From the river to the sea – Über einen Satz, um den es gar nicht geht

From the river to the sea – Über einen Satz, um den es gar nicht geht

From the river to the sea – Über einen Satz, um den es gar nicht geht

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Reden Sie sich jetzt bloß nicht damit heraus, dass es sich hierbei um einen naturverbundenen Wandertipp handelt. Geben Sie endlich zu, dass Sie diese Parole kennen. Und sagen Sie jetzt bloß nicht, Sie seien kein Antisemit! Von Wolf Wetzel.

Die Parole From the river to the sea ist recht alt. Sie war und ist eine Antwort auf die israelische Besatzung des Westjordanlandes, Gazas und der Golanhöhen in Syrien im sogenannten „Blitzkrieg“ 1967.

Mit dieser Parole wollte man zum einen die israelische Besatzung nicht hinnehmen, zum anderen soll sie eine Idee transportieren: Ein Palästina, das weder Nationalitäten, Religionen noch ein Geschlecht privilegiert, sondern die Gleichheit aller achtet. Damals war es eine säkulare Forderung, manche verbanden damit den Traum von einer sozialistischen Gesellschaft. Es ging weder um Gott noch um ein wie immer geartetes Paradies im Jenseits, sondern um ein Palästina, das für alle Platz hat, die dort leben wollen, im Hier und Jetzt.

Was ist aus der Parole geworden?

Da Palästina, in welcher Form auch immer, weiter entfernt ist als die Erde vom Mond, spielt sie keine Rolle mehr. Jetzt geht es nur noch ums Überleben, zwischen Flucht und Flucht, Begräbnis und Begräbnis.

In Israel hat diese Parole hingegen quicklebendig Hochkonjunktur. Da Palästina – für das israelische Kriegskabinett – gar nicht existiert und es das Land auch nicht geben wird, steht diese Parole in diesen Kreisen für das Groß-Israel (Erez Israel), das in der aktuellen Vorstellung den Gazastreifen, das Westjordanland, ein bisschen Ägypten und ganz Jerusalem umfasst. Palästina ist damit ausgelöscht, als Zusage und als Lösung. Zu den Vertretern dieser Sichtweise gehören zahlreiche Regierungsmitglieder, unter ihnen ganz offen und prominent der Finanz- und Siedlungsminister Smotrich.

Und in Deutschland? Hier ist die Parole From the river to the sea ganz klar eines: antisemitisch, also ein Straftatbestand, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit angezeigt und verfolgt wird. Sie enthalte versteckte Vernichtungsfantasien, so die als Holocaust-Nachfolger bestens bewanderten Strafverfolger.

Dass man in Israel und gerade im gegenwärtigen Kriegskabinett offen Vernichtungsfantasien ausspricht, diese im ständig eskalierenden und sich ausweitenden Krieg in die Tat umgesetzt und im deutschen Halb-Kriegskabinett mit dem „Recht auf Selbstverteidigung“ gedeckt werden, komplettiert das Maskeradespiel.

Doch je mehr Länder und Regierungen auf dem Globus diesem Irrsinn den Rücken kehren, desto mehr Bomben werden abgeworfen, desto schneller tötet und massakriert die „moralischste Armee der Welt“ (IDF) – so oft und so wiederholt, dass man in all den Bildern (nicht in Deutschland) die Bereitschaft nicht nur der israelischen Regierung sehen kann, von einer US-geführten Weltordnung in die Apokalypse zu marschieren.

Doppelte Okkupation

Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich selbst als Faschist bezeichnet und die Okkupation im Westjordanland als „Siedlungsminister“ plant, organisiert und mitfinanziert, wurde in einem Interview gefragt, ob Israel mit der Parole „From the river to the sea“ richtig beschrieben ist. Ohne mit der Wimper zu zucken, bejahte er diese neue Grenzziehung bzw. das Groß-Israel, für das er seit Jahren offen eintritt.

Denn das, was vor Jahrzehnten noch als nationalistisch oder „rechtsextrem“ bezeichnet wurde, ist heute Bestandteil der israelischen Regierungspolitik.

In Israel ist diese Parole längst Staatsräson, also faktische Regierungspolitik. Man genehmigt weitere „jüdische“ Siedlungen in Westjordanland. Mittlerweile leben als paramilitärische Einheiten über 300.000 Okkupanten im Westjordanland. Sie plündern palästinensische Häuser, stecken sie in Brand und töten die Bewohner – und die israelische Armee beschützt diese Verbrechen.

Ein faschistischer Visionär

Es gibt viele Politiker, die sich erst mit ihrer Amtszeit politisch gewandelt haben. Dazu gehört Bezalel Smotrich explizit nicht. Er war seit Langem als internationaler Rechtsbrecher bekannt, denn für ihn gibt es kein Israel in den von 1948 festgelegten Grenzen. Für ihn gehören der Gazastreifen, das Westjordanland, Teile von Jordanien und Ägypten dazu.

Kurz nach dem erneuten Einmarsch in den Gazastreifen im Oktober 2023 hat er seine faschistische Vision für diesen Krieg konkretisiert. Das macht er seitdem, mit ministerieller Macht ausgestattet, bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Davon bekommt man in den Laufstallmedien in Deutschland nichts mit.

Wer also aus dem großen Ensemble der bedingungslosen Solidarität mit Israel behauptet, Israel führt einen Krieg in Gaza aus Gründen der „Selbstverteidigung“, der lügt und deckt diese faschistischen Utopien.

Man kann auch nicht sagen, dass die Aussagen des Finanzministers doppeldeutig seien und doch sehr verschieden ausgelegt werden können. Selbst diese billige Ausrede gilt für ihn nicht.

Wie sieht der Siedlungs- und Kolonialismus-Minister den Gazastreifen der „Zukunft“? Das sieht für ihn – wenige Wochen nach dem israelischen Einmarsch in den Gazastreifen – so aus:

Wir werden keine Situation erlauben, in der dort zwei Millionen Menschen leben. Wenn in Gaza 100.000 bis 200.000 Araber leben, wird die Diskussion über den Tag danach eine ganz andere sein. (…) Sie wollen gehen, sie leben seit 75 Jahren in einem Ghetto und in Leid.“
(Quelle: Jüdische Allgemeine vom 31. Januar 2023)

Tatsächlich folgt das israelische Kriegskabinett diesem ausgegebenen Ziel mit allen Mitteln: Man ermordet in nur einem Jahr über 45.000 „Araber“. Man zerstört so gut wie alles, was man zum Leben braucht. Man wollte Ägypten dazu „überreden“, die „Araber“, die das Ghetto und das Leid nicht mehr aushalten, aufzunehmen.

Am Ende wäre man dann bei den über den Daumen angepeilten „100.000 bis 200.000 Arabern“ angekommen. Danach würden dann die Israelis im Gazastreifen leben, mit 100.000 bis 200.000 Sklaven.

Und wie ordnet die Jüdische Allgemeine diesen Plan ein? „Ein Vergleich, mit dem die Verbrechen der Nationalsozialisten und der christliche Judenhass relativiert werden.“ (s.o.)

Das ist schon ein wenig mehr als das, was man in Deutschlands Laufstallmedien zu hören bekommt – in einem Deutschland, in dem seit einem Jahr faschistische Absichten, Kriegsverbrechen und ein Genozid geleugnet werden.

Vielleicht hat die Jüdische Allgemeine vor diesem planvollen Grauen selbst Angst bekommen, denn sie relativiert selbst sowohl den „christlichen Judenhass“ als auch den Holocaust.

Wenn man von den 2,1 Millionen „Arabern“ im Gazastreifen gerade einmal 100.000 bis 200.000 am Leben und in ihrer Heimat lässt, wenn man ein ganzes Land „umvolkt“, dann lässt man selbst den zum Vergleich herangezogenen christlichen Judenhass und den Holocaust hinter sich.

Israels erster Apartheidkrieg – From the river to the sea

Das ausgezeichnete israelische Magazin +972 stellt sich auch immer wieder die Frage, welches Ziel der Vernichtungskrieg in Gaza und im Libanon verfolgt. Es gibt das gängige Argument, dass es nur Netanjahus Krieg sei, der seiner eigenen Entmachtung entgehen will. Die zweite Meinung lautet, dass dem israelischen Kriegskabinett ein Kriegsziel fehle. Es führe Krieg um des Krieges willen und sei in einer (selbst-)zerstörerischen Logik gefangen.

Prof. Oren Yiftachel, Forscher für politische und rechtliche Geografie und Menschenrechtsaktivist, widerspricht dieser behaupteten Ziel- und Planlosigkeit:

Entgegen der landläufigen Meinung zeigt eine klare Analyse des vergangenen Jahres, dass Israel in diesem Krieg weiterhin ein unverkennbares strategisches Ziel fördert: die Aufrechterhaltung und Vertiefung des Regimes der jüdischen Vormachtstellung gegenüber Palästinensern zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. In diesem Sinne könnten die letzten 12 Monate am besten als Israels erster Apartheidkrieg verstanden werden.“

Dass es diese Apartheid-Bestrebungen lange vor dem 7. Oktober 2023 gab, dass sie sogar Verfassungsrang haben – ohne eine existierende Verfassung –, das betont Prof. Oren Yiftachel noch einmal ausdrücklich: Es gibt ein Manifest der gegenwärtigen Regierung, das im Jahr 2022 als „Leitprinzipien/guiding principles“ festgehalten hat, dass „das jüdische Volk ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Gebiete des Landes Israel“ hat – wozu Gaza und das Westjordanland gehören. Ganz in diesem suprematistischen Selbstverständnis erklärte das Kriegskabinett im Juni dieses Jahres, dass es die Errichtung eines palästinensischen Staates ablehnt.

Vom „Rasen mähen“ zur Rasenvernichtung

Was also seit einem Jahr passiert, hat nichts mit dem 7. Oktober 2023 zu tun. Denn der Kriegszustand, den die Besatzung und Annexion bedingen, wurde mit den im Jahr 2022 beschlossenen Leitlinien verewigt. Ein politischer Ausweg wurde damit ausgeschlossen, wodurch das Groß-Israel vom religiösen, reaktionären Rand in die Mitte rückte. Das verändert die mörderische Kriegslogik gewaltig: Bis zum Jahr 2023 galt die Militärdoktrin, alle zehn Jahre „den Rasen mähen“, also die Gegner der Besatzung (PLO/PFLP/Hamas) so zu schwächen, dass sie zehn Jahre Zeit brauchen, um sich zu reorganisieren.

Mit dem jetzigen Vernichtungskrieg geht es darum, den Rasen ganz zu tilgen – also genau die Wahnsinnsideen eines Finanzministers (und zukünftigen Gouverneurs des Westjordanlands) Smotrich in die Tat umzusetzen.

Dass mit dem Krieg auf dem Territorium der Ukraine, also dem Krieg gegen Russland und dem vorbereiteten Krieg gegen die VR China der Kriegszustand im Nahen Osten in den „toten Winkel“ imperialer Überlebenskämpfe gerät, ließ das Kriegskabinett zu Recht zur Flucht nach vorn animieren.

Paradoxe Hoffnung

Obwohl Prof. Oren Yiftachel nüchtern beschreibt, wie zionistische mit rassistischen Visionen verschmelzen, sich miteinander verzahnen, so hat er doch Hoffnung:

Trotz der beträchtlichen Unterstützung, die es (das israelische Regime, d. V.) unter Juden in Israel und im Ausland erhält und von den westlichen Regierungen, die skandalös seine Straflosigkeit sicherstellen. Das israelische Regime ist in seinem ersten Apartheidkrieg alles andere als siegreich. Die Kräfte, die sich dagegen aussprechen, wachsen nicht nur unter den Palästinensern und den arabischen Nachbarländern, sondern auch unter Juden in der Diaspora und in der breiten Öffentlichkeit sowohl des globalen Nordens als auch des Südens. Die Apartheid Israel hat bereits den moralischen Kampf verloren, aber der Verlust seiner internationalen Allianzen, Handelsbeziehungen, wirtschaftlichen Aussichten sowie kulturellen und akademischen Beziehungen kann die Regierung dazu zwingen, ihren Krieg um die jüdische Vormachtstellung zu beenden.“

In jedem Fall ist Prof. Oren Yiftachel aus ganzem Herzen zuzustimmen, dass überall auf der Welt, mit allen Mitteln, die man zur Verfügung hat, diese Kriegsmaschinerie gestoppt werden muss.

Auch Guernica war nicht am Ende der Welt, sondern markierte für einige Beobachter den Beginn eines Weltkrieges.

Titelbild: Rokas Tenys/Shutterstock.com

Quellen und Hinweise:

Finanzminister Smotrich in einer Dokumentation von Arte

Smotrich für Wiederbesiedlung des Gazastreifens, Jüdische Allgemeine vom 31. Dezember 2023

Is this Israel’s first apartheid war? Far from lacking a political strategy, Israel is fighting to reinforce the supremacist project it has built for decades between the river and the sea, Prof. Oren Yiftachel, magazine +972 vom 15. Oktober 2024

Wer hat zum x-ten Mal angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, Wolf Wetzel, 2023

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