Man weiß in den meisten Feldern schlicht nicht, wofür die Partei nun eigentlich steht, bei all den Formelkompromissen, den salbungsvollen Beschwörungen, den trotzigen Durchhalteparolen und den abgestandenen Allgemeinplätzen. Von Rainer Balcerowiak.
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Auf den ersten Blick wirkte alles wie immer. 580 Delegierte waren eingeladen, um sich am Freitag zur dreitägigen 1. Sitzung des 9. Bundesparteitags der LINKEN in Halle unter dem Motto „Bereit für ein gerechtes Morgen“ zu versammeln. Im Mittelpunkt der Tagesordnung standen die Beratung und die Abstimmung über einen Leitantrag zur künftigen politischen Ausrichtung sowie die Neuwahl des Vorstandes. Die Besetzung der Doppelspitze der Parteiführung war im Vorfeld bereits ausgehandelt worden. Ines Schwerdtner und Jan van Aken werden die Nachfolge von Janine Wissler und Martin Schirdewan antreten, die bereits vor einiger Zeit erklärt hatten, nicht erneut kandidieren zu wollen.
Aber natürlich war diesmal absolut nichts „wie immer“. Denn im Gepäck der Delegierten befand sich eine Serie von insgesamt vier desaströsen Wahlniederlagen auf EU- und Landesebene, begleitet von Erosionsprozessen und dem endgültigen Ausstieg des Flügels um die frühere Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, deren von ihr im Januar 2024 gegründetes und nach ihr benanntes Bündnis die Linke sowohl in der Wählergunst als auch in der öffentlichen Präsenz deutlich in den Schatten stellt.
In den ersten Wochen nach dem Bruch mit Wagenknecht versuchte es die Rest-LINKE mit einer Art trotzige Aufbruchseuphorie und verwies auf eine regelrechte Eintrittswelle. Doch dann kamen die Wahlschlappen und schnell taten sich in der Partei neue Bruchlinien auf, etwa die Haltung zur NATO, Waffenlieferungen an die Ukraine und die Kriegsführung Israels betreffend, was vor zwei Wochen auf dem Berliner Landesparteitag zu einem handfesten Eklat führte.
Man könnte also meinen, dass der Bundesparteitag die womöglich allerletzte Chance sein könnte, die Fehler und Versäumnisse der LINKEN in den vergangenen Jahren offen und schonungslos zu benennen, statt immer nur auf das verheerende, zerstörerische Wirken der schrecklichen Sahra zu verweisen. Vor allem müsste man sich auf eine einigermaßen kohärente Grundlage der eigenen Politik in den wichtigsten Feldern verständigen, um überhaupt als relevante politische Kraft wahrgenommen werden zu können. Denn derzeit werden der LINKEN laut Umfragen weder in der Friedens-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, noch im Umgang mit der Migration nennenswerte Kompetenzwerte attestiert. Wie auch, denn man weiß in den meisten Feldern schlicht nicht, wofür die Partei nun eigentlich steht, denn außer den innerparteilichen Lagern geschuldeten, mühsam gedrechselten Formelkompromissen kommt da so gut wie gar nichts. Das gilt auch für den in mühsamen Hintergrundgesprächen unter maßgeblicher Beteiligung des designierten neuen Führungsduos erarbeiteten Leitantrag, der am Sonnabend nach nur teilweise lebhafter Diskussion mit einigen Änderungen verabschiedet wurde.
Stinkbomben im Vorfeld des Parteitags
Vom vielbeschworenen „Blick nach vorn“ oder gar einem Aufbruch war auf dem Parteitag — abgesehen von einigen salbungsvollen Beschwörungen und trotzigen Durchhalteparolen — jedenfalls wenig bis nichts zu merken. Auch das war erwartbar, denn im Vorfeld hatten einige Repräsentanten diverse, kräftige Stinkbomben platziert. Die als Hoffnungsträgerin für das Erreichen neuer Wählerschichten als EU-Spitzenkandidatin nominierte Öko- und Flüchtlingsaktivistin Carola Rackete stimmte als „Einstand“ im EU-Parlament für eine Resolution, die deutlich mehr Waffenlieferungen und vor allem die Aufhebung der Beschränkungen des Einsatzes westlicher Waffen gegen Ziele im russischen Hinterland vorsah.
Der ebenfalls im EU-Parlament sitzende, scheidende Parteivorsitzende Martin Schirdewan enthielt sich der Stimme und berichtete den nd-Lesern Ende August, dass er bei seinen Gesprächen in Peking für eine „breite diplomatische Allianz von Brasilien bis China“ geworben habe, „um Putins Regime endlich wirksam zu isolieren“. Und sein Nachfolger als Co-Parteivorsitzender, Jan van Aken, bedauerte im Spiegel, dass Deutschland nach dem Beginn der russischen Militäroperation gegen die Ukraine im Februar 2022 nicht sofort ein 100-prozentiges Ölembargo gegen Russland vollzogen habe.
Der scheidenden Parteivorsitzenden Janine Wissler fiel auch nichts anderes ein, als sich in ihrer Abschiedsrede am BSW abzuarbeiten, den „allgemeinen Rechtsruck“ zu beklagen und einen großen Haufen Allgemeinplätze zu verkünden, garniert mit ein bisschen Optimismus und einer nahezu hymnischen Würdigung für die „vielen großartigen Menschen“ in und außerhalb der Partei, die für das Gute und Schöne kämpfen. Für stehende Ovationen für die gründlich gescheiterte Vorsitzende reichte das allemal. Die allgegenwärtigen Schatten des drohenden Scheiterns bei der Bundestagswahl in einem Jahr und dem damit verbundenen Sturz in die bundespolitische Bedeutungslosigkeit konnte das Geklatsche aber auch nicht vertreiben
Was dann als „Generaldebatte“ folgte, waren in erster Linie blumige Schilderungen der schlimmen Verhältnisse in unserem Land in allen möglichen Bereichen und die linken Antworten darauf. Auch ein bisschen Eingeständnis, dass man im Kampf gegen diese Verhältnisse einige Fehler gemacht habe, die man jetzt korrigieren werde. Auffällig allerdings, dass die auf LINKEN-Parteitagen sonst üblichen Beschimpfungen jeweils anders orientierter Strömungen weitgehend unterblieben. Dennoch wurde in vielen Beiträgen auch deutlich, dass die Partei erhebliche Probleme haben wird, sich in drei zentralen Fragen – Migration, Ukraine und Israel/Gaza – auf einen tragfähigen Kompromiss zu verständigen.
Am Sonnabend ging die zunehmend redundante Generaldebatte dann noch einige Stunden weiter. Unter dem Motto „Die LINKE ist stark, die LINKE ist da, und die LINKE wird weiter eine politisch starke Kraft bleiben“, wie es der Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann formulierte. „Damit der Rentner nicht mehr Flaschen sammeln muss“, wie der anschließend auftretende scheidende Ko-Vorsitzende und EU-Abgeordnete Martin Schirdewan in seiner Abschiedsrede erläuterte, die fast noch dröger war als die seiner Kollegin Wissler. Auch bei ihm viel Geschimpfe über das BSW und sein „prorassistisches“ Auftreten im EU-Parlament, aber kein Wort über seine EU-Kollegin und Kriegsfreundin Carola Rackete. Doch auch das reichte für stehende Ovationen und eine theatralische Abschiedszeremonie für die beiden Ex-Vorsitzenden, obwohl deren Hauptverdienst offensichtlich darin besteht, den zahlreichen Sargnägeln für die Partei, die bereits ihre Vorgänger — allen voran Katja Kipping – eingeschlagen hatten, weitere hinzuzufügen.
Beredtes Schweigen zu strittigen Themen
Nun also Aufbruch. Mit dem mehrfach geäußerten Versprechen, nach dem Parteitag an „hunderttausenden Türen zu klingeln“, um zu erfahren, was die Menschen bedrückt, und das dann direkt in den Bundestag zu bringen. Und mit einem nach weiteren zähen Debatten um ursprünglich 261, aber von der Antragskommission teilweise zusammengefassten Änderungsanträge schließlich verabschiedeten Leitantrag mit dem recht indifferenten Titel „Gegen den Strom“. In dem geht es viel um Fokussierung auf soziale Themen wie Mieten, höhere Löhne und Renten, dazu „Kampf gegen rechts“, ein bisschen Frieden, ein bisschen Klima und ein bisschen Allerlei. Und mit so viel Formelkompromissen bei den Streitfragen Ukraine, Israel und Migration, dass das Aufbrechen der innerparteilichen Konfliktlinien wohl nur eine Frage von wenigen Tagen sein wird. Abgelehnt wurden unter anderem alle Änderungsanträge, die den Ukraine-Krieg deutlicher als geopolitisches Schlachtfeld charakterisieren wollten oder sich strikt gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine richteten. Anträge zur Antisemitismusdefinition wurden zur späteren Beratung vorsichtshalber an den Parteivorstand überwiesen.
Und mit neuen Gesichtern. Mit der Quereinsteigerin Ines Schwerdtner, die erst im August 2023 in die Partei eintrat und zuvor vor allem als Publizistin tätig war, unter anderem als Chefin des Magazins Jacobin. Sie hatte von vornherein keinen Hehl daraus gemacht, an die Parteispitze zu streben. Und mit dem Ex-Bundestagsabgeordneten Jan van Aken, der sich als Biowaffenexperte einen Namen gemacht hat.
Schwerdtner nannte ihre Partei in ihrer Bewerbungsrede „unglaublich lebendig“, und sie werde gebraucht: „Bitte lasst euch nichts anderes einreden“. Doch auch sie hatte nur ein paar abgestandene Allgemeinplätze zu bieten: gegen rechts, gegen einen „Blackrock-Kanzlerkandidaten“, für „Klarheit, Fokus und Glaubwürdigkeit“. Dazu ein bisschen Friedensrhetorik, aber keine Position zu weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch von Schwerdtner gab es eine hilflos-dümmliche Tirade gegen das BSW und – ohne direkte Namensnennung – gegen Sahra Wagenknecht. Für die Krise ihrer Partei trügen diejenigen die Verantwortung, die „noch bis zum letzten Tag lächelnd in eine Kamera, Scampi-Pizza essend, diese Partei ausgezehrt haben. Sie sollten sich schämen“, so die Analyse der neuen Vorsitzenden zum Niedergang ihrer Partei.
Es folgte eine extrem brave Fragerunde mit extrem braven Antworten: Kandidatur für den Bundestag? (Ja) Für oder gegen das Bedingungslose Grundeinkommen? (eher skeptisch) Wie die älteren Genossen besser einbinden? (Patenschaftsprogramme) Wieder mehr eine Ost-Partei? (Jein). Ihr im Vorfeld gepflegtes Image der jungen, unverbrauchten Erneuerin dürfte nach diesem Auftritt bereits schwer gelitten haben.
Auch Jan van Aken hatte wenig mehr als ein paar Sprechblasen zu bieten. Etwas überraschend lediglich sein Vergleich linker Solidarität mit der erlebten Gemeinschaft in seinen Zeiten als katholischer Messdiener. Auch von ihm kein Wort zu den strittigen Themen. Und ohnehin: „Jetzt ist Schluss mit Zoff! Wir gehen nach dem Parteitag da raus und rocken die Republik.“ Aber das klang weniger nach Rock’n’ Roll, sondern eher nach bemühtem Bierzelt-Sound.
Auch an ihn (mit einer Ausnahme) hauptsächlich öde Fragen und öde Antworten. In den Bundestag? (derzeit eher nicht) Wie gegen Querschüsse in der Partei vorgehen? (mal gucken) Waffenlieferungen nach Israel und an die Ukraine? Ist das Vorgehen in Gaza ein Genozid? (will er am Sonntag was sagen).
Dann ging es zur Urne. Jan van Aken erhielt ziemlich gute 88 Prozent, Ines Schwerdtner eher durchwachsene 79,8 Prozent. Danach ein bisschen Budenzauber mit Bühnenfeuerwerk und Lightshow. Und eigentlich hätte man diesen Parteitag jetzt auch beenden können, denn wer interessiert sich schon für die Besetzung der nachgeordneten Posten und endlose Fensterreden zu nachrangigen Anträgen. Das könnte man nun wirklich online erledigen. Man könnte jetzt eigentlich rausgehen und in Halle schon mal damit anfangen, an Haustüren zu klingeln, um die frohe Botschaft zu verkünden. Man hat jetzt zwei neue Gesichter an der Spitze, einen blumigen Leitantrag mit vielen Sprechblasen, Formelkompromissen und Leerstellen. Und man wartet jetzt auf den beschworenen Aufschwung. Der natürlich nicht kommen kann und wird, denn das ist alles viel zu dünn, abgeschmackt und erkenntnisresistent.
Immerhin: Trotz der misslichen Lage der Partei und dem drohenden Absturz in die Bedeutungslosigkeit haben die Autoren des Leitantrags ihren Humor noch nicht ganz verloren. Dort heißt es gegen Ende: „Nach der Bundestagswahl 2025 treten wir wie verabredet in eine programmatische Debatte ein, die bis 2027 abgeschlossen sein wird.“ Bleibt allerdings die Frage, ob sich dann noch irgendjemand dafür interessieren wird. Wenigstens einen Bundesparteitag wird es irgendwann aber noch geben, denn schließlich muss ja jemand das Licht ausmachen.
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Titelbild: nitpicker / Shutterstock