, Staff Report, a.a.O., 15.

[«8] Ebda., 18.

[«9] Ebda., 20.

[«10] Vgl. ebda., 22.

[«11] Vgl. ebda., 19.

[«12] Vgl. Michael D. Sallah & Mitch Weiss, Kriegsverbrechen in Vietnam: Apocalypse Now, Spiegel Panorama, 16.04.2004, (zuletzt aufgerufen am 13.10.24).

[«13] Vgl. US Senate Select Committee, Staff Report, a.a.O., 7.

[«14] Tad Szulc, How Kissinger runs our ‘Other Government’, New York Magazine 7:39 (1974), 59-66. 59.

[«15] Vgl. Regine Igel, Die P2-Loge und die geheimen Gladio-Truppen in Italien, in: A. Anton, M. Schetsche & M. K. Walter (Hrsg.), Konspiration: Soziologie des Verschwörungsdenkens, 2. erw. Auflage (Wiesbaden: Springer, 2024), 221-242, 231-232.

[«16] Vgl. US Senate Select Committee, Covert Action in Chile 1963-1973, a.a.O., 31.

[«17] Vgl. auch Headquarters, Department of the Army, Field Manual: Special Forces Operations US Army Doctrine, Part Two (Washington, 1969).

[«18] Fred Simon Landis, Psychological Warfare and Media Operations in Chile, 1970-1973, doctoral thesis (Urbana: University of Illinois at Urbana-Champaign, 1975), 2. (Hbg. hinzugefügt)

[«19] Vgl. Landis, Psychological Warfare and Media Operations in Chile, a.a.O., 48-62

[«20] US Senate Select Committee, Staff Report, a.a.O., 47.

[«21] Ebda., 24.

[«22] Vgl. Francisco Javier Alvear & Jairo Lugo-Ocando, When Geopolitics becomes Moral Panic: El Mercurio and the use of international news as propaganda against Salvador Allende’s Chile (1970–1973), Media History 24:3-4 (2016), 528-546, 529.

[«23] Vgl. John M. Hamilton, Manipulating the Masses: Woodrow Wilson and the Birth of American Propaganda (Baton Rouge: Lousiana State University Press, 2020).

[«24] Vgl. Wilson P. Dizard, Inventing Public Diplomacy: The Story of the US Information Agency (Boulder: Lynne Rienner, 2004).

[«25] Edwards, US Funded Propaganda goes to Chile, a.a.O., 10.

[«26] Vgl. Harold D. Lasswell, The Garrison State, American Journal of Sociology 46:4 (1941), 455-468.

[«27] Vgl. Milton J. Esman, The Emerging American Garrison State (New York: Palgrave, 2013), 11; J. Samuel Fitch, The Garrison State in America: A Content Analysis of Trends in the Expectation of Violence, Journal of Peace Research 22:1 (1985), 31-45; Norman Thomas, The Drift Toward A Garrison State, Teachers’ College Journal 32:2 (1960), 56-58.