Im Interview spricht die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guérot über den Rechtsruck in Europa und der Welt, ihr widerfahrene Zensur als Präzedenzfall gegen die Wissenschaftsfreiheit sowie die Rolle Deutschlands in der aktuellen Kriegspolitik gegen Russland. Sie plädiert für eine Rückbesinnung auf „vernünftige gesellschaftliche Ordnungsmodelle“ und eine „gemeinwohlorientierte Europäische Republik“. Zudem regt sie das Nachdenken über eine neue Synthese zwischen Demokratie und Sozialismus an. Das Interview führte die spanische Journalistin Carmela Negrete Navarro.
Carmela Negrete Navarro: Frau Guérot, ist der Faschismus denn auf dem Vormarsch in Europa?
Ulrike Guérot: Ich glaube, wir müssten uns einmal grundsätzlich darüber unterhalten, was Faschismus ist. Ich wehre mich dagegen, die heutigen „populistischen“ Parteien pauschal als faschistische Parteien zu bezeichnen – die Wähler schon mal gar nicht. Ich tue mich schwer zu sagen, dass Orbán, Marine Le Pen oder [Herbert] Kickl oder wer auch immer, z.B. Alice Weidel, dass diese Politiker alles Faschisten sind.
Wir können diskutieren über Migration. Wir können diskutieren über eine enthumanisierende Sprache. Wir können natürlich über den klassischen Anspruch einer humanitären Agenda, nämlich dass „alle Menschen frei geboren und gleich an Würde und Rechten sind“ und dass in populistischen Milieus mit Blick auf diesen Grundsatz oft eine deklassierende und eine abschätzende Sprache gewählt wird (z.B. „Remigration“), die diesen Begriff der Würde mit Blick auf Migranten verletzt, diskutieren, und das stimmt. Radikal „Grenzen zu“ zu fordern, ist sicher keine Lösung. Fakt ist aber auch, dass es ein Migrationsproblem gibt, das nüchtern betrachtet werden will: Wie viel Zuwanderung ist möglich, wie viel ist nötig, wie wird sie reguliert, sodass soziale Systeme und auch Bevölkerungen mit Blick auf ihre Integrationsfähigkeit nicht überfordert werden und kein Aggressions- oder Gewaltpotenzial in Gesellschaften entsteht?
Die Frage ist, ob wir das als Faschismus bezeichnen, vor allem, weil z.B. die nicht-populistischen Parteien, etwa die Sozialdemokraten in Deutschland, aber z.B. auch in Dänemark, inzwischen die gleichen Forderungen erheben und das Gleiche machen, nämliche eine recht radikale Abschiebungspolitik, z.B. in Schweden. Die SPD macht inzwischen Abschiebungsprogramme. Wenn also eine klare Kante gegenüber Flüchtlingen Faschismus wäre, dann müsste man die SPD oder die dänischen Sozialdemokraten auch als „Faschisten“ bezeichnen.
Es ist klar, dass wir ein Flüchtlingsproblem haben, und zwar europaweit. Es gibt offenbar keine Bereitschaft mehr in Frankreich, in Österreich, in Großbritannien, in Deutschland oder den Niederlanden, mehr Zuwanderung zuzulassen. In allen großen europäischen Städten, egal ob Paris oder Berlin, gibt es das Gefühl einer Überfremdung. Es gibt Probleme, die Menschen in Jobs zu bringen, es gibt ein Problem mit Blick auf Wohnungen oder Schulen, es gibt eine Konkurrenz im unteren Segment mit den lohnschwachen Deutschen, und dieses Problem muss gelöst werden. Ich persönlich glaube nicht, dass man diese Probleme durch Abschiebung löst, die eher Symbolpolitik ist, aber strukturell keine Lösung. Jemanden z.B. nach Afghanistan zurückzuschicken, wo jetzt die Frauen in Afghanistan wieder nicht in die Schule dürfen, das kann nicht die Lösung sein. Aber natürlich befeuern Gewaltverbrechen wie etwa in Solingen solche Forderungen.
Durch die große Flüchtlingswelle 2016 und jetzt die Flüchtlinge aus der Ukraine ist hier etwas aus den Fugen geraten, und es gibt eine ressentimentgeladene Stimmung in der Bevölkerung, wenn dann noch Kriminaldelikte dazukommen. Dieses Problem muss geregelt werden durch eine offene Diskussion über das Asylrecht und die Frage, für wen es gelten soll. Ich habe gestern in einem anderen Interview gesagt, die Unehrlichkeit besteht darin, dass wir viele Flüchtlinge aufnehmen, die eigentlich keinen Asylstatus bekommen. Eine ehrliche Politik wäre zum Beispiel zu sagen, es gibt eine „Green Card“, wir lassen gezielte Migration zu.
Alle Demografen sind sich einig, dass Deutschland Migration braucht als offenes Land, ökonomisch, und weil wir eine bunte, offene, diverse Gesellschaft wollen. Ich finde den Begriff der „Wirtschaftsmigration“ problematisch, weil es immer so war, dass Menschen für ein besseres Leben irgendwo hingegangen sind. Aber es gibt ein berechtigtes Interesse, das zu steuern, denn wenn unter dem Druck von Populismus und Rechtsdruck ganze Gesellschaften und Demokratien nicht mehr funktionieren, dann ist niemandem geholfen – den Migranten nicht und dem Land auch nicht. Es ist niemandem damit gedient.
Wenn wir nicht von Faschisierung, sondern von Rechtsruck sprechen: Denken Sie, das hat mit dem Kriegsregime in der Europäischen Union zu tun?
Alles hat etwas mit dem Krieg zu tun. Wenn wir jetzt sozusagen unter Kriegsrecht und in einer Kriegswirtschaft sind und wahnsinnig viele Milliarden für diesen Krieg ausgeben, merkt man das überall. Ein Krieg braucht willige Bürger. Die Meinungskorridore werden deswegen durch den Krieg noch weiter eingeschränkt. Wenn alle kriegstüchtig werden sollen, sind Widerspruch und Kritik ein Problem und Debatten werden unterbunden. Dazu werden jetzt in ganz Europa Gesetze gemacht unter dem European Digital Services Act.
Das heißt, es gibt europäische Gesetzgebungsprozesse, Hatespeech und Hassreden-Regulierung oder Gesetze gegen „Fake News“ etc., die zum Ziel haben, die Meinungsfreiheit oder auch nur kritisches Hinterfragen einzuschränken. Und das ist in jeder Hinsicht heikel, weil man nicht mehr weiß, was man noch sagen und was man vergleichen darf. Wenn jetzt zum Beispiel in Thüringen Björn Höcke gewählt wurde und die ZDF-Moderatorin Schausten diese Wahl mit der NSDAP vergleicht, wenn sie sagt, dass wir jetzt zum zweiten Mal in 85 Jahren eine Art rechter „Machtergreifung“ haben, dann halte ich das für höchst problematisch.
Denn wir können heute einfach nicht sagen, dass die AfD wie die Nationalsozialisten sind. Wir wissen von dieser Geschichte über „Correctiv“, die im Januar 2024 so massiv in der Presse war, dass dies zum großen Teil erfunden wurde, dass über „Remigration“ so nicht diskutiert wurde. Insofern ist die Frage, was meinen wir, wenn wir heute über Faschismus reden? Ich glaube nicht, dass man die AfD verbieten sollte, und auch nicht, dass man die gesamte AfD und schon gar nicht ihre Wähler als Faschisten bezeichnen kann.
Sehen Sie sich als Opfer von diesen Einschränkungen in diesem Kriegsregime? Und wie, denken Sie, würde es Menschen wie Ihnen gehen, wenn die AfD an der Macht wäre?
Naja, die AfD ist zwar gegen diesen Krieg, aber trotzdem z.B. für die NATO und das Zwei-Prozent-Ziel. Die AfD ringt meines Erachtens gerade intern um ihr Gleichgewicht zwischen sogenannten „Atlantikern“ und Eurasiern. Die Partei hat mit Blick auf die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline, Diplomatie und Frieden mit Russland viel unternommen. Noch konsequenter aber ist an dieser Stelle das BSW. Klar ist, dass durch diese große Erzählung vom notwendigen Krieg, für den wir alle kriegstüchtig gemacht werden sollen, die autoritäre Versuchung größer und das Diskutieren schwieriger werden. Das führt dazu, dass eine echte Diskussion darüber, ob dieser Krieg gut und sinnvoll für Europa ist, einfach nicht geführt wird. Aber diese Diskussion hat mit meiner Person nichts zu tun, und ich wüsste nicht, was ich von der AfD zu befürchten hätte.
Ich bin natürlich kein Opfer. Opfer ist man, wenn etwas passiert, wofür man nichts kann. Ich habe ein Buch geschrieben, dann wurde ich sanktioniert und mir wurde aus fadenscheinigen Gründen gekündigt. Ich stelle also nur fest, dass die Diskussion über den Krieg in diesem Land offenbar hochgradig gereizt ist, dass andere als die regierungsamtlichen Meinungen offensichtlich schnell liquidiert und an den Rand gedrängt werden, weil man die Diskussion über den Kern der Frage, nämlich ob dieser Krieg gut ist für Europa – ja oder nein – nicht zulassen will. Und dieser Krieg ist natürlich nicht gut für Deutschland und nicht gut für Europa.
Ich bin ja nicht die Einzige, die das sagt. Das sind auch Patrik Baab, Frau Krone-Schmalz oder Klaus von Dohnanyi, Günter Verheugen oder General Kujat und viele andere, die da an den Rand gedrängt werden. Insofern hat dieses „Kriegsrecht“, das jetzt herrscht, einen eindeutigen Impact auf die Meinungsfreiheit.
Und weil wir schon über die Militarisierung Europas gesprochen haben: Sehen Sie da eine besondere Rolle, die Deutschland einnimmt? Aus den Zeitenwenden-Diskursen führender Politiker bekommt man den Eindruck, dass Deutschland zu einer militärischen Weltmacht aufgebaut werden soll.
Naja, also ich glaube nicht, dass Deutschland jetzt Weltmacht werden soll – im Gegenteil. Ich glaube, dass wir einen amerikanischen Stellvertreterkrieg auf dem europäischen Kontinent haben, das kann man ja nachweisen. Das hat Stoltenberg schon gesagt, das sagen selbst viele Amerikaner. Vor diesem Hintergrund ist die europäische Frage, warum wir es zulassen, dass wir durch diesen Krieg sozusagen in die Selbstschädigung des europäischen Kontinentes gehen. Denn für Europa ist eine Friedensordnung mit Russland oder auch mit China sehr wichtig. Wir nehmen jetzt eine Spaltung Europas in Kauf, die wir weder wirtschaftlich noch sozial, gesellschaftlich oder strategisch irgendwie verarbeiten können. Und dann streiten wir uns auch noch über diesen Krieg unter Europäern, weil die Spanier, die Portugiesen, die Italiener, die Griechen und eben die Deutschen oder die nordischen Staaten nicht die gleiche Position zu diesem Krieg haben. Was man in Spanien und in Frankreich dazu denkt, ist nicht das, was man in Polen denkt oder was die Balten wollen.
Das heißt, Europa hatte einmal die Erzählung „nie wieder Krieg“ und soll sich jetzt über einen Krieg einen und es soll diesen Krieg auch noch sozusagen für die Amerikaner führen. Denn die Amerikaner werden sich nach den Wahlen am 5. November aus diesem Krieg herausziehen, ganz egal, ob Donald Trump oder Kamala Harris gewählt wird.
Europa aber kann sich nicht über einen Krieg einen, die europäische Einigung wird Schaden nehmen. Für mich ist es eine große Tragödie, dass es möglich war, diese Kriegserzählung vom „notwendigen Sieg über Putin“ auf dem europäischen Kontinent zu verankern. Und deswegen muss diese Kriegserzählung weg. Stattdessen müssen wir als Europäer wieder an unsere eigenen Erzählungen und Pläne anknüpfen, die wir 1991, 1992 hatten. Politische Union mit Blick auf die EU und eine Sicherheitsarchitektur mit Russland, die Charta von Paris und der Vertrag von Maastricht, das waren unsere Erzählungen. Übrigens an Österreich einen schönen Gruß, aber Bruno Kreisky wollte das auch. Das heißt, wir hatten mit Kreisky, Olaf Palme und Willy Brandt damals auch völlig andere Politiker, die sozusagen genau das gewollt haben, nämlich ein friedliches Europa, das sich nach Osten öffnet und übrigens auch in den Nahen Osten hinein, das also im Osten wie Süden Partnerschaft und Kooperation sucht.
Denn mit Blick auf den Nahen Osten sieht es derzeit ja auch schrecklich aus, ein Inferno sozusagen. Zu dem Konflikt zwischen Israel und Palästina ist jetzt der Konflikt zwischen dem Iran und dem Libanon hinzugekommen, und alles ist völlig unübersichtlich. Offenbar sollen jetzt zwei Millionen Palästinenser aus dem Gazastreifen vertrieben werden. Israel werden alle Militäroperationen gestattet, obgleich bei 40.000 zivilen Opfern – davon 17.000 Kinder – nicht mehr nur von reiner Verteidigung gesprochen werden kann, sondern von Vergeltung und Völkermord.
Natürlich darf das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werden, was niemand bestreitet. Die eigentliche Frage ist, ob wir noch an einer Zweistaatenlösung arbeiten. Offenbar nicht, denn der Begriff ist völlig aus dem Diskurs. Was aber dann? An einer „Republic Haifa“, wie Omri Boehm sie vorschlägt? Das wäre schön, eine gleichsam multiethnische, multireligiöse „Republik Haifa“ oder „Republik Israel“, gerne! Aber eine solche Republik kann nicht entstehen, wenn man zwei Millionen Palästinenser vertreibt. Eine solche Republik kann eben kein zionistischer Staat sein.
Auch dieser Krieg ist letztlich durch den Zusammenhang von Holocaust und seiner Verknüpfung mit der Frage des Existenzrechts Israels natürlich ein europäischer Krieg. Und in beiden Kriegen muss Europa sich entscheiden, ob es einen Friedensimpuls hat, ob es sozusagen die Hände der Diplomatie und der Versöhnung reichen will, anstatt einseitig Israel zu unterstützen und Waffen zu liefern. Europa als Friedensmacht wird im Osten und im Süden gebraucht, aber Europa scheitert leider buchstäblich an beiden Fronten. Europa ist parteiisch, es ist nicht schlicht und einfach für den Frieden, und das macht die europäische Idee und letztlich Europa kaputt.
Sie wurden von der Universität Bonn entlassen, und ein Gericht hat die Kündigung wegen angeblichen Plagiats bestätigt. Wie geht es nun weiter?
Ich hatte am 24. April 2024 meine Verhandlung in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Bonn, habe verloren und bin daraufhin in Berufung gegangen. Im August wurde die Berufungsklage eingereicht. Die Universität Bonn muss jetzt bis Ende Oktober auf unseren Berufungsschriftsatz antworten, dann wird das Landesarbeitsgericht Köln einen Gerichtstermin nennen, wahrscheinlich für das Frühjahr 2025. Und inzwischen habe ich meine sogenannten „Plagiate“ öffentlich gemacht unter plagiatsvorwurf-guerot.info.
Zwei Schweizer Sozialwissenschaftlerinnen, Tove Soiland und Lydia Elmer, haben die Plagiatsvorwürfe wissenschaftlich untersucht und analysieren auf dieser Webseite die Fehler genau. Im Kern sind es geringfügige Zitierfehler in einem nicht wissenschaftlichen Buch, die unter Fehlertoleranz laufen müssten, aber kein Plagiat. Mein Fall ist in gewisser Weise ein Präzedenzfall. Es gibt viele prominente Fälle von Plagiat, z.B. bei Annalena Baerbock oder Frau Giffey oder jetzt Mario Voigt, die teilweise bis zu 80 Prozent in Dissertationen plagiiert haben und daraus keine Konsequenzen ziehen mussten. Der Verdacht der Doppelstandards, je nach politischer Haltung, liegt also sehr nahe.
Was hat das alles für Sie bedeutet, persönlich in Ihrer Karriere und auch für die Allgemeinheit, für die Wissenschaftsfreiheit?
Naja, für mich persönlich hat es erst einmal bedeutet, dass mir im Februar 2023 gekündigt wurde, ich meine Stelle verloren habe und damit auch mein Einkommen. Das ist schon relativ „sportlich“, wenn man 58 Jahre alt ist. Jeder hat laufende Rechnungen oder Kredite, und auf einmal ist das Geld weg. Ich musste mich kurz vor 60 komplett neu erfinden. Ich bin ja aus Österreich an die Universität Bonn gegangen, die mich mit einer sogenannten „Einserliste“ gerufen hatte und unbedingt wollte. In Bonn hatte ich mir gerade eine neue Wohnung eingerichtet, die Wände schön gestrichen und ein paar Möbel gekauft. Und dann ist man sozusagen kaum angekommen und wird gekündigt. Der emotionale und finanzielle Schaden war also groß, das kann sich ja jeder vorstellen, wenn Sie kurz vor 60 gerade in ein neues Leben aufbrechen, und dann findet dieses neue Leben nicht statt. Es war schon hart. Aber unabhängig von meinen Emotionen geht es ja um mehr, denn natürlich ist ein Zeichen an andere Wissenschaftler gesendet worden: Haltet euch zurück mit kritischen Meinungen, sonst suchen wir bei euch mal, ob es irgendwo ein Krümelchen von Fehlern gibt, und dann seid ihr draußen.
Das Buch, das ich zusammen mit Hauke Ritz über Europa und den Ukrainekrieg geschrieben habe, war ja nur ein Essay. Und in diesem Buch – „Endspiel Europa“ – ist kein einziger inhaltlicher noch formaler Fehler gefunden worden. Aber das Buch war politisch brisant, weil wir den russischen Angriffskrieg aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet und von einem amerikanischen Proxykrieg gesprochen haben. Das ist insofern interessant, weil die Universität Bonn im Oktober 2022 dann eine öffentliche Erklärung gemacht und sich von mir wegen „wissenschaftlichen Fehlverhaltens“ distanziert hat.
Kommen wir wieder zurück von dieser Frage auf die allgemeine Ebene. Wie geht es denn nun weiter in dieser Situation für Europa?
Also, letztendlich könnte man die große These wagen, dass wir rund einhundert Jahre später immer noch den europäischen Bürgerkrieg von 1914 diskutieren – und jetzt möglicherweise ein dritter Weltkrieg anfängt. Wie immer in Kriegszeiten nehmen die sozialen Spannungen zu, Mittelschichten sacken ab, einfach durch die Energiepolitik. Unter diesem Druck gedeiht natürlich der Populismus, wie Walter Benjamin das auch für den Zweiten Weltkrieg schon gesagt hat: „Vor jeder faschistischen Periode steht eine gescheiterte soziale Revolution.“ Der populistische Druck fokussiert sich dann auf die Flüchtlinge, weil es für die eigene Bevölkerung nicht mehr reicht.
In dieser Situation gedeihen dann völkische oder rassistische Diskurse, die von rechtskonservativen Denkern seit langen Jahren vorbereitet wurden, Götz Kubitschek z.B. und die Sezession, die dieses ganze Gedankengut vom „homogenen Volk“ oder auch kultureller Überlegenheit der „Weißen“ oder Inkompatibilität der Kulturen bearbeiten. Diese sind jetzt das Einfallstor in die derzeit zugleich hochgradig emotionalisierten und atomisierten Gesellschaften, die schon während der Pandemie gelitten haben: soziale Verwerfungen, Deindustrialisierung etc.
Wichtig zu begreifen scheint mir, dass hinter dieser vordergründig völkischen oder auch autoritären Versuchung ein kapitalistischer Treiber steckt. Dem Kapital ist es letztlich egal, ob es Faschismus gibt oder nicht – Hauptsache, es gibt keinen Sozialismus. Das heißt, die kapitalistische Erzählung ist mit der faschistischen Erzählung kompatibel. Der Populismus wird, wie in allen historischen Epochen, vom Kapital instrumentalisiert.
Insofern könnte man sagen, dass wir in ganz Europa – mit ein paar Jahren der Befriedung zwischendurch – immer noch den gleichen intellektuellen Bürgerkrieg zwischen einer kapitalistischen und einer sozialistischen Gesellschaftsordnung haben, der nur vordergründig als Krieg zwischen Nationalstaaten geführt wird. Und das heutige Kriegsgeschehen würde uns dann jetzt vielleicht zum dritten Mal in eine kapitalistische, faschistische Gesellschaftsordnung drängen.
Andere Debatten werden verdrängt, nämlich z.B. die Debatte darüber, ob wir uns eine europäische, sozialistische Gesellschaft überhaupt vorstellen können. Ich habe es einmal eine gemeinwohlorientierte Europäische Republik genannt. Oder könnten wir uns noch Euro-Kommunismus vorstellen? Benjamin Kunkel hat in seinem Buch „Utopie oder Untergang“ von 2012, das während der Bankenkrise geschrieben wurde, das Nachdenken über einen demokratischen Sozialismus angeregt; auch Axel Honneth, der als großer Theoretiker der Frankfurter Schule gilt. Er hat in seinem Buch „Die Idee des Sozialismus“ von 2015 auch geschrieben, dass wir im 21. Jahrhundert eigentlich über eine neue Synthese zwischen Demokratie und Sozialismus nachdenken müssten.
Und es kann nicht sein, dass wir uns dieses Nachdenken weiterhin verwehren, weil der realexistierende Sozialismus in der Sowjetunion gescheitert ist. Natürlich war der Stalinismus schlimm, niemand bestreitet das. Aber die Tatsache, dass etwas einmal gescheitert ist, heißt ja nicht, dass man es nicht ein zweites Mal unter anderen Vorzeichen noch einmal ausprobieren könnte. Wer einmal das Abitur nicht besteht, probiert es meistens ein zweites Mal. Zumindest sollte das Nachdenken darüber erlaubt sein, welche Möglichkeiten es geben könnte, eine Synthese von Sozialismus und Demokratie als politisches Ordnungsmodell noch einmal anders für eine europäische Gemeinschaft zu formulieren.
Momentan haben die libertären „Denker“ à la Javier Milei Oberwasser, und es wird de facto viel über die Abschaffung des Staates diskutiert. Wenn aber das Kapital direkten Zugriff auf die Bürger hat, sind wir wieder im Feudalismus angekommen. Die europäischen Gesellschaften haben aber alle eine originär soziale oder gemeinwohlorientierte Prägung, die sich aus dem Begriff der Republik ergibt: res-publica.
Die europäische Ideengeschichte kennt im Bereich der Ökonomie von sozialistischen Theorien bis hin zur katholischen Soziallehre starke Konzepte von Communitas und von Sozietät, also von solidarischen Gesellschaften und von eher egalitären Gemeinschaften. Man könnte sehr verkürzt sagen, der europäische Sozialismus ist säkularisiertes Christentum.
Nicht umsonst ist das europäische, humanistische Erbe die Losung der französischen Revolution: „Liberté, Egalité, Fraternité“. Diese ideellen Strömungen sind de facto mit der neoliberalen Variante der amerikanischen Ökonomie, wie sie in den USA seit spätestens dem Zweiten Weltkrieg durchexerziert wird, nicht kompatibel. Sogar die US-amerikanische Gesellschaft reagiert inzwischen auf die soziale Spaltung.
Und das ist der, ich sag’ mal, „europäische Bürgerkrieg“, den wir jetzt vielleicht zum dritten Mal auf diesem Kontinent machen – bzw. hoffentlich nicht machen, weil wir vorher den Krieg auf dem Kontinent beenden, damit dem europäischen Populismus den Wind aus den Segeln nehmen und vernünftige gesellschaftliche Ordnungsmodelle finden. Man könnte auch sagen: indem wir die Republik wiederfinden.
Titelbild: Carmela Negrete Navarro