Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar, und Petra Erler, frühere EU-Mitarbeiterin, analysieren in ihrem neuen Buch „Der lange Weg zum Krieg“ die Wurzeln des Konflikts in und um die Ukraine und zeigen, welche Interessen hier am Werk sind. Ein Bericht von Éva Péli über die Buchvorstellung in Berlin.
„Das Recht des Stärkeren darf niemals siegen und es entlastet Putin auch nicht, das andere es auch schon gemacht haben. Es setzt das nur in Perspektive, denn diejenigen, die sich heute so über diese furchtbare Aggression beschweren, das sind doch die Aggressoren, die seit Jahrzehnten über diesen Globus laufen und einen Krieg nach dem anderen, ein Regimechange nach dem anderen vom Zaun brechen und sich für die Demokratie in Wahrheit nicht wirklich interessieren.“
Das sagte die Politikwissenschaftlerin Petra Erler Mitte September in Berlin, als sie ihr gemeinsam mit dem ehemaligen EU-Kommissar Günter Verheugen veröffentlichtes Buch „Der lange Weg in den Krieg“ vorstellte. Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige Mitarbeiterin der letzten DDR-Regierung sowie von Verheugen als EU-Kommissar beantwortete im Berliner Kulturhaus „Peter Edel“ Fragen zum Buch und zum Thema. Die stellte ihr Alexander Neu, ebenfalls Politikwissenschaftler und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Linkspartei.
„Wir tragen eine maßgebliche Mitschuld daran, dass sich dieser Konflikt zuspitzte“, sagte Erler. Sie sieht den Beginn des Konflikts in den Verhandlungen ab 1990, mit denen die sogenannte deutsche Einheit vorbereitet wurde, die Übernahme der DDR durch die BRD. Die alliierten Siegermächte wie auch die beiden deutschen Staaten hätten über den besten Weg dafür diskutiert.
Frühzeitig habe sich gezeigt, dass die USA das größere Deutschland in der NATO halten wolle. Das sei auch das Ziel der letzten DDR-Regierung gewesen, erinnerte sich die ehemalige Staatssekretärin, allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die NATO zu einem politischen Bündnis wandele, das allen offensteht.
Krieg um die Weltordnung
Für Erler handelt es sich bei dem gegenwärtigen Krieg auf ukrainischem Territorium um einen Weltordnungskrieg, wie sie auf eine Frage von Neu sagte. Zum vermeintlichen russischen Imperialismus erklärte sie, der gegenwärtig einzig imperiale Staat seien die USA, die ihre globale Hegemonie zu verteidigen suchten.
Dabei spiele die Ukraine eine wichtige Rolle, erklärte sie mit Verweis auf Zbigniew Brzezinski. Es sei aber nicht das erste Mal in der Geschichte, dass sie als „Rammbock“ gegen Russland gesehen und benutzt werde. Das Deutsche Reich habe im Ersten Weltkrieg geglaubt, wenn es die drei baltischen Staaten und die Ukraine als die Kornkammer vom zaristischen Russland abtrenne, könne es dieses schlagen.
Sie kritisierte, dass der Westen nie aufgehört habe, arrogant die legitimen russischen Sicherheitsinteressen zu ignorieren. Es handele sich um „Realitätsverweigerung“, wenn bis heute unter anderem deutsche Medien und deutsche Politiker wie Kanzler Olaf Scholz (SPD) die in Istanbul erreichten Verhandlungsergebnisse bestritten, so Erler.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Neu äußerte in dem Gespräch mit Erler seine Vermutung, wenn ein Land der EU beitreten wolle, müsse es erst in die NATO aufgenommen werden. Das habe sich bei den bisherigen Osterweiterungen von NATO und EU gezeigt.
Doch die ehemalige EU-Mitarbeiterin widersprach dem und sagte, als sie für die erste Runde der EU-Osterweiterung tätig war, habe es nie Gespräche oder eine Zusammenarbeit mit der NATO gegeben. Die NATO wolle nach ihren eigenen Grundsätzen keine Mitglieder, die Konflikte in das Bündnis tragen, weshalb auch die Ukraine bis heute nicht Mitglied geworden sei.
Tote Diplomatie
Erler beklagte, dass es in der EU anscheinend ein „Diplomatieverbot“ gegenüber Russland gebe:
„Mit Russland wird nicht gesprochen. Das bedeutet, dass wir in einer Lage sind, die viel schlimmer ist, als es zu Zeiten des Kalten Krieges war, als zumindest in der Kubakrise noch Chruschtschow und John F. Kennedy miteinander kommunizierten und einen Ausweg aus der Krise fanden. Es gibt niemanden mehr, der mit Moskau spricht und Dinge auslotet.“
Es sei noch nie zuvor Diplomatie so kriminalisiert worden, so stigmatisiert worden. Die Suche nach Verständigung sei in den Staub getreten worden, so die Co-Autorin des Buches. Es sei alles „offen für Spekulationen“, was gravierende Folgen habe angesichts der Tatsache, dass die USA und Russland Nuklearmächte sind. Es handele sich um „eine Art Russisches Roulette, in dem wir alle nur verlieren“.
Gesprächspartner Neu wies auf die Friedensreise des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hin, der dafür von den EU-Politikern „dämonisiert, quasi verbal hingerichtet“ worden sei.
Laut Erler war eine der Triebfedern für das Schreiben des Buches die zunehmende Verengung des Diskurses. Die Autoren wollten den „Narrativen auf den Grund gehen und verstehen, was den Menschen erzählt wird, um Kriegsbegeisterung aufrechtzuerhalten und Russenhass zu schüren.
Beide gehen auch deutlich mit der deutschen Politik ins Gericht, die aus ihrer Sicht einen gehörigen Anteil an dem Weg in den Krieg hat, weil sie den Entspannungskurs der einstigen Ost-Politik aufgab. Berlin habe gemeinsam mit Paris die Möglichkeit gehabt, den russischen Einmarsch in die Ukraine zu verhindern, schreiben sie gegen Ende ihres faktenreichen Buches. Die Verhandlungen zwischen beiden Seiten mit internationaler Vermittlung hätten genutzt werden müssen, um die Kämpfe frühzeitig zu beenden.
Lehre aus der Geschichte
Zugleich verweisen sie auf die US-Interessen, eine wirkliche kontinentale Zusammenarbeit in Europa, einschließlich Russlands, zu verhindern. Es sei bekannt gewesen, „wie die USA ticken“. „Wenn man den USA dennoch folgt, … verwundet man sich selbst und wird zur tragischen Figur“, warnen die Autoren im Buch. Aus ihrer Sicht sollte Deutschland seine Macht in der EU nutzen, um Frieden zu erreichen und zu sichern.
„Immer geht es aus Sicht der USA um ihre globale Dominanz. Dem wird alles untergeordnet: das Schicksal Deutschlands und Europas, einschließlich der Ukraine, einschließlich Russland.“
Die beiden politikerfahrenen Autoren warnen angesichts dessen vor einem direkten Krieg des Westens gegen Russland im Fall einer ukrainischen Niederlage und befürchten, dass darauf alles hinausläuft. Dagegen fordern sie von der deutschen Politik, in der EU und international alles zu tun, „um den aktuellen Krieg in der Ukraine umgehend zu beenden und sich dann um Versöhnung in Europa zu bemühen. Damit Verständigung entsteht und Frieden.“
Deutschlands Geschichte lehre, dass „Gegnerschaft oder gar Feindschaft mit irgendeinem Land der Welt“ nichts bringe. Stattdessen solle „ein ganz praktisches und stetes Bemühen um Frieden das deutsche Markenzeichen in der Welt“ sein.
Der Westen in seiner Blase
Doch ist die Politologin nicht sehr zuversichtlich. Denn Deutschland ist Teil der sogenannten Koalition der Goldenen – die goldene Milliarde –, ein russischer Begriff, erklärt sie, den sie gerne benutze. „Wir sind nur eine Milliarde, gegenüber sieben Milliarden.“ Letztere hätten verstanden, worum es Russland geht. Es gehe um Interessenlagen, „die wir – im Westen – zunehmend schlecht einschätzen und glauben, sie, die anderen sind nicht richtig informiert, wir müssen sie ein bisschen bilden“.
„Denn wer schon seine eigenen Interessenlagen nicht richtig einschätzen kann“, sagte Erler in Berlin, „wer sich so vertut bei der ganzen Sanktionspolitik, wer sich so vertut in einer Strategie, die praktisch den einzigen Fall hervorrufen würde, in dem der Einsatz von russischen Nuklearwaffen überhaupt legitim wäre, nämlich die Unterminierung der Existenz Russlands. Bei denen kann man nicht erwarten, dass er nun sozusagen immer die objektiven Entscheidungen trifft beziehungsweise er überhaupt die Realitäten der Welt zur Kenntnis nimmt.“
Sie äußerte unter anderem ihre Sorge, dass der Westen in seiner Hybris „in einer Blase“ feststecke, während sieben Milliarden in der Welt „sich zunehmend verwundert die Augen reiben, was wir an Heuchelei und Doppelzüngigkeit unter dem Banner von Werten und Demokratie so alles betreiben“.
Buchtipp:
Günter Verheugen/Petra Erler: «Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung»
Heyne Verlag 2024. 336 Seiten; ISBN 978-3-453-21883-3; 24 Euro
Titelbild: Tilo Gräser