„Friedenspreis“ für Applebaum, Orden für Biden: „Merkt Ihr nischt?“ – Tucholskys Zitat ist auffordernder denn je

„Friedenspreis“ für Applebaum, Orden für Biden: „Merkt Ihr nischt?“ – Tucholskys Zitat ist auffordernder denn je

„Friedenspreis“ für Applebaum, Orden für Biden: „Merkt Ihr nischt?“ – Tucholskys Zitat ist auffordernder denn je

Ein Artikel von Frank Blenz

Die gerade gelaufene Buchmesse in Frankfurt erzeugte bei unserem Autor einen kurzen, intensiven Impuls, zu Hause ans Buchregal zu treten und einen alten Band herauszuziehen: Siehe da, er hielt „Deutschland, Deutschland, über alles“ von Kurt Tucholsky in der Hand. Einen Preis würde Tucholsky aber von der heutigen angepassten Kulturszene nicht erhalten: zu „umstritten“. Ein Beitrag von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das vom berühmten, wichtigen, sehr geschätzten Kurt Tucholsky als Bilderbuch bezeichnete Werk ist ein wundervolles, ein beeindruckendes Zeitzeugnis, in Händen liegend als Faksimiledruck aus dem Jahr 1967. Ich fragte mich: Warum gibt es derartige Bücher gerade nicht? Und warum ist Tucholskys „Merkt Ihr nischt?“ eine Frage, die uns heutigen Menschen den Spiegel vorhält? Viel wird über Frieden geredet. Doch beim Eintreten des Gegenteils wird nicht gegengehalten.

Tucholskys Buch (unter Mithilfe von John Heartfield), wäre es heute, im Jahr 2024, erschienen, ich bin mir sicher, ein jetzt lebender Kurt Tucholsky würde darin schäumen vor Aufgebrachtheit über die grassierende Kriegsgeilheit, den fortgesetzten nimmermüden Hass gegen Russland, über die Rüstungsorgien, über die Ignoranz und Arroganz, die sich im meinungsführenden, etablierten Betrieb der politischen, intellektuellen und medialen Klasse und deren angeschlossenen Kreise zeigen. Tucholsky würde auch die politische Klasse Russlands kritisieren und fordern: Waffenstillstand, jetzt! Doch ein solches Tucholsky-Buch auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert, das würde wohl gleich als „umstritten“, als hetzerisch, querdenkerisch, kurz als untragbar für unsere freie, demokratische, gelenkte Gesellschaft betitelt und diffamiert werden. Einen Preis erhielte es nicht.

Friedenspreis in Frankfurt sahnt Angepasste der westlichen „Wertewelt“ ab

Die Buchmesse in Frankfurt, konkret die finale Preisverleihung für Anne Applebaum, erzeugte deshalb bei mir ein Gefühl der Vereinnahmung, der Zurechtweisung. Was Tucholsky sagen würde? Die mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels getätigte Auszeichnung der US-amerikanischen Journalistin Applebaum wirkte für mich wie ein Signal: Da geht es lang und wer nicht folgt, der ist ein mindestens Verirrter, einer, der vom rechten Weg des Mainstreams abgekommen ist.

Auch die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, sagte laut Hessenschau, wo es lang geht, sie schwärmte im Einheitsschritt der westwertigen Lobhudelei, dass Applebaums Bücher helfen würden, „die Welt zu verstehen, wie sie sei“. So, so. Dabei würde die US-Amerikanerin auch „detailliert analysieren, wie ein weltumfassendes autokratisches Netzwerk entstehe, das die Schwachstellen in unseren demokratischen Systemen für sich zu nutzen wisse“. Und schließlich betonte Schmidt-Friderichs, dass „Frieden kein Geschenk sei, sondern die größte Aufgabe unserer Zeit“. Soweit, so gut. Doch an wem wäre es, diese Aufgabe zu erfüllen? Tucholsky und ich im Duo vernahmen nur beweihräuchernde, leere Worte.

Die Frankfurter Rundschau berichtete in Sachen Begründung für die Preisvergabe:

Die Begründung des Stiftungsrats für die Preisvergabe lautet: „In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden“. Applebaum hat die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung aufgedeckt und aufgezeigt, wie zerbrechlich demokratische Gesellschaften sein können.

US-Präsident erhält höchsten Orden

Weil wir gerade unsere innige Freundschaft zu unserem „großen Bruder“ jenseits des Atlantiks in Wallung brachten, passte zum Friedenspreis für Applebaum auch die Auszeichung für Joe Biden: Unser Bundespräsident juchzte geradezu und bekam sich gar nicht mehr ein, als er den US-Präsidenten Biden ein „Leuchtfeuer der Demokratie“ nannte. Springers Welt jubelte mit:

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat US-Präsident Joe Biden für dessen Einsatz für die Demokratie, die deutsch-amerikanische Freundschaft und die transatlantische Partnerschaft in der Nato gewürdigt. „In dieser Zeit, in der die Demokratie in der gesamten westlichen Welt unter Druck steht, sind Sie, Herr Präsident, ein Leuchtfeuer der Demokratie“, sagte das deutsche Staatsoberhaupt bei der Verleihung der „Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik“ an den Demokraten bei dessen Besuch in Berlin. Es ist die höchste Auszeichnung, die Deutschland zu vergeben hat.

Buchladen des Vertrauens, Buchladen der Anpassung

„Merkt ihr nischt?“ Der Tucholsky tauchte bei mir gedanklich um die Ecke auf, sein Lächeln war eines der Marke „Ironie aus“. Ich antwortete ihm in Gedanken: Doch. Ich fragte mich, was los ist mit der Welt, in der Menschen sich die Finger wund schreiben, um die Welt nicht zusammenzubringen. Und in der ein Mensch den Weltführer gibt und von Frieden und von Druck auf die westliche Welt spricht – stattdessen aber selbst zündelt, was die Streichholzschachtel hergibt?

Tucholskys Buch gab mir Antworten. Ich versuchte mir fantasievoll vorzustellen, wo ich sein heutiges Buch erwerben könnte. Da wäre eine kleine Stadt, nahe meiner Heimatstadt. Dort gibt es einen kleinen Buchladen, geführt von einer Buchhändlerin des Vertrauens und Zutrauens, wie ich es formulieren würde. Warum? Inmitten all des medialen, inhaltlichen, ideologischen Einerlei und der strikten Stoßrichtung hin zu Konfrontation und Eskalation agiert diese Frau wie eine Herz- und Seelenretterin, wie eine, die man für den Friedenspreis des Buchhandels vorschlagen müsste. Sie pflegt ihren Buchladen und eine kleine Internetseite. All diese kleinen Details weisen auf große Menschlichkeit und friedensstiftendes Engagement. Das erste Foto der Seite zeigt das Schaufenster, auf dessen Oberfläche ein Hinweis zum Weltfriedenstag gepinnt ist. Die Buchhändlerin hat weiter den Spruch eines berühmten Schriftstellers, Erich Maria Remarque, auf die Seite gestellt:

Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.

Die kleine Nachbarstadt besuche ich, zugegeben, nicht oft. Denn einen weiteren, viel größeren Buchladen habe ich um die Ecke im Stadtzentrum.

Und was erlebte ich da gerade? Eine eigene wie seltsam folgsame Atmosphäre, die die vorherrschende Atmosphäre und Erzählweise unser Zeitenwende-Zeiten aufnimmt und bestätigt. Ja, Buchläden sind politische Orte, sie sind auch Orte der Vielfalt und der Debatte. Im kleinen Städtchen fühlte ich mich mitgenommen vom Angebot, von der Ansage, von der Innigkeit der Buchhändlerin, sich wahrhaft für Frieden, für Verständigung zu engagieren. Im großen Laden lockten Buch-Tische unter anderem der Rubrik Politik, als bestünde die Welt aus einer Scheibe: Bücher über das größte Land der Welt, konkret über „Politische Themen und Themen der Meinungsäußerung“ fand ich vor. Solche: „Putins Krieg“, „Die kürzeste Geschichte Russlands“, „Der lange Weg zum Krieg“, „Die russische Tragödie“, „Was wird aus Russland? – Über eine Nation zwischen Krieg und Selbstzerstörung“.

Schließlich entdeckte ich auch Bücher von der Preisträgerin Applebaum: „Der Gulag“ und „Roter Hunger“. Roter Hunger hatte Stalins Krieg gegen die Ukraine zum Thema. Applebaum lässt keinen Zweifel über ihre Sicht von Ursache und Wirkung aufkommen. Die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels meinte, so las ich es auf der Rückseite des Bandes:

Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist ohne diese historische Last nicht zu verstehen – der erzwungene Hungertod von mehr als drei Millionen Ukrainern 1932 und 1933, Holodomor genannt, war eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Und sie hat Folgen bis heute – Stalins „Krieg gegen die Ukraine“ hat sich tief im kollektiven Bewusstsein der osteuropäischen Völker verankert.

Ich las fertig und überlegte mit Tucholsky: Stalin und Putin, Hungertod, Ukraine, die bösen Russen für immer – Feindpflege ist das, nicht aufklärerisches Engagement. Dass der Buchtisch für einen diversen, bunten Laden ziemlich einseitig war, davon zeugte die Präsentation. Und nebenbei: Reiseführer über das größte Land der Welt – gab es keine. In der Tat zählt Russland gerade zu einer No-go-Area, hat eine Führung, die vom Westen gehasst wird und Krieg führt. Umso mehr müsste doch aber deeskaliert werden, dachte ich vor dem Buchtisch stehend. Wann gehen wir wieder aufeinander zu?

Der neue NATO-Chef kann es gar nicht erwarten, um noch mehr Geld in Rüstung zu stecken

Das Buch von Tucholsky legte ich daheim zur Seite, aufgewühlt von seinen Gedichten, Beiträgen, von den Fotos und Karikaturen. Ich stellte sie mir vor, als wären sie gerade entstanden. Dann käme auch dieser Mann in dem Buch vor, der neue NATO-Generalsekretär, Über den die Tagesschau berichtet:

Rutte erklärte, er könne es kaum erwarten, an die Arbeit zu gehen. Priorität habe für ihn die anhaltende NATO-Unterstützung für die Ukraine, eine Anhebung der Verteidigungsausgaben.

Und der womöglich nächste Bundeskanzler, der droht mit Krieg

Tucholsky würde ebenfalls über Friedrich Merz schreiben. Und ihn für unwählbar halten, so wie in einem Beitrag von Oskar Lafontaine:

Friedrich Merz ist unwählbar. Bisher dachte man, nur der CDU-„Verteidigungsexperte“ Kiesewetter, der den „Krieg nach Russland tragen“ will, sei nicht zurechnungsfähig. Aber offensichtlich denkt Merz ebenso. In der Bundestagsdebatte am Mittwoch sagte er: „Das geht so nicht weiter. Und wenn Putin das nicht akzeptiert, dann muss der nächste Schritt erfolgen und ihm gesagt werden: Wenn er nicht innerhalb von 24 Stunden aufhört, die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu bombardieren, dann müssen aus der Bundesrepublik Deutschland auch Taurus-Marschflugkörper geliefert werden, um die Nachschubwege zu zerstören, die dieses Regime nutzt, um die Zivilbevölkerung in der Ukraine zu schädigen und zu bombardieren.

Derweil geht die Kulturlandschaft am Stock

Merkt ihr nischt? Doch. Den Blick nach außen in die weite Welt zu richten, das ist schlimm. Nicht weniger ernüchternd ist zunehmend der Blick nach innen. Wir, damit meine ich uns als Bürgerschaft mit ihren Kommunen, im ländlichen Raum ebenso wie in den großen Metropolen – wir und unsere kulturellen Angebote gehen mehr und mehr am Stock. In Berlin wird wieder mal über Kulturkürzungen gesprochen, brav versprechen Entscheidungsträger an Theatern Potenziale ausfindig zu machen, mit weniger Geld auszukommen. Bis es dann heißt: Weniger ist leer. Nicht nur Berlin geht am Stock. Und zwar in vielen Bereichen der Zivilgesellschaft. Bis hinein in die Provinz.

In meiner Heimatregion gibt es (noch) eine durchaus vielfältige Kulturlandschaft. Diese wird gehegt und tapfer gepflegt von aktiven Kulturschaffenden, die sich permanent mit der Tatsache konfrontiert sehen, dass Kunst und Kultur als Luxus, als etwas, das man sich leisten können muss, betrachtet wird. Oft wird das Wort „Einsparpotenzial“ ausgesprochen, es hallt wie eine Dauer-Drohung über der Kultur.

Es ist schäbig, dass wir, als eines der reichsten Länder auf dem Kontinent, an der Kultur „sparen“. Wir knausern an Dingen, an Ideen, an Personal und Ausgaben – die unser Leben ausmachen. Bei Dingen, die unser Leben nicht ausmachen, wird Geld verschleudert, was die digitalen Druckerpressen hergeben.

Als Kulturschaffender weiß ich, wie es sich anfühlt, für die Kultur, für Veranstaltungen, für den Erhalt von Einrichtungen, für „Planstellen“ zu betteln und dauernd beweisen zu müssen, dass Kunst und Kultur sich rechnet (das ist nicht monetär gemeint), wichtig ist und nicht etwas ist, was weg kann. Der Einsatz der aktiven Kulturschaffenden ist aufreibend: Über die Jahre kam und kommt es ständig zu Attacken: gegen Theater, gegen Kinos, gegen Jugendeinrichtungen, gegen freie Träger, gegen Veranstaltungsorte. In meiner Heimatregion stehen verschiedene Kultureinrichtungen auf der Kippe, Orte der Begegnung, des Zusammenhalts, der Gemeinschaft, Orte des Schönen. Bis der Schlüssel herumgedreht wird?

Da kommt der liebe, geschätzte Kurt wieder ins Spiel: Seine Frage „Merkt Ihr nischt?“ ist einfach gestellt und gibt eine Antwort schon vor: Sie ist eine Anklage gegen uns. Ja, bei all dem Zusammenbrechen, bei all dieser Wirklichkeit eines Landes der zu vielen seichten Dichter und bequemen Denker, eines Landes, das sich zunehmend verrät und billig demontiert wird hin zu einer kriegerischen, dummen Nation – es kann von den Wachen nur gesagt werden: Wir merken es. Allein, es herrscht Ohnmacht.

Die Entscheidungsträger, die, die Mittel und Möglichkeiten haben, sie tun nichts dagegen, sie setzen auf andere Prioritäten, sie rechnen zynischerweise mit den Engagierten, den Wachen, die ja trotz allem weitermachen, sie nutzen das aus. Schamlos. Doch bald ist Zeit zu sagen, nochmal: Weniger ist leer.

Wir leben in unseligen Zeiten, doch sind diese nicht vom Himmel gefallen. Sie sind nicht nur schwierig, sie sind völlig unnötig. Es muss eine Wende dieser Zeitenwende her. Wer kann an diesem jetzigen Unsinn ein Interesse haben? Während bei Kultureinrichtungen gespart wird oder diese geschlossen werden, an schäbigen Konzepten der Eindämmung unserer wirklichen ideellen Werte herumgebastelt wird, schreien die Eliten unserer Volksparteien, deren Auftraggeber, ihre Freunde und Sympathisanten und die, die dazu gehören wollen, nach noch mehr Geld für Rüstung, Abschreckung, NATO, für die Wehrpflicht usw.

Ein Auszug eines Gedichts auf Seite 224 des Buches von Tucholsky sei noch erwähnt:

Wohltätigkeit. Sieh! Da steht das Erholungsheim einer Aktiengesellschafts-Gruppe; morgens gibt es Haferschleim und abends Gerstensuppe. Und die Arbeiter dürfen auch in den Park… Gut. Das ist der Pfennig. Und wo ist die Mark?
Quelle: Buch Tucholsky „Deutschland, Deutschland – über alles“, Seite 224 (Verlag Volk und Welt Berlin, 1967)

Tucholsky schriebe heute: Würden sie nur mal danach schreien, endlich die Kohle für unsere gedeihliche, für eine aufstrebende Zivilgesellschaft herauszurücken, fern von eitler Fördermittelwillkürlichkeit, weg vom Prekariat von Kultur, Kunst, Sozialem. Dieses Handeln ist friedlich, es dient dem Frieden.

Der bereits oben zitierten Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, würden Tucholsky und ich, sein Leser, sagen, dass es stimmt, wenn sie sagt, Frieden sei die größte Aufgabe. Sie braucht nur hinschauen, die wirklich engagierten Menschen erfüllten diese Aufgabe. Es ist einfach. Sie verdienten darum die Unterstützung, die Lobby, die Mittel, die es braucht. Wie sieht es indes mit den anderen Friedenspredigern aus?

Titelbild: Antonello Marangi / Shutterstock