Am Montag hat die NATO ihre jährliche zweiwöchige Nuklearübung „Steadfast Noon“ gestartet. An der Übung werden mehr als 60 Flugzeuge aus 13 Ländern und mehr als 2.000 Personen teilnehmen, um die Einsatzbereitschaft des Bündnisses zu demonstrieren. Ein Beitrag von Anatol Lieven, aus dem Englischen übersetzt von Éva Péli.
Linas Linkevičius, der litauische Botschafter in Schweden, verteidigte die Nuklearübung „Steadfast Noon“ und bezeichnete sie als „eine Botschaft an den größten geopolitischen Wahnsinnigen des Jahrhunderts“. Er warnte, dass Putins „nuklearer Bluff Kosten und Konsequenzen haben kann und wird“.
Wenn Putin wirklich ein Wahnsinniger ist, der jederzeit bereit ist, Atomwaffen einzusetzen, warum sollte ihn dann eine regelmäßige jährliche NATO-Übung von einer Eskalation abhalten? Und wenn er andererseits kein Wahnsinniger ist und nur blufft, welche „Kosten und Konsequenzen“ kann die NATO dann Russland für seinen Bluff auferlegen? Eine Übung wird sicherlich keine verursachen.
Linkevičius‘ Kommentare veranschaulichen gut die unaufhörliche Tendenz westlicher Diplomaten, den Kuchen zu haben und zu essen. Putin ist gleichzeitig ein irrationaler Wahnsinniger, der jeden Moment einen Atomkrieg auslösen wird, und ein Anführer, der „blufft“, wenn er mit einer harten Reaktion droht, sollten bestimmte rote Linien Russlands überschritten werden. Putin ist so ein Wahnsinniger, dass er, wenn er nicht in der Ukraine besiegt wird, die NATO und die baltischen Staaten angreifen wird, was möglicherweise einen Atomkrieg auslösen wird. Und doch ist er ein so schwacher Bluffer, dass er nicht reagieren wird, wenn die NATO sich anschickt, Russland in der Ukraine zu besiegen. Europäische Diplomaten können nicht entscheiden, ob Putin handeln wird oder nicht.
Die Wahrheit ist, dass es nur ein Szenario gibt, das Russland an den Rand oder über den Rand des Einsatzes einer Atomwaffe bringen würde – abgesehen von einem direkten Angriff auf russisches oder einer Blockade von russischem Territorium: die Aussicht auf eine völlige Niederlage in der Ukraine, was unwahrscheinlich ist.
Wie CIA-Direktor William Burns preisgab, war seine Behörde nur im Herbst 2022 wirklich besorgt über eine nukleare Eskalation durch den Kreml, als die russischen Streitkräfte aus Charkiw vertrieben worden waren und in Cherson Gefahr liefen, eingekesselt und vernichtet zu werden. In Wirklichkeit eskalierte Putin jedoch nicht, sondern befahl einen taktischen Rückzug aus Cherson.
Seitdem hat Russland die ukrainischen Offensiven zum Stillstand gebracht und dringt – wenn auch langsam und mit hohen Verlusten – in der Ostukraine vor. Es besteht die Gefahr, dass die ukrainische Front irgendwann vollständig zusammenbricht. In diesem Fall könnte ein in Panik geratener Westen beschließen, Truppen oder Flugzeuge in die Ukraine zu schicken, was einen direkten Krieg mit Russland auslösen würde. Genau diese Eventualität soll durch das russische nukleare Säbelrasseln verhindert werden.
Es stimmt, dass es 2023 in Russland eine öffentliche Debatte über den präventiven Einsatz von Atomwaffen in einem Erstschlag gab. Die Befürworter dieser Position wurden jedoch von der Mehrheit des russischen Establishments scharf verurteilt, und Putin selbst lehnte den Gedanken ab. „Es ist sicherlich theoretisch möglich, Atomwaffen auf diese Weise einzusetzen“, sagte er letztes Jahr. Da jedoch keine ernsthafte Bedrohung für die Existenz des russischen Staates bestehe, „sehen wir keine Notwendigkeit, sie einzusetzen“.
Dies ist der Debatte im Westen nicht ganz unähnlich. Einige Stimmen haben sich für westliche Truppen in der Ukraine oder eine „Flugverbotszone“ der NATO über der Ukraine ausgesprochen. Mit anderen Worten: Einige argumentieren, dass die NATO de facto als Infanterie- und Luftwaffe der Ukraine dienen sollte, aber die Biden-Regierung und die meisten Mitgliedstaaten des Bündnisses haben diesen Vorschlag kategorisch abgelehnt.
Zweifellos findet die NATO-Übung in dieser Woche in einer Zeit erhöhter Spannungen statt, in der Putin öffentlich über Russlands Nuklearpolitik nachdenkt. Sowohl der Westen als auch Russland sind sich jedoch bewusst, dass eine Eskalation hin zu einer echten Gefahr eines Atomkriegs ein Akt unsäglicher Torheit wäre und dass, um es mit den Worten von Ronald Reagan zu sagen, ein Atomkrieg „nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“. Trotzdem wäre es eine gute Idee, wenn sich einige westliche Beamte daran erinnern würden, dass Diplomaten diplomatisch sein sollten und dass hirnloses, genetisch programmiertes Twittern ausschließlich für die Vögel gedacht sein sollte.
Anatol Lieven ist ehemaliger Kriegsberichterstatter und Direktor des Eurasia-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington, D.C.
Der Beitrag ist ursprünglich auf Unherd erschienen.
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