Wolf Wetzel hat seine Autobiographie geschrieben und dabei sein Leben in „drei Hälften“ geteilt. Unseren Lesern ist Wetzel unter anderem durch seine Berichte zur NSU-Affäre bekannt. Hier folgt ein Auszug aus dem Buch mit einer persönlichen Einführung von Wolf Wetzel.
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Ich habe für die NachDenkSeiten jahrelang über den NSU-Prozess – oder besser gesagt: über den NSU-Verfassungsschutz-Komplex – berichtet. Jetzt möchte ich den Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten die Möglichkeit geben, dies einzuordnen.
Neben der politischen Seite dieser neonazistischen Mordserie gab es auch immer eine persönliche, biografische Seite, die mich bewegte und nicht losließ. Dazu gehörten immer wieder die Fragen: Warum kann so ein faschistischer Untergrund wie der NSU so lange „unerkannt“ existieren? In welchem gesellschaftlichen Umfeld konnte der NSU agieren? Tauchte der NSU wie der Phönix aus der Asche auf oder war das Feld gut bestellt?
Was meinte Bertolt Brecht, als er – bereits im Exil in den USA – aufschrieb: „Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“? (aus dem Theaterstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“)
Für mich konnte ich diesen bedrohlichen Satz sehr wörtlich, geradezu „genetisch“ fassen: Mein Vater, so lange ich ihn als Jugendlicher kannte, war – ab und an – ein Held für mich, ein Kriegsheld; vor allem, wenn er mir von seinen Kriegserlebnissen im Zweiten Weltkrieg erzählte und ich ihm an den Lippen hing. Ich bewunderte ihn und das, was er alles (durch)gemacht, was er alles überlebt hatte. Wobei ich sein Leiden nicht spürte, denn es war völlig von Heldentaten zugedeckt. Erst 30 Jahre später, als ich mein Leben von vorne bis hinten aufrollte, stieß ich auf einen „anderen“ Vater: Er meldete sich 1943, als schon fast alles verloren war, freiwillig zur Waffen-SS. Er beging Kriegsverbrechen – in Jugoslawien, in Ungarn, in Frankreich.
Das ist die äußere Seite meiner biografischen Verstrickung, die innere war für mich viel schwieriger zu fassen und zu begreifen. Was mich 30 Jahre nicht interessierte, denn für mich war mein Vater bereits Anfang der 1970er-Jahre „gestorben“, musste ich jetzt herausbekommen.
Wie kommt ein Junge von 16 Jahren dazu, sich am Ende des Krieges freiwillig bei der Waffen-SS zu melden? Was war das für ein „Zuhause“, das er unbedingt gegen die Waffen-SS eintauschen wollte? Warum kam er nie aus dem Krieg, denn er verschlang danach Hunderte von Landser-Heften, die nichts anders als Kriegsverherrlichung für die Nachkriegsdeutschen waren? Woher kommt diese Verleugnung, die Verdrängung, für die man kein Nazi sein musste?
Und es kommt noch etwas Bedenkliches dazu, was meine Seite anbelangt. In der zweiten Hälfte meines Lebens, als ich zu Hause rausflog und damit mein eigenes Leben begann, bekam ich es schnell mit Faschismus, mit Neonazis und faschistischen Gesinnungen zu tun. Ein gesellschaftlich gut gesattelter Ruf am Rand einer Demonstration war: „Euch hat man vergessen zu vergasen“.
Ich beteiligte mich an vielen antifaschistischen Aktionen und Demonstrationen und verschlang Bücher, die sich mit dem Faschismus auseinandersetzten. Das reichte von Rosa Luxemburg, Walter Benjamin über August Thalheimer, Wilhelm Reich bis zu Reinhard Kühnl. Dabei interessierte mich nicht nur die Geschichte des Faschismus, sondern auch die verschiedenen Theorien, die das Entstehen des Faschismus, seine „Faszination“ in der Bevölkerung und die Rolle des bürgerlichen Staates zu erklären versuchten.
Davon gab es verwirrend viel und in einer Tiefe, die ich heute gänzlich vermisse. Aber, und das charakterisiert die „dritte Hälfte“ meines Lebens, ich brachte all das über 30 Jahre lang nicht mit meinem Vater, mit seinen Kriegsabenteuern zusammen. Warum?
Die Suche, diese Lücke zu schließen, brachte mich u.a. zu einem neuen Blick auf den Faschismus, der ja auch heute an jeder Ecke lauert. Ich habe ihn, den Faschismus, die „Nazis“ immer ganz außen verortet, am „rechten Rand“, wie sich eine sehr gute Zeitschrift aus dem antifaschistischen Spektrum nannte. Heute denke und erlebe ich es ganz anders: Der Faschismus entsteht nicht am Rand, sondern kommt aus der Mitte. Die Gründe für einen wieder aufblühenden Faschismus in Deutschland und Europa liegen nicht jenseits dessen, was bürgerliche, kapitalistische Gesellschaften ausmacht, sondern was sie in Latenz mit sich tragen.
Damit werden wir noch viel beschäftigt sein, denn von dieser Frage, also ihrer Beantwortung hängt es ab, wie und was wir gegen diese faschistischen Tendenzen tun.
Warum machen Sie das?
Diese Frage stellte mir eine Schülerin, die um die 15 Jahre alt gewesen sein dürfte. Es war in einer Gesamtschule in Baden-Württemberg im Jahr 2017. Ich hielt dort einen Vortrag über die Gefahr des Neonazismus.
Dorthin möchte ich Sie entführen – womit auch mein aktuelles Buch endet – hier folgt der entsprechende Auszug daraus:
Ich war ziemlich müde. Ich stand bis zu den Knien im NSU-VS-Sumpf, und je mehr ich verstand und mitbekam, desto tiefer versank ich darin. Für Außenstehende kein schöner Anblick und ein Grund mehr, sich fernzuhalten.
Das ist nicht nur stofflich gemeint, sondern vor allem sinnlich, emotional. Ich habe nicht die Gabe, mir mein Tun und die Welt schönzureden. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt etwa 40 bis 50 Veranstaltungen gemacht, von Konstanz bis Bremerhaven. Sie haben mir meistens nicht Mut gemacht, sondern mich ausgelaugt. Mir ist dabei nicht entgangen, dass die meisten der Zuhörer über 50 Jahre alt waren. Bereits diese Tatsache war eine Niederlage. Jüngere hielten das Thema für unschön oder für „umstritten“. Wenn ich erklärte, dass man zehn Jahre „Behördenversagen“ nicht mit Zufällen und Pannen erklären kann, dann stand ich mehr im Verdacht, zu spinnen, als dass man sich mit dem auseinandergesetzt hätte, was an alldem systemisch und durchaus gewollt war und ist.
Ich spürte zunehmend, dass es überhaupt nicht um die Fakten geht, um ihre Bedeutung und um ihre historische Einordnung. Es ging und geht um Angst, sich nicht auf dieses Terrain zu begeben.
Die wenigen berührenden Augenblicke gab es, als mir Verfolgte des Naziregimes Mut zusprachen und mir für mein Engagement dankten oder Veranstalter mir anboten, bei ihnen für ein paar Tage Urlaub zu machen, wenn ich mal ausspannen will.
Als mich eine Anfrage aus Baden-Württemberg erreichte, in einer Gesamtschule Vorträge über den NSU-VS-Komplex zu halten, war ich alles andere als begeistert. Komme ich da nicht in Teufels Küche? Was will ich 15- bis 18-jährigen Schülerinnen und Schülern erklären, was 20- bis 30-Jährige nicht wissen wollen? Was erwartet mich in der Gesamtschule nahe Heilbronn? Waren dort auch Jung-Nazis, vielleicht sogar in der Mehrheit?
Ich sagte dennoch zu, da ich noch nie in einer Schule einen Vortag gehalten hatte. Das Thema war definitiv außerhalb des Lehrplanes: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Neonazismus und Verfassungsschutz?
Das ist im Normalfall schon für ganz Erwachsene eine Heraus- und Überforderung. In der Regel hält man den Neonazismus und den Verfassungsschutz für zwei völlig verschiedene Dinge. Wer ganz verfassungspatriotisch eingestellt ist oder sich einfach nur im Schlagzeilenbereich aufhält, geht selbstverständlich davon aus, dass uns der Verfassungsschutz vor dem Neonazismus schützt.
Ich bereitete meinen Vortrag gut vor, was mir wiederum Spaß machte. Denn die Herausforderung bestand darin, ein sehr komplexes Thema auf beispielhafte und wesentliche Aspekte zu komprimieren.
Im ersten Kapitel stellte ich die Geschichte meines Vaters kurz vor, der sich mit 16 Jahren freiwillig zur Waffen-SS meldete, um den Eltern zu entfliehen, die ihn als Findel-/Heimkind aufgenommen hatten, da sie selbst keine Kinder bekommen konnten.
Dann folgte die Geschichte des ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten Filbinger, also seine Nazi-Vergangenheit und die Art und Weise, wie er und seine Partei damit umgingen. Im letzten Drittel ging es um den NSU, seine guten Kontakte in Baden-Württemberg und die besondere Rolle von Polizisten in Ku-Klux-Klan-Vereinigungen.
Diesen etwa 60-minütigen Vortrag hatte ich mit Bildern und Grafiken geschmückt, die ein Schüler an die Wand warf, als ich ihm ein Zeichen gab.
Erschöpft und gut vorbereitet fuhr ich los. Obwohl ich für abseitige Dinge gar keinen inneren Platz hatte, streifte ich alle Stationen meines Lebens, die mit Baden-Württemberg zusammenhängen. Zuerst sah ich ein Schild mit dem Namen Korntal und blieb innerlich hängen, denn dort befand sich mein erstes Kinderheim. Dann erinnerte mich das Straßenschild Stammheim auf doppelte Weise an diesen Ort: Zum einen besuchte ich dort meinen Vater im Knast, und viel später spielte Stammheim als Knast- und Justizort eine große Rolle, als dort RAF-Gefangene inhaftiert und nebendran verurteilt wurden. Davor oder dazwischen lag Waiblingen, eine wirklich nicht hübsche Kleinstadt, in der meine Oma lebte – die Einzige, die ich mit Familie in Verbindung bringen kann. Es gibt sogar noch einen Geruch, der mir sofort in die Nase steigt, wenn ich daran denke: Es war das leckerste Paprikagemüse, mit kleinen angebratenen Fleischkügelchen aus Kalbsfleisch.
Manchmal liegt alles sehr nah beieinander.
Es waren ungefähr 60 Schülerinnen und Schüler in der Aula. Sie hörten aufmerksam zu, und mein didaktischer Einfall, vor jedem Kapitel Fragen an die jungen Leute zu richten, kam gut an. Fairerweise muss ich dazusagen, dass meistens ein und derselbe Schüler sofort aufstand und bemerkenswertes Wissen kundtat. Die anderen schwiegen.
Am Ende stellte der Lehrer, der die außergewöhnliche Veranstaltung im Rahmen des Schulunterrichtes leitete, die obligatorische Frage: „Habt ihr noch Fragen?“
Ein Mädchen meldete sich. Ich habe sie auf 16 oder 17 Jahre geschätzt. „Es ist bestimmt nicht leicht, so ein Thema zu bearbeiten. Wahrscheinlich machen Sie sich damit auch keine Freunde. Warum machen Sie das trotzdem?“
Ich bin es gewohnt, auf Fragen zu antworten, ohne etwas von meinem Inneren preiszugeben. Bei dieser Frage stockte ich, zumal ich spürte, dass diese Frage keine Anstandsfrage war. Sie kam aus tiefem Herzen.
Ohne zu überlegen oder abzuwägen, fiel die Antwort aus mir heraus:
„Ich möchte alles tun, damit es solche Väter wie meinen nicht mehr gibt.“
Wolf Wetzel: Die drei Hälften meines Lebens. Opfer, Täter, Störenfried, Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024, gebundene Ausgabe, 240 Seiten, ISBN 978-3-86489-455-8, 25 Euro
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