Was ist eigentlich gerade in Brüssel los? Überdeckt vom Kriegsgeschehen in vielen Regionen der Welt, im Vorfeld des aufgeregten US-amerikanischen Wahlkampfes und im Schatten der überraschenden und für viele beunruhigenden Wahlergebnisse in drei östlichen Bundesländern hat Ursula von der Leyen am 17. September ihr neues Kabinett vorgestellt. Außerdem hat das EU-Parlament in einer (nicht bindenden) Resolution in der letzten Sitzungswoche in Straßburg am 19. September 2024 die Mitgliedsstaaten aufgefordert, weiter und verstärkt finanzielle und militärische Unterstützung in jeder möglichen Weise bis zum Sieg der Ukraine zu leisten. Kurz vorher sorgte eine Mitteilung des Franzosen Thierry Breton, bisher mächtiger Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen der Europäischen Union, für Aufregung, in der dieser erklärte, seine Position nicht weiter ausfüllen zu dürfen, und einen persönlichen Konflikt mit von der Leyen andeutete. Bröckelt der Brüsseler Machtblock, oder sollten wir nicht zu optimistisch werden? Ein Reisebericht von Maike Gosch.
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Ich war in der letzten Woche in Brüssel – zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Aufenthalt dort im Frühsommer 1996, als Praktikantin für einen Abgeordneten des Europaparlaments. Ich habe drei Monate für ihn gearbeitet, erst in seinem deutschen Büro, dann während der Sitzungswochen für zwei Monate in Brüssel und Straßburg. Das war direkt nach meinem ERASMUS-Jahr in Südfrankreich, welches mich – die ich immer eine begeisterte und überzeugte Europäerin war – zu einem noch stärkeren EU-Fan gemacht hatte und mich dazu brachte, mich in meinem Jurastudium und später auch im Referendariat auf Europarecht zu spezialisieren. Im Referendariat war ich dann im sehr düsteren und verregneten Winter 2000/2001 noch einmal für drei Monate in Brüssel und arbeitete in einer großen internationalen Kanzlei im Bereich europäisches Wettbewerbsrecht für große Unternehmen, wo ich auch an großen Verfahren gegen die Europäische Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof beteiligt war. Und im Frühjahr 2001 war ich dann in der Slowakischen Republik an der deutschen Botschaft und dort unter anderem mit der Unterstützung dieses Landes für seinen EU-Beitritt beschäftigt, der dann 2004 stattfand.
Meine damalige Begeisterung für die europäische Idee und auch meine tiefe Überzeugung, dass wir mit dem europäischen Projekt auf einem guten Weg in eine friedliche und erfolgreiche Zukunft waren, sind mir noch sehr präsent. Darum verstehe ich jetzt auch die Menschen gut, die daran auch heute noch festhalten und jede Kritik an der EU für fast so etwas wie eine Majestätsbeleidigung halten. Im Jahr 2004 war ich dann das letzte Mal in Brüssel und besuchte eine gute Freundin, die ich in meinem ERASMUS-Jahr kennengelernt hatte und die damals für eine Unterorganisation der Kommission arbeitete – ihr Mann war Diplomat in Brüssel. Sie feierte eine Party, und die Gäste waren allesamt sehr nette und kluge Menschen aus allen europäischen Ländern, mit denen ich mich wunderbar verstand.
Und jetzt?
Die Stadt Brüssel selbst erschien mir relativ unverändert: eine chaotische Stadt, zusammengewürfelt, teilweise schlecht organisiert, mit Ecken voller altem europäischem Charme, Galerien, Antiquariaten, Cafés, aber auch hässlichen Neubauten, die wie Bauklötze von einem riesigen Kleinkind ohne Plan mitten ins Stadtbild geworfen zu sein scheinen. Eine sehr internationale Bevölkerung, Menschen aus aller Herren Länder, sicher auch ein Erbe der (schrecklichen) Kolonialgeschichte Belgiens. Die Métro (U-Bahn), zu stark geheizt und zu schlecht gelüftet, genau wie vor 20 Jahren. Und die feineren Viertel und die Gegend um den Grand Place (zentraler historischer Marktplatz) voll von den berühmten Brüsseler Pralinenläden und Läden mit Designer-Handtaschen sowie anderen Luxusgütern, in denen die überbezahlte EU-Elite ihre steuerfreien Gehälter ausgeben kann.
Aber wie sehr hat sich die EU in den letzten Jahrzehnten in meinen Augen gewandelt: von einem europäischen Wohlstands- und Friedensprojekt Schritt für Schritt hin zu einem politischen Gebilde, das mehr und mehr einem Armuts- und Kriegsprojekt gleicht. Die Ambitionen und die Rhetorik weisen natürlich weiterhin in eine andere Richtung, aber schaut man sich einmal die reinen Zahlen und Ergebnisse der Politik, insbesondere seit der Amtszeit von Frau von der Leyen (2019) an, dann lässt sich das schwer wegargumentieren.
Die EU ist nicht demokratischer geworden (wie wir es damals in den 90ern noch gehofft hatten), im Gegenteil: Sie hat es erfolgreich geschafft, mehr und mehr Distanz und Nebelwände zwischen politische Entscheidungen und die nationalen Bevölkerungen zu legen, sodass eine demokratische Kontrolle oder ein demokratisches Mitspracherecht immer stärker erschwert werden. Die Entwicklung ging sowieso schon in diese Richtung, seit von der Leyen hat sie aber erheblich an Fahrt aufgenommen. (siehe hierzu zum Beispiel das Interview mit dem EU-Kenner Thomas Fazi, Teil 1 und Teil 2). Das war eigentlich zu erwarten, wenn man von der Leyens Karriere auf nationaler Ebene schon vor ihrer ersten Amtszeit als Kommissionspräsidentin genauer betrachtet („Zensursula“, Korruptionsvorwürfe in ihrer Zeit als Verteidigungsministerin, siehe hierzu zum Beispiel eine Einschätzung der Linken aus dem Jahr 2019).
Trotz weiterer Skandale, man denke nur an „Pfizergate“, und der wachsenden Kritik an ihr wurde Ursula von der Leyen am 18. Juli 2024 vom Europäischen Parlament erneut zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt, unter anderem mit der Unterstützung der Europäischen Grünen. Am 17. September 2024 stellte sie dann ihr neues Team für ihre zweite Amtszeit vor. Mit der Auswahl der „Kommissare“ und der Verteilung der verschiedenen Themenressorts – die in Brüssel „DG“ heißen, kurz für „Directorates General“ – hat von der Leyen nach Einschätzung von Experten eine taktische Meisterleistung vollbracht und ihre Machtposition weiter gestärkt.
Zur Überraschung einiger Beobachter erklärte allerdings bereits einen Tag vorher, am 16. September 2024, der inzwischen ehemalige Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen der Europäischen Union, der Franzose Thierry Breton, auf X, dass es für ihn keine zweite Amtszeit als Kommissar unter Ursula von der Leyen geben werde, und deutete an, dass die Kommissionspräsidentin seine Kandidatur aus „persönlichen Gründen“, die er nicht näher bezeichnete, abgelehnt hatte.
Was war der Hintergrund dieses Schrittes von Thierry Breton? Gab es einen Konflikt zwischen Breton und von der Leyen? Ging es hierbei auch um Bretons Brief an Elon Musk in Bezug auf Musks Interview mit Donald Trump, in dem der Kommissar den Inhaber von X daran erinnerte, dass dieser die Vorgaben des umstrittenen europäischen Digital Services Act einzuhalten habe, und ihm mit Konsequenzen drohte? Es schien ja bisher so, als würden in Bezug auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit (Digital Services Act) von der Leyen und Breton „an einem Strang“ ziehen und zumindest inhaltlich weitgehend übereinstimmen. War Breton daher ein taktisches „Bauernopfer“, das den nationalen Ärger einiger konservativer Stimmen aus den USA, die über die Maßregelung einer US-amerikanischen Firma durch Brüssel erbost waren, besänftigen sollte, oder handelt es sich eher um einen Streit zweier Machtmenschen und Egos?
Martin Sonneborn (MdEP, Die Partei), einer der schärfsten (und lustigsten) Kritiker von Frau von der Leyen, erklärte dazu auf meine Nachfrage:
„Breton war meiner Einschätzung nach zu macht- und selbstbewusst und störte das System von der Leyen.“
Das deckt sich auch mit der Einschätzung eines EU-Diplomaten, den das Magazin Politico mit der folgenden Aussage zitierte:
„Macron hat jemanden, der es wagte, sich gegen von der Leyen aufzulehnen, gegen jemanden mit einer viel schwächeren Persönlichkeit ausgetauscht.“
Es scheint also, als ob es kein inhaltlicher Dissens war (das würde auch überraschen), sondern es sich lediglich darum handelte, eine zu starke und eigenwillige Persönlichkeit aus dem Team zu entfernen.
Ein anderer Brüsseler Insider, mit dem ich sprach, erwähnte, dass der Nachfolger Thierry Bretons, Stéphane Séjourné, ein enger Vertrauter Emmanuel Macrons sei, und erklärte die Personalentscheidung hiermit.
Macron und von der Leyen hatten ja schon bei ihrer Ernennung im Jahr 2019 gut hinter den Kulissen zusammengearbeitet, als der französische Präsident die Ernennung des designierten Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft, den deutschen Manfred Weber (CDU), ablehnte und dafür Ursula von der Leyen vorschlug, die eigentlich nach dem damals gerade frisch eingeführten „Spitzenkandidaten-Prinzip“ gar nicht für diese Position in Frage kam, da sie im Europawahlkampf keine Rolle gespielt hatte. Begründet hatte Macron seine Ablehnung des deutschen Politikers damals mit dessen mangelnder „Regierungserfahrung“ und – vielleicht ehrlicher – damit, dass dieser „ein Kind des alten Systems in Europa“ sei.
Was damit gemeint gewesen ist, wird jetzt langsam klar. „Altes Europa“ ist ein Begriff aus der Zeit des Irak-Krieges, als einige EU-Mitglieder, insbesondere Frankreich und Deutschland, den Kriegskurs der USA und ihren unprovozierten Angriffskrieg gegen den Irak nicht unterstützten. Rückblickend wird jetzt deutlich, dass seitdem ein langer Prozess in Gang war, die EU mehr und mehr auf transatlantische Linie zu bekommen – und Macron (trotz all seiner Rhetorik über „Europäische Souveränität“) und von der Leyen zwei zentrale Figuren in diesem Spiel waren, die diese Entwicklung immer weiter vorantreiben. Es überrascht nicht, dass von der Leyens Kabinettschef Björn Seibert den USA eng verbunden ist und damit das offensichtlichste transatlantische Scharnier im Team um von der Leyen darstellt. Er gilt auch als „Architekt“ des Sanktionsregimes gegen Russland.
Wie die Bevölkerung in den europäischen Staaten und auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sowie andere Akteure im politischen Brüssel diese Entwicklung und die zweite Amtszeit von der Leyens wahrnehmen, fragte ich einen anderen Beobachter und Insider.
Er erklärte mir, dass für die meisten politischen Gruppen und Akteure in Brüssel mit den neuesten Entwicklungen letztlich alles beim Alten bleibe. Es würde von Brüssel aus kaum erkannt, wie wenig das, was hier vor sich ginge, mit dem Leben der meisten Menschen zu tun habe. Die Idee einer zweiten „von der Leyen-Kommission“ scheine für viele der etablierten politischen Parteien und für die in Brüssel ansässigen internationalen Medien selbstverständlich zu sein, und es werde tatsächlich nicht viel über ihre Unbeliebtheit, über die mit ihr verbundenen Kontroversen oder die Art und Weise, wie die dominierenden politischen Kräfte in Europa sie wiederernannt haben, nachgedacht.
Auch dieser Insider bestätigte mir, dass die Ansicht herrsche, dass Breton und von der Leyen schlicht nicht miteinander konnten und sie mit ihrer Aktion auf seine kritischen Kommentare im Vorfeld und nach der Wahl reagiert habe. Die Presse hier habe das Ganze wie ein kleines unterhaltsames Drama behandelt. Es gäbe wenig Verständnis dafür, was für echte Menschen auf dem Spiel stehe.
Martin Sonneborn (MdEP) bestätigte mir ebenfalls die unkritische Haltung des Europäischen Parlaments zu von der Leyens Wiederwahl und ihrer politischen Ausrichtung:
„Das Parlament ist absolut auf Kriegskurs (siehe auch hier), wer dagegen ist, kriegt es mit den ZDF-Faktencheckern zu tun.“
Auf die Frage nach der weiteren Entwicklung der EU, auch in Bezug auf die Einschränkungen der Meinungsfreiheit (Stichworte „Digital Services Act“ und „European Democracy Shield“), antwortete mir Sonneborn folgendermaßen:
„Ich erwarte von den kommenden fünf Jahren nur das Schlechteste: einen aggressiven Austeritäts- und Kriegskurs, Überwachung, Beschneidung von Pressefreiheit und Bürgerrechten. Nix, was gute Laune machen würde.“
Ach, ich vermisse mein altes Europa – und glaube weiterhin, dass ein anderes Europa als das gegenwärtige möglich ist. Es ist an der Zeit, dass wir es uns zurückholen. Ich bin nicht bereit, meine Hoffnungen und Erwartungen an eine solche Gemeinschaft und die EU als Friedensprojekt aufzugeben, zu sehr ist Europa Teil meiner Geschichte, meiner Identität und auch meines jugendlichen Idealismus. Je mehr Macht und Kompetenzen nach Brüssel wandern, desto genauer sollten wir beobachten, was dort passiert. Eine verstärkt europäische Politik braucht vor allem auch eine stärkere europäische Öffentlichkeit. Das wurde – wie so vieles – bisher versäumt.
Titelbild: Shutterstock / Alexandros Michailidis