Stimmen aus Lateinamerika: Die Spinne auf dem Fahrrad

Stimmen aus Lateinamerika: Die Spinne auf dem Fahrrad

Stimmen aus Lateinamerika: Die Spinne auf dem Fahrrad

Ein Artikel von amerika21

Würden die Migranten weltweit eine Nation bilden, wäre sie die viertgrößte nach Indien, China und den USA. Im August dieses Jahres sank vor der italienischen Küste eine mit Milliardären besetzte Jacht. Die Tragödie ging durch die Nachrichten, die Welt war schockiert, die italienische Küstenwache mobilisierte ihre besten Taucher und Ausrüstungen. Unterdessen geht fast jede Woche ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen, darunter auch Kinder, im Mittelmeer unter, und niemand weint. Von Frei Betto.

Es gibt mindestens drei Arten von Flüchtlingen: wirtschaftliche, politische und Klimaflüchtlinge: Diejenigen, die versuchen, Algerien zu erreichen und dann die Wüste Sahara zu durchqueren, finden die Grenzen nun geschlossen. In vielen afrikanischen Ländern zwingt die Belastung durch Inflation, Arbeitslosigkeit und Gewalt Menschen dazu, in der Hoffnung auf ein besseres Leben auszuwandern.

Im Jahr 2020 wurde die Zahl der Migranten weltweit auf 281 Millionen geschätzt. Würden sie eine Nation bilden, wäre sie die viertgrößte der Welt, nach Indien, China und den USA.

Die meisten Migranten fallen nicht in den Geltungsbereich der Konvention und des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, die 1951 zu Beginn des Kalten Krieges verabschiedet wurden. Damals ging der Eurozentrismus der Konvention davon aus, dass die Flucht aus dem sozialistischen Lager auf die „Unfreiheit” zurückzuführen war. Freiheit wurde als ein Attribut des Westens angesehen. Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen wurden nicht berücksichtigt.

Auch heute noch wird unter „Flüchtling” jemand verstanden, der vor politischer Verfolgung fliehen will, nicht jemand, der vor Hunger, Elend, Arbeitslosigkeit oder Krieg fliehen will.

Warum suchen so viele Menschen einen sicheren Hafen in Westeuropa und den USA? Weil diese Metropolregionen das Bild verbreiten, dass dort Überfluss, Freiheit und Gerechtigkeit herrschen. Die arme Mehrheit ist sich nicht bewusst, dass der Reichtum der kolonisierenden Länder durch Völkermord an den Indigenen, Sklavenhandel, Plünderung der natürlichen und kulturellen Reichtümer angehäuft wurde.

Die ehemaligen Kolonialherren beuten die Entwicklungsländer weiterhin aus, indem sie ihnen Investitionen versprechen, die sie an immerwährende Schulden binden, oder durch den IWF und die Weltbank mit ihrer tödlichen Politik. Woher kommen die Waffen für so viele lokale Kriege? Wer stellt die Minen her, die armen Bauern, Fischern und Handwerkern Beine und Hände amputieren? Wo werden die Devisenreserven der kolonialisierten Nationen aufbewahrt? Wer beutet das Lithium aus, das in den Batterien von Tablets, Smartphones, Kameras und Elektrofahrzeugen verwendet wird?

Von den 281 Millionen Flüchtlingen im Jahr 2020 wurden 26,4 Millionen registriert und 4,1 Millionen beantragten Asyl. Die anderen 250,5 Millionen waren IWF- und Klimawandelflüchtlinge. Der Globale Migrationsbericht 2024 der Vereinten Nationen hebt hervor, dass „die Zahl der Menschen, die durch Konflikte, Gewalt, Katastrophen und andere Gründe vertrieben wurden, den höchsten Stand aller Zeiten erreicht hat”. Dabei handelt es sich um Migranten, nicht nur um Menschen, die vor Verfolgung fliehen.

Angesichts der Verschuldung der Entwicklungsländer – Ursache für die Zahlungsunfähigkeit Mexikos im Jahr 1982 – wendet der IWF Strukturanpassungsmaßnahmen an, die die Regierungen zwingen, Investitionen in das Gesundheits- und Bildungswesen zu kürzen und Ressourcen in exportorientierte Sektoren wie den Bergbau und die Agrarindustrie zu stecken.

Der Bericht der Afrikanischen Entwicklungsbank von 2018 zeigt, dass westafrikanische Bauern aufgrund von Klimakatastrophen und bewaffneten Konflikten vom Land in die Städte gezogen sind, wo sie nun in schlecht bezahlten informellen Jobs arbeiten. Angetrieben vom Traum von einem besseren Leben sind viele von den höheren Löhnen im Westen und in der Golfregion angezogen worden und migriert. Im Jahr 2020 ging beispielsweise das größte Kontingent an Migranten in die USA, nach Deutschland und Saudi-Arabien. In diesen Ländern werden sie im Allgemeinen als minderwertiger Abschaum behandelt.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die USA ihre militärische und wirtschaftliche Macht verstärkt, um Regierungen zu stürzen, die versuchen, die Souveränität über ihr eigenes Territorium zu bewahren. Heute ist ein weiteres Drittel der Länder, insbesondere der Entwicklungsländer, von US-Sanktionen betroffen, wie etwa der Blockade, die seit mehr als 60 Jahren gegen Kuba verhängt ist. Solche Sanktionen hindern diese Länder oft daran, das internationale Finanzsystem zu nutzen, was zu wirtschaftlichem Chaos führt.

Von den 6,1 Millionen venezolanischen Migranten, die ihr Land verlassen haben, taten die meisten dies aufgrund von illegal auferlegten US-Restriktionen, die die Vitalität der Wirtschaft Venezuelas zerstörten, eines Landes, das über die größten Ölreserven der Welt verfügt. Es ist paradox, dass die USA und die Europäische Union eine Anpassung an ihre Interessen fordern, während sie gleichzeitig diejenigen, die aus den blockierten Ländern fliehen, wie Abschaum behandeln. Deutschland zum Beispiel hat damit begonnen, Afghanen abzuschieben, während die USA ihre Grenzen für sie schließen und Lateinamerikaner ausweisen.

Im Jahr 2021 schätzte die Weltbank, dass es bis 2050 mindestens 216 Millionen Klimaflüchtlinge geben wird, die mit unerfüllten Versprechen leben. Auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP21) in Paris im Jahr 2015 beschlossen die Staats- und Regierungschefs, eine Task Force für Vertreibung einzurichten. Drei Jahre später, im Jahr 2018, stellte der UN Global Compact fest, dass Menschen, die durch den Klimawandel vertrieben werden, geschützt werden müssen. Das Konzept der Klimaflüchtlinge hat sich jedoch noch nicht durchgesetzt, und die Maßnahmen bleiben auf dem Papier.

Kein Migrant will seine Heimat und sein Land verlassen, um in den Metropolenländern, die ihn zur Migration zwingen, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Frauen weigern sich, große Entfernungen zurückzulegen, weil die Gefahr geschlechtsspezifischer Gewalt ein großes Risiko darstellt. Sie ziehen es vor, in Würde zu leben, auch wenn dies unter prekären Bedingungen geschieht.

Für die reichen Länder, in denen die Eugenik die Kultur prägt, sind Flüchtlinge mit einem ähnlichen Biotyp wie die Herkunftsbevölkerung „weniger blutbefleckt”. Aus diesem Grund öffnete Europa mitten in der Kampagne zur Ablehnung der „Horden” afrikanischer Migranten im Jahr 2022 seine Arme und Taschen, um ukrainische Flüchtlinge mit weißer Haut, hellen Augen und blondem Haar aufzunehmen.

Der palästinensische Dichter Fady Joudah schrieb in Mimesis:

„Mein kleines Mädchen wollte der Spinne nicht wehtun / Die sich zwei Wochen lang auf dem Lenker ihres Fahrrads eingenistet hatte / Sie wartete, bis sie aus freien Stücken herauskam / Wenn du das Netz wegwirfst, sagte ich ihr, wird sie wissen, dass dies kein Ort ist, den sie Heimat nennen kann / Und du kannst mit deinem Fahrrad fahren / Mein kleines Mädchen sagte zu mir: So werden andere zu Flüchtlingen, nicht wahr?”

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika 21.

Zum Autor: Frei Betto („Bruder Betto“), mit bürgerlichem Namen Carlos Alberto Libânio Christo, ist Dominikaner und gilt als einer der wichtigsten Befreiungstheologen Lateinamerikas.

Titelbild: Shutterstock / DepoWrin

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!