Von einer „Revitalisierung der Friedensbewegung“ spricht Reiner Braun vom zehnköpfigen Organisationsteam der Demonstration an der Siegessäule in seiner Rede. Der Blick über die dichtgedrängten Menschenmassen, darunter viele junge Leute, lassen diese Aussage realistisch erscheinen. Eine Reportage von Ramon Schack.
Es handelt sich um die dritte große Kundgebung gegen Krieg, Aufrüstung und Militarisierung, nach den Demonstrationen im Februar und November vergangenen Jahres, nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine, die am 3. Oktober in Berlin stattfand.
„Das letzte Mal war ich hier, als der Obama seine Rede hielt“, berichtet Roswitha freimütig, eine 59-jährige Erzieherin, die zusammen mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Schwester vor Ort anwesend war. Das war im Jahr 2008, als der damalige US-Präsidentschaftskandidat die deutsche Hauptstadt für eine Wahlkampfrede auserkoren hatte, wenige Monate bevor er ins Weiße Haus gewählt wurde. „Der war dann ja auch eine Enttäuschung“, bemerkte Roswitha, „aber bei der Wagenknecht, da bin ich ganz sicher, die gibt den Kampf für den Frieden nicht auf!“ Roswitha stammt nach eigener Darstellung „aus einem soliden sozialdemokratischen Elternhaus“ in Berlin-Spandau.
„In meiner Familie wurde immer SPD gewählt, aber mit der heutigen Partei komme ich nicht mehr klar“, erwähnt sie, während der SPD-Politiker Ralf Stegner als Redner ausgebuht wird. Dieser SPD-Bundestagsabgeordnete hatte Waffenlieferungen an die Ukraine als zulässig bezeichnet, solange das Land sich damit verteidige. Seine eigene Partei bezeichnete er als „Partei der Friedensbewegung“.
Ja, die Demonstration ist ein Erfolg. Einigkeit besteht bei allen Rednern der Schlussveranstaltung an der Berliner Siegessäule darüber, dass die Aufrüstung Deutschlands und eine weitere Eskalation des Krieges beendet werden müssen.
„Durch das Vorgehen der NATO-Staaten wird die Krise weiter angeheizt. Ich fordere Demilitarisierung und Diplomatie“, erklärt Falk, ein 38-jähriger Augenarzt aus Hamburg, der extra zur Demo angereist ist. „Wissen Sie, ich habe drei Kinder, darunter zwei Söhne, natürlich setzte ich mich für den Frieden ein und für jene, die sich für den Frieden engagieren!”, betont er, als Sahra Wagenknecht ans Mikro tritt.
Die Gründerin und Namensgeberin des BSW erklärt, von Beifall unterbrochen:
„Die SPD von Olaf Scholz und Boris Pistorius ist sicher nicht Teil der Friedensbewegung.“
Sie sei aber froh, dass es Leute in der Partei gebe, die einen anderen Kurs forderten. Am „Tag der deutschen Einheit“, sagt Wagenknecht, solle man mit Dankbarkeit an Michail Gorbatschow denken, der die „Wiedervereinigung“ ermöglicht und die Hand zum Frieden gereicht habe. Sie warnt davor, dass aus dem Krieg in der Ukraine ein großer europäischer Krieg werden könne, und nennt vor diesem Hintergrund Außenministerin Annalena Baerbock „ein Sicherheitsrisiko für Deutschland“.
„Ich schäme mich so, dass ich 2021 noch die Grünen gewählt habe“, murmelt eine junge Frau, an ihren Partner gewandt.
Michael Radovici ist Mitglied beim BSW in Kiel. Zusammen mit einigen Dutzend Parteifreunden ist er aus Schleswig-Holstein angereist.
Der 23-Jährige arbeitet im sozialen Bereich und fühlt sich auf der Demonstrationen von seinen Eindrücken der letzten Monate bestätigt. „Der Meinungskorridor hat sich geöffnet, besonders seit den BSW-Erfolgen bei den Landtagswahlen im Osten.“ Diana Djorović vom BSW in Lübeck fügt hinzu: „Vorwürfe wie Putin-Versteher oder ähnliches ziehen immer weniger. Die Menschen sind wieder offener geworden für sachliche Argumente.“
Vor Wagenknecht hatte der CSU-Politiker Peter Gauweiler das Wort ergriffen und beklagt, dass die Bundeswehr mit dem Krieg gegen Jugoslawien ihr Gründungsversprechen gebrochen habe, dass nämlich die Streitkräfte nur zur Landesverteidigung einzusetzen seien.
Gauweiler zitiert Helmut Kohl und Franz Josef Strauß um seine Teilnehmer an der Friedensdemo zu begründen und sich gegen die „Kriegstüchtigkeit“ @BMVg_Bundeswehr auszusprechen: pic.twitter.com/5Kinh75ue4
— Florian Warweg (@FWarweg) October 3, 2024
Gesine Lötzsch hingegen, Bundestagsabgeordnete von Die Linke, machte deutlich: „Im Krieg gewinnen immer Reiche. Es gibt immer solche, die am Krieg verdienen, das müssen wir laut und deutlich sagen.“ Inzwischen herrscht dichtes Gedränge. Eine riesige Menschenmenge bewegt sich langsam in Richtung der Bühne, aber auch von westlicher Seite, aus Richtung Tiergarten und vom Brandenburger Tor nimmt der Menschenauflauf kein Ende.
Vereinzelt stehen Personen im Weg, in ukrainische Fahnen gehüllt und beschimpfen die vorbeiziehenden Besucher der Großdemonstration, doch darauf geht niemand ein, denn die Abstimmung mit den Füßen ist eindrucksvoll genug.
Die überschaubare Menge von Gegendemonstranten wird fast übersehen, würden nicht einige ihrer Teilnehmer dadurch auffallen, besonders hektisch ukrainische Fahnen zu wedeln und die Teilnehmer durch provokante Reden zu belästigen, ein Unterfangen, welches von der Polizei aber rasch unterbunden wird.
Die Demonstration war zur Mittagszeit mit drei Auftaktkundgebungen im Berliner Westen gestartet, an denen schon tausende Menschen partizipierten. In den dortigen Reden ging es schwerpunktmäßig um die Zusammenhänge von Aufrüstung und Sozialkürzungen sowie die Situation in Israel und Palästina.
„Die Situation in Europa und Nahost entwickelt sich gefährlich in Richtung Großkrieg. Statt sich für Frieden einzusetzen, liefert der Westen – einschließlich der Bundesregierung – immer mehr Waffen und beschleunigt die Eskalation durch die Erlaubnis, diese auch gegen russisches Gebiet einzusetzen. Atomwaffen werden wieder einsatzfähig gemacht. Die deutsche Regierung rüstet auf wie nie zuvor. Wir alle sollen kriegstüchtig gemacht werden. Eine „neue“ Wehrpflicht droht. Das Geld für die Hochrüstung fehlt bei Krankenhäusern und Pflege, Rente und Sozialleistungen, Bildung und Kitas, Bahn und Nahverkehr. Globale Herausforderungen, die weltweit nur gemeinsam gelöst werden können, um den Generationen, die uns folgen, eine lebenswerte Welt zu erhalten, werden nicht in Angriff genommen“, wurde in dem Aufruf zur Friedensdemonstration formuliert.
Worte, die anscheinend Wirkung zeigen. Die Veranstalter von der Initiative »Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder« zählen später etwa 40.000 Menschen, die sich rund um die Siegessäule an diesem 3. Oktober versammelt haben.
Titelbild: Sahra Wagenknecht bei ihrer Rede vor den Teilnehmern der Friedensdemo am 3. Oktober – Quelle: @SevimDagdelen