Der Konflikt und der Krieg in der Ukraine haben dem globalen Westen einen moralischen Vorwand geliefert, um Länder, die aus historischen Gründen und verfassungsmäßig neutral sind, in das Sanktionsregime, in Waffenlieferungen an die Ukraine, in das Einfrieren russischer Guthaben, in die Finanzierung des Krieges, in die Teilnahme an der Kriegspsychose zu zwingen, die man täglich eskalieren lässt. Daraus gibt es für die Beteiligten kein Entrinnen. Ein Beitrag von Botschafter a. D. György Varga, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
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Der Westen isoliert den Krieg nicht, er internationalisiert ihn. Er übt Druck auf alle aus, den Krieg mit seinen Nachteilen, Kosten und Folgen, die noch nicht sichtbar sind, anzunehmen. Die neutrale Position wird als prorussische Außenpolitik diffamiert. Wie bei vielen anderen aktuellen Themen ist hier eine Verabsolutierung zu beobachten. Während es jahrhundertelang auf der Ebene von Individuen, Gemeinschaften oder Ländern korrekt war, sich neutral zu verhalten – eine bestehende Situation zumindest nicht zu verschlimmern –, gilt dies heute in der „werteorientierten“ Außenpolitik des Westens als eine böse Tat.
Für die Vereinigten Staaten von Amerika mit 330 Millionen Einwohnern ist klar geworden, dass sie die internationalen Makroprozesse der acht Milliarden Menschen nicht mehr allein kontrollieren können. Die unipolare Weltordnung geht zu Ende, die Rivalen sind auf dem Vormarsch. Die USA verfolgen deshalb eine neue Strategie: Sie nutzen den Krieg in der Ukraine als moralischen Vorwand, um die Zahl der potenziellen Mitgliedstaaten des westlichen Blocks zu maximieren, indem sie diese von den Rivalen in politischer, wirtschaftlicher und menschlicher Hinsicht abkoppeln.
Im Falle Russlands dient die Ukraine, im Falle Chinas Taiwan als Eskalationsinstrument. Unzählige Sanktionen gegen die Konkurrenten und gegen Länder, die dagegen verstoßen, sind eine Praxis, die für die derzeitige US-amerikanische Auffassung von internationalen Beziehungen, der UN-Charta und der Souveränität der Länder bezeichnend ist. Da alle Länder in der Blockbildung zählen, kann niemand neutral bleiben, wenn er nicht in Konflikt mit Washington und dem in seinem Namen handelnden Brüssel geraten will.
Die Neutralität wurde von den Eliten verraten
Völlig in Vergessenheit geraten ist die Bewegung der Blockfreien Staaten. Sie umfasste um 2010 fast 120 Länder (zwei Drittel der UNO) und wurde 1961 von Nichtmitgliedern des Ost- und Westblocks mit dem Ziel gegründet, ihre Länder aus dem Kalten Krieg zwischen beiden Blöcken herauszuhalten und sich von den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Folgen der Konfrontation zu befreien. Sie waren erfolgreich, weil sie wesentlich dazu beigetragen haben, dass nur 15 (West) plus 7 (Ost) UN-Mitgliedsstaaten jahrzehntelang miteinander im Streit lagen und nicht die gesamte Menschheit in zwei Blöcken, wie es heute versucht wird. In Europa hat die Erweiterung der NATO und der EU viele bündnisfreie Länder auf einen rigiden transatlantischen Kurs gebracht. Nicht einmal diejenigen, die außerhalb der Integrationsorganisationen blieben, konnten ihre Neutralität und souveräne – multipolare – Außenpolitik bewahren.
Das offizielle Ziel der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) der Europäischen Union (EU), die den Kontinent dominiert, ist, „den Frieden zu bewahren; die internationale Sicherheit zu stärken (…)“. Lassen wir jetzt außer Acht, wie wirksam der bisherige Hohe Vertreter für Außenpolitik Josep Borrell zur Destabilisierung in Europa beigetragen hat. Erinnern möchte ich aber daran, dass die EU während des Krieges nicht ein einziges Mal zu Verhandlungen aufgerufen hat. Der diplomatische Kompass von Herrn Borrell im Namen der EU ist bekannt: „Dieser Krieg muss auf dem Schlachtfeld entschieden werden.“
Jemand hat Interesse daran, den Krieg zu verlängern
Der Widerspruch zwischen dem verkündeten Ziel und den vorherrschenden globalistischen politischen Praktiken des vorherigen Jahrzehnts hat dazu geführt, dass die „GASP“ schon vor dem Krieg in der Ukraine als Mittel zum Abbau der Neutralität im Instrumentarium des politischen Westens auftauchte. Die auf EU-Ebene (gegen welches Land auch immer) verhängten Sanktionen haben verfassungsrechtlich neutrale Länder institutionell in außen- und sicherheitspolitische Konflikte verwickelt, unabhängig davon, wie sich das auf ihre Neutralität auswirkt.
Indem die EU transatlantische (im Wesentlichen US-amerikanische) Interessen in Europa durchsetzt, ermöglicht sie im Rahmen der „GASP“ weder den neutralen EU-Mitgliedsländern (Österreich und bis 2023 Finnland, Schweden) noch den assoziierten Ländern oder Beitrittskandidaten, eine souveräne und neutrale Außenpolitik zu verfolgen. Länder wie Moldawien – eine neutrale Republik – oder Serbien und Georgien, die nicht der EU und der NATO angehören, standen und stehen unter ständigem Druck, sich mit den EU-Sanktionen vollständig zu identifizieren und sie gegen ihre eigenen nationalen Interessen anzuwenden. So müssen sie beispielsweise ihre Beziehungen zu Russland einschränken, sich dem EU-Sanktionsregime anschließen und sich an politischen Erklärungen beteiligen, die Russland in den Dimensionen der EU, der Vereinten Nationen, des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verurteilen (andernfalls sind sie es nicht wert, der EU beizutreten).
Der Druck des Westens auf Georgien war in den letzten Monaten unübersehbar. Washington drängt auf einen Regimewechsel und nimmt keine Rücksicht auf die Lage in diesem Land mit vier Millionen Einwohnern, dessen Zukunft im Wesentlichen von der Qualität seiner Beziehungen zum benachbarten Russland abhängt. In diesem Spiel ist es einerlei, dass die Menschen in der Ukraine, in Moldawien oder in Georgien in den kommenden Jahrzehnten in völliger Instabilität leben, sich von der relativen Ruhe der vergangenen Jahrzehnte verabschieden und der US-amerikanisch-russischen Konfrontation im postsowjetischen Raum mit all ihren Folgen zusehen werden.
In solch gespaltenen Gesellschaften kann die erzwungene Richtungswahl nur zu Bürgerkrieg, externer Intervention und Zerstörung führen. Es sei an die verfassungswidrige Machtübernahme in der Ukraine im Jahr 2014 als Beginn und Grundlage für einen Bürgerkrieg und einen darauffolgenden Krieg erinnert.
Interessen von neutralen Staaten werden ignoriert
Die Erwartung des kollektiven Westens an neutrale Länder und Nicht-EU-Länder – nämlich, die Beziehungen zu Russland abzubrechen und zu schwächen sowie westliche Sanktionen zu verabschieden – nimmt keine Rücksicht auf die historische Völkerfreundschaft und die slawische Brüderlichkeit (serbisch-russische Beziehungen). Sie nimmt keine Rücksicht auf die gegenseitigen Interessen, die auf einer gemeinsamen Vergangenheit und den bedeutenden russischen Minderheiten beruhen (siehe Moldawien, Georgien), und auch nicht auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Länder und ihre maßgebliche Abhängigkeit von Russland, sowohl jetzt als auch in Zukunft.
Neutrale Länder, die unter dem Einfluss des kollektiven Westens stehen, werden künftig ihre eigenen Verfassungen nicht mehr respektieren. Initiativen, die von Washington ausgehen, sind NATO-Erwartungen, die von der Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf die Ebene der neutralen Länder übertragen werden. Sie werden verpflichtet, Aufgaben zu erfüllen, die gegen die Neutralität verstoßen, sich zu positionieren und eine aktive Rolle in Konflikten anzunehmen, die ein neutraler Staat in allen Dimensionen vermeiden würde, wenn er seinen nationalen Interessen folgt.
Diese Praxis des „offensiven Transatlantizismus“ der „GASP“ der EU hat zu dem Konflikt und dem Krieg in der Ukraine beigetragen, der nun dafür sorgt, dass die Ukraine bisher nicht nur von der NATO-, sondern auch von der EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen bleibt. Glaubt irgendjemand, dass Moskau die EU-Mitgliedschaft der Ukraine nach einem Friedensvertrag akzeptieren wird, wohl wissend, dass die EU-Sanktionen gegen Russland – heute sind es etwa 20.000! – nun von der Ukraine durchgesetzt werden? Jede Änderung, jede Lockerung erfordert, dass der kollektive Westen zunächst seine eigenen außenpolitischen Praktiken überprüft und internationale Akteure außerhalb der EU und der NATO als gleichberechtigte Partner behandelt, wie es die UN-Charta verlangt. Derzeit bemühen sich diese Integrationsorganisationen nicht um eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, sondern sanktionieren täglich souveräne UN-Staaten (und ihre „verlorenen Söhne“!) – und tarnen die Notwendigkeit der „Erziehung“ mit einem moralistischen Deckmantel.
Die ewige Neutralität bekommt eine neue Bedeutung
Noch vor zwei Jahrzehnten haben sich die Österreicher die immerwährende Neutralität ihres Landes nicht so vorgestellt, dass sie im Rahmen der GASP verpflichtet werden, politisch und finanziell Partei zu ergreifen – in einem Kriegskonflikt, an dem sie sonst nicht beteiligt sind. Russland, das als Nachfolgestaat der Sowjetunion zu den Unterzeichnern des österreichischen Staatsvertrags von 1955 gehört, versteht das Wesen der „immerwährenden Neutralität“ des Landes anders und ist über die Positionierung der derzeitigen politischen Elite in Österreich unter dem Druck des politischen Westens empört. Zuvor wäre es für ein neutrales Österreich undenkbar gewesen, im Rahmen der EU Kredite aufzunehmen, um die Aufrüstung einer Kriegspartei zu finanzieren.
Wichtige UN-Institutionen und die OSZE haben Wien als Sitz gewählt, weil die im Staatsvertrag von 1955 zugesagte und garantierte immerwährende Neutralität ideale Voraussetzungen für die Bewältigung der Sicherheitsprobleme der Welt bot und weil sie glaubhaft die gleichen Bedingungen für alle UN-Mitgliedsstaaten sicherte – neutral zu sein, ohne jemandem einen Vor- oder Nachteil zu verschaffen. Dies ist heute nicht mehr der Fall dank der globalistischen und expansionistischen atlantischen Außenpolitik der EU, die die Interessen und verfassungsmäßigen Verpflichtungen neutraler Staaten missachtet.
Der Westen setzt das sozial fragile Moldawien unter Druck
Die derzeitige Führung von Moldawien kommt den Erwartungen Washingtons und Brüssels in vollem Umfang nach und setzt die Bevölkerung des Landes und seine unabhängige Staatlichkeit möglichen Konsequenzen aus. Das 2,6 Millionen Einwohner zählende Land ist ethnisch, regional und sprachlich gespalten und weist die gleiche fragile soziale Stabilität auf wie die Ukraine um 2014. Wer es plötzlich Richtung Westen treiben will, lässt außer Acht, dass etwa die Hälfte der Gesellschaft (politisch, wirtschaftlich, sprachlich, verwandtschaftlich, religiös) mit dem Osten verbunden ist. Die Außenpolitik der moldawischen Regierung ist alles andere als neutral. Im Rahmen der EU-Sanktionen wurden russischsprachige Fernsehsendungen verboten, und eine als prorussisch eingestufte politische Partei wurde zwei Tage vor den Kommunalwahlen vom Wahlzettel gestrichen.
Der westliche Ansatz ist kurios: Eine als prorussisch eingestufte Partei kann in einem Nachfolgestaat der Sowjetunion nicht kandidieren, aber Parteien mit einer Pro-US-Politik können in Mexiko, Kanada, Europa, Japan, Taiwan und sogar Moldawien antreten. Der Ansatz ist prinzipienlos, ideologisch motiviert, selektiv angewandt und zielt darauf ab, den Aufstieg des politischen Westens auch um den Preis offensichtlicher sozialer Instabilität zu sichern, indem man die russische Bedrohung dämonisiert, die hinter den zu verdrängenden Parteien lauert. Die OSZE-Wahlexperten schweigen dazu.
Wer schafft Instabilität in Osteuropa?
Der ehemalige moldawische Staatschef Igor Dodon erklärte am 6. Juni, dass Waffen von Rumänien über die neutrale Republik ohne jegliche Kontrolle in die Ukraine geliefert würden. In dem kleinen Land sind etwa 14.000 vom Westen finanzierte Nichtregierungsorganisationen tätig, die einen direkten existenziellen Einfluss auf rund 200.000 Menschen haben. Sie werden von den Regierungsparteien unterstützt, und ihre Richtung wird von den Vertretern des kollektiven Westens bestimmt. Die Finanzierung durch die USA und die EU ist legitim (wohl wegen der bedeutenden US-amerikanischen Minderheit im Land!?), die russische Unterstützung wird trotz der bekannten ethnischen, sprachlichen, kulturellen und historischen Gründe geächtet.
Militärische Übungen von NATO-Ländern sind in Moldawien, in dem ein russisches Militärkontingent ebenfalls anwesend ist, üblich geworden. Dies geschieht vor dem Hintergrund des ungelösten Schicksals des separatistischen Gebietes Transnistrien mit russischen Verbindungen. Außerdem wäre Moldawien nicht in der Lage, die Folgen seiner eigenen antirussischen Politik allein zu bewältigen, weder wirtschaftlich noch politisch und militärisch.
Moldawien ist, wie die Ukraine, zu einem Schauplatz der strategischen Konfrontation zwischen den USA und Russland geworden, und die derzeitige geringe, doch bereits sichtbare Intensität des Konflikts könnte sich schnell ändern. Darauf deutet hin, dass führende rumänische Politiker über die „Vereinigung von Rumänien und Moldawien nach deutschem Vorbild“ sprechen, die „mit Unterstützung der Verbündeten umgesetzt würde, falls Russland Odessa erreicht und einen direkten Kontakt mit Moldawien riskiert“. Wenn wir es richtig verstehen, ist Rumänien also daran interessiert, dass der Krieg weitergeht, Odessa in russische Hände fällt und NATO-Truppen aus Rumänien in Moldawien einmarschieren, „um eine russische Aggression zu verhindern“.
Die Planer und Entscheidungsträger des kollektiven Westens stören sich nicht an den Nachteilen, welche die Länder – mit historisch- und ressourcenbedingt unersetzlichen Beziehungen zu Russland – auf sich nehmen; die Konsequenzen der Teilnahme an den gemeinsamen EU-Erklärungen, NATO-Militärübungen und Sanktionen in den kommenden Jahrzehnten sind eindeutig und klar.
Diese Zusammenhänge und Konsequenzen schaden erheblich der Außenpolitik und den Handelsinteressen des jeweiligen Landes.
Diese Länder werden, den Erwartungen der EU folgend, Märkte, Energie und Rohstoffe, über Jahrhunderte gewachsene Beziehungen, gemeinsame Interessen, die die ethnischen, religiösen und sprachlichen Gemeinschaften des postsowjetischen Raums verbinden, aufgeben müssen – nur weil der politische Westen einen Konflikt und einen daraus folgenden Krieg verabsolutiert, an dessen Entstehung und Aufrechterhaltung er selbst aktiv beteiligt war (während in anderen Konflikten, in vielen militärischen Aggressionen, eine solche Verabsolutierung nicht erfolgt).
Die traditionell neutrale Schweiz verliert ihre Rolle in der Weltpolitik
Die schweizerische Neutralität hat den Prüfungen zweier Weltkriege und der Jahrzehnte des Kalten Krieges standgehalten, konnte aber dem wachsenden Einfluss globalistischer Kräfte im eigenen Land und der multidimensionalen ausländischen Einflussnahme nicht widerstehen.
Die Schweiz hat sich nach mehr als 200 Jahren ausdrücklich vorteilhafter Neutralität den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen, indem sie russisches Eigentum blockiert und die wichtigsten Kennzeichen und Attribute ihrer zu Recht berühmten Neutralität aufgegeben hat. Im März 2024 beschloss das Schweizer Parlament, russisches Eigentum an die Ukraine zu übertragen, wohl wissend, dass die Schweiz damit die wichtigsten Vorteile ihrer 200-jährigen Neutralität und die Grundlage ihres internationalen Status (Eigentumsgarantie, Zuverlässigkeit, Vorhersehbarkeit, Unparteilichkeit) verlieren würde, der viel stärker ist als ihr Reichtum und ihre Größe. Dieser Prozess hat bereits begonnen, wie die Zusammenbrüche der Schweizer Banken seit 2022 gezeigt haben.
Warum sollten Staaten, Oligarchen, arabische Prinzen, milliardenschwere Unternehmer oder Millionen einfacher ausländischer Bürger weiterhin ihre Vermögen in Schweizer Banken anlegen, wenn diese nach dem selektiven Werturteil des politischen Westens jederzeit nach Gutdünken der Politiker blockiert, veruntreut oder als Hilfsgelder einem anderen Land übergeben werden können? Es ist bedauerlich, dass die Schweizer Eliten unter westlichem Druck die Verfassung des Landes verletzen und die Glaubwürdigkeit und Rechtssicherheit des Landes aufgeben.
Warum verstößt die Schweiz gegen ihre Verfassung?
Im Vergleich mit den Folgen der Weltkriege – insbesondere des Zweiten Weltkriegs – und des Kalten Krieges auf die Schweiz sehen die direkten Auswirkungen des Krieges in der Ukraine gering aus, da er de facto keine auf die Alpenrepublik hat. Da drängt sich die Frage auf: Wenn die Schweiz unter dem Druck des benachbarten Hitlerdeutschlands neutral bleiben konnte, warum hält sie sich heute nicht an das Neutralitätsprinzip, warum verstößt sie gegen ihre eigenen nationalen Interessen, warum verletzt sie ihre Verfassung, wenn sie nicht bedroht ist? Der Bundesrat hat gemäß Artikel 185 die Aufgabe, Maßnahmen zur Wahrung der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz zu treffen. Das Gleiche gilt auch für Moldawien.
Durch Kommunikation, Dämonisierung des erklärten Feindes, Verabsolutierung moralischer Verpflichtungen und Solidarität wird die Verfassung in diesen Ländern teilweise außer Kraft gesetzt. Wer auf das im EU-Recht bestehende Recht auf Meinungsverschiedenheit beharrt oder sich auf die Verfassung des eigenen Landes beruft und deshalb in einem Konflikt nicht Partei ergreifen will, wird bestraft und geächtet.
Wenn wir die Schweizer Außenpolitik während des Krieges in der Ukraine und die unternommenen Schritte, um die Neutralität de facto aufzugeben, sowie die Analysen über diese Neutralität betrachten, können wir globalistische Erklärungen in der gleichen moralischen Gestalt erkennen, die wir in den westlichen Mainstream-Medien zugunsten von Sanktionen und der Fortsetzung des Krieges sehen. In den meisten Fällen werden kommunikative Vereinfachungen wie „In Zeiten, in denen Wladimir Putin und Xi Jinping an der Macht sind, kann die Schweiz nicht neutral bleiben“ oder „Im 21. Jahrhundert wird die Rolle der Neutralität neu bewertet“ als Hauptargumente für die Aufgabe der Neutralität angeführt.
Die Dämonisierung der internationalen Akteure, die Verabsolutierung der Kriegsakteure (Gut und Böse) und die nichtssagenden, aber oft wiederholten Klischees dienen dem Aufbau und der Aufrechterhaltung der sozialen Unterstützung in einem Krieg, an dem der politische Westen selbst beteiligt ist. Wirkungsstudien über die Verluste, die die Schweiz durch die Aufgabe der Neutralität erleidet, sind natürlich nicht bekannt, ebenso wenig wie die EU in der Lage ist, die wundersame Wirkung der bisher 14 Sanktionspakete gegen Russland zu beschreiben.
Der Schweizer Bundesrat hat am 28. Februar 2022 beschlossen, sich den EU-Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Wen wundert es noch, dass die russisch-ukrainischen Gespräche am selben Tag in Minsk begannen und später in Istanbul fortgesetzt wurden?
Die Schweiz ist kein unparteiischer Veranstaltungsort mehr
Seltsamerweise hat das NATO-Mitglied Türkei gezeigt, dass es Friedensgespräche führen kann, dass es sich der Sanktionspolitik des politischen Westens nicht anschließt und nicht zur Verlängerung des Krieges beiträgt, weil es an Frieden und Stabilität in der Region interessiert ist. Mit anderen Worten, ein rationaler Akteur – auch ein NATO-Mitglied – kann als neutrale Partei zur Beendigung eines Krieges (außerhalb des NATO-Gebiets!) beitragen. Österreich und die Schweiz, verfassungsmäßig neutral, aber politisch und moralisch in westliche Sanktionen verstrickt, haben es nicht gewagt, dasselbe zu tun. Ihre Neutralität ist diskreditiert worden.
Die Schweiz hat eine Ersatzhandlung lanciert, deren Ergebnis die sogenannte Bürgenstock-Konferenz am 15. und 16. Juni war. Die Veranstaltung war zum Scheitern verurteilt, weil sie mehrere Genres vermischte: Es ging um eine Friedenskonferenz, bei der nur eine der am Krieg beteiligten Parteien anwesend war und nur ihre Position auf der Tagesordnung stand.
Russland, das für den Ausgang des Krieges von entscheidender Bedeutung ist, sowie sein Verbündeter China waren nicht, andere nur auf sehr niedrigem Niveau vertreten. Die meisten Teilnehmer waren nicht aus dem Grund anwesend, weil sie an das Ergebnis der Schweizer „Friedenskonferenz“ glaubten oder zu einer schnellen Beendigung des Krieges beitragen konnten (was Washington nicht will), sondern weil diejenigen, die von der Herde ausgeschlossen sind, von den Anführern der globalistischen Sekte verachtet und benachteiligt werden könnten. (Die Teilnahme war freiwillig verpflichtend!!)
Eine diplomatische Lösung bleibt unerwünscht
Dass die Konferenz sowohl der Schweiz als auch den Teilnehmern aufgezwungen wurde, zeigt, dass die USA und ihre unmittelbaren Verbündeten nicht an einer kurzfristigen diplomatischen Lösung interessiert sind. Die Schweizer Ersatzhandlung sollte die Zeit hinauszögern, die Bildung des westlichen Blocks zur Unterstützung der Ukraine demonstrieren und die internationale Legitimität des nicht wiedergewählten ukrainischen Staatschefs, dessen Amtszeit bereits im Mai endete, künstlich aufrechterhalten.
Und um die Illegitimität der Konferenz noch mehr zu betonen, bleibt das ukrainische Präsidialdekret vom 4. Oktober 2022 weiter in Kraft, sodass die ukrainische Regierung nicht mit Russland über eine mögliche Beendigung des Krieges verhandeln kann.
Wir wissen heute, dass ohne westlichen Einfluss der Krieg im April 2022 mit dem bereits paraphierten Istanbul-Abkommen hätte beendet werden können. Es hätte keiner Beteiligung und keiner Pseudofriedenskonferenzen des Westens bedurft, um die einst 52 Millionen Einwohner und 603.000 Quadratkilometer große Ukraine zusammen mit uns Europäern wieder zu einem normalen Leben zu führen – ohne täglich zunehmende westliche Kriegspsychosen und Sanktionen.
Erinnern wir uns daran, dass die Ukraine selbst ein verfassungsmäßig neutrales Land war, als sie 2008 auf Druck der USA als potenzielles NATO-Mitglied benannt wurde. Seitdem wird sie von allerlei Verlusten heimgesucht: Putsch im Jahr 2014, Bürgerkrieg zwischen 2014 und 2022, Gebietsverlust, Bevölkerungsverlust durch Auswanderung, Kriegstote, -invalide und -gefangene, zerstörte Infrastruktur. Und das Ende des Krieges ist nicht in Sicht.
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