Was soll schon am heutigen Tag noch positiv an die DDR erinnern, die 1990 – zweifellos ganz wunschgemäß – vier Tage später nicht auch noch ihren 41. Jahrestag feiern durfte? An wenigen Kalendertagen in einem Jahr häufen sich erstaunlicherweise ganz verschiedene historische Ereignisse. Von Felix Duček.
In Deutschland ist solch ein Tag der Häufung historischer Begebenheiten etwa der 9. November, in den USA der 11. September, auch wenn ich persönlich gestehen muss, an diesem Tag alle Jahre zuerst den Tod Salvador Allendes 1973 im Präsidentenpalast La Moneda von Santiago de Chile zu betrauern und erst dann auch an 9/11 zu denken.
Für viele Menschen in Ostdeutschland ist auch heute noch der 7. Oktober als „Tag der Republik” unvergessen. Die aktuelle weltpolitische und innenpolitische Lage hat mittlerweile wohl überall in der Bundesrepublik spürbar werden lassen, dass viele Menschen in den Regionen der früheren DDR noch immer irgendwie anders ticken, auch wenn viele nicht begreifen (wollen), warum das so ist.
Am 7. Oktober 1949 erfolgte seitens der damaligen Sowjetischen Besatzungszone im besiegten Deutschland die einzig mögliche Antwort auf die von den drei westlichen Alliierten lange, spätestens seit 1946 angestrebte Spaltung Deutschlands. Denn am 23. Mai 1949 war mit der Verabschiedung des im Auftrag der Westalliierten erarbeiteten Grundgesetzes der Bundesrepublik und am 7. September mit der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages in Bonn das Projekt der deutschen Spaltung vollendet worden. Das alles passierte trotz der zwischen den alliierten Siegermächten zäh errungenen Beschlüsse der Konferenzen von Teheran Ende 1943, in Jalta auf der Krim vom Februar 1945, der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 nach der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Diktatur und schließlich noch des Potsdamer Abkommens Anfang August 1945, wo alle noch „ein Deutschland (samt Berlin) als Ganzes” anzustreben vorgaben. Wirtschaftlich jedoch war 1949 die Spaltung ja bereits längst durch die separate Einführung der Westmark in der anglo-amerikanischen Bizone – wenig später in der gesamten westlichen „Trizone” – beschlossen und vollzogen worden.
Warum ist der 3. Oktober nun auch in diesem Jahr für viele frühere DDR-Bürger und deren Nachkommen ein denkwürdiger Tag, über den heute viele Bewohner im übrigen Deutschland noch etwas dazulernen könnten? Wenige Tage vor dem 7. Oktober 1969, dem 20. Jahrestag der Gründung der DDR, wurde am 3. Oktober 1969 in Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, planmäßig der Berliner Fernsehturm eingeweiht. Die für Rundfunkausstrahlungen ohnehin günstige Lage im Zentrum Berlins bot als weiteren Zweck des Unternehmens den Start des regulären Sendebetriebs des Zweiten Deutschen Fernsehens der DDR in Farbe.
Und warum ist das heute erwähnenswert? Weil es ohne die Erwähnung in Vergessenheit geraten könnte – oder wie manch andere Facette des Lebens in der DDR in Vergessenheit geraten soll. So sagte mir tatsächlich unlängst ein – ansonsten sowohl politisch aufgeweckter als auch historisch interessierter – Bekannter aus den „Alten Bundesländern” in unerschütterlichem Ernst, der Fernsehturm am Alex wäre doch von West-Architekten gebaut worden. So viel wurde also im Sinne der Verfälschung von DDR-Geschichte bereits aus den Hirnen gewaschen oder unablässig mit Zerrbildern in die Köpfe projiziert. Das ist auch angesichts der heutigen „gesamtdeutschen” Lehrinhalte und Schulbücher besonders für nachwachsende Generationen kein Wunder, erst recht angesichts tendenziöser Informationen aus dem Internet – etwa bei Wikipedia.
Über die frühere DDR wird nach Belieben hergezogen, ganz ähnlich zu der diesem Staat heute vorgeworfenen „Indoktrination”, denn es ist wie schon zu Zeiten Roms: Sieger schreiben die Geschichte um, auch wenn sich dabei die Balken biegen. Dann kann es auch gar nicht sein, dass erstens die DDR solch einen Turm überhaupt zustande bekommt und auch noch dort hinsetzen konnte, wo er Dutzende Kilometer weit – auch aus Berlin-West – nicht zu übersehen ist. Und zweitens ist es außerdem verwunderlich, dass man dieses „Ding” dann bis heute auch noch stehen gelassen hat, statt auch dieses Andenken schleunigst zu entsorgen – wie etwa den einstigen „Palast der Republik” am heutigen Humboldt-Forum, das mit den Humboldt-Brüdern weit weniger zu tun hat als mit den Hohenzollern. Der Sieger schleift die Geschichte und die Zeugnisse der Verlierer, bis alles glatt und rund im erwünschten Glanz erstrahlt. Und dieser Turm aus DDR-Beton ist seit nunmehr über einem halben Jahrhundert nicht einmal von selbst umgefallen – obwohl es Gelegenheit dafür durch Ausläufer der Bodenwellen von Erdbeben gab.
Heute scheint die Geschichte des Wiederaufbaus von Berlin bei den Berlinern fast vergessen oder nicht mehr bekannt bzw. bewusst zu sein – erst recht vielen Zugezogenen und den Touristen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mit all den Verheerungen der Deutschen Wehrmacht in nahezu ganz Europa seit 1939 war der Krieg als Bombenkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte zurückgekehrt. Auch Berlin lag in Schutt und Asche, insbesondere das Zentrum rund um den Alex.
Faschistische Durchhalteparolen zum Straßenkampf gegen die von allen Seiten rund um die Stadt vorrückende sowjetische Rote Armee hatten der Stadt bei der Befreiung den Rest gegeben, sie blieb für Jahre eine schier endlose Ruinenlandschaft. In Ost wie West mussten in der Nachkriegszeit jahrelang mühsam Trümmer weggeräumt werden. Sie wurden bergeweise zusammengekarrt und aufgeschüttet – vom Berliner schnoddrig „Mont Klamott” genannt. Und es waren reichlich Trümmer da, sogar genug für mehrere besonders stattliche Berge: für den Großen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain im Ostteil unweit vom Alex, aber auch für den „Insulaner“ in Schöneberg und den Teufelsberg im Grunewald – und viele weitere kleinere Trümmerberge. „Auferstanden aus Ruinen” wuchs in Ostberlin Jahr für Jahr nach der Gründung der DDR wieder eine nun separate deutsche Hauptstadt für diese nun abgetrennte, andere Republik. Nicht nur der neue Lebensmut und der feste Wille vieler Überlebender und Heimkehrer nach dem Krieg, sondern auch der Ideenreichtum namhafter Architekten half dabei, mit der DDR den Versuch einer neuen Ordnung in der Gesellschaft zu wagen. Damit sollte auch diese Stadt wieder zum Leben erweckt und immer lebenswerter aufgebaut werden.
Der Kalte Krieg und ein heute geradezu skurril erscheinender Viermächtestatus von Berlin, mit einer Trennlinie zwischen den zwei größten Militärblöcken weltweit – der NATO und den Warschauer Vertragsstaaten – in seiner Mitte, ließen in dieser geteilten Stadt Berlin damals gar nichts anderes zu, als nun de facto zwei Stadtzentren zu errichten. Dabei befand sich im sowjetisch besetzten Ostberlin – wohl wegen des unaufhaltsamen Vormarschs und des damit absehbaren Löwenanteils und Blutzolls der Roten Armee bei der Befreiung Berlins – auch der mittelalterliche Stadtkern um die Marienkirche, Nikolaikirche und Petrikirche zwischen dem Königstor (am Friedrichshain) und dem Brandenburger Tor (in Richtung Tiergarten). Also war das eigentliche Zentrum Berlins durch die vier Siegermächte dem „Ostsektor” zugesprochen worden.
Wen wundert es, dass in der DDR – ohne ein „Wirtschaftswunder” dank Marshallplan, stattdessen auch trotz aller Reparationszahlungen der DDR an die zerschundene UdSSR – die Ressourcen für den Wiederaufbau knapp waren? Für das nahezu vollständig zerbombte Schloss der Hohenzollern-Dynastie im Zentrum jedenfalls fehlten sowohl ökonomisch die Mittel als auch politisch der Wille – und so gähnte dort noch Jahrzehnte zwischen Unter den Linden und Alexanderplatz eine Lücke. Umgeben vom traditionsreichen Lustgarten mit dem des Neuen Museums von Karl Friedrich Schinkel und vom Berliner Dom, steht neben dem früheren Marstall bis heute der Neubau des DDR-Staatsratsgebäudes, in das wenigstens das Portal IV des Schlosses nach „Goldenem Schnitt” architektonisch eingefügt worden war, quasi als Erinnerung an Karl Liebknechts unerfüllt gebliebenen Traum von einer anderen (als der Weimarer) Republik, den er in den Wirren der Novemberrevolution 1918 von eben jenem Balkon verkündet hatte.
Über die Architektur in der jüngeren deutschen Geschichte, insbesondere in der DDR, könnte man viele Bücher schreiben, einige gibt es sogar. Schon lange, bevor heute krampfhaft in Endlosschleife versucht wird, die 40 Jahre der DDR und die Leistungen ihrer Bürger zu diskreditieren, lächerlich zu machen oder gänzlich zu verschweigen, wurden im Westen bereits vor der „Wende” des Ostens bekanntlich nach Kräften Spott und Häme über die DDR ausgeschüttet – in Bezug auf den Fernsehturm übrigens gepaart mit kaum verhohlenem Neid. Der steht nun immer noch, obwohl landauf, landab doch alles in der DDR angeblich nur schrottreif war. Im 600-Seiten-Wälzer „Das große ADAC Deutschland Buch” von 1986 sucht man vergebens einen Fernsehturm: weder im Kapitel über „Das andere Deutschland: Ein Porträt der DDR” noch in dem über die deutsche Technikgeschichte. Mehr noch: Im Kapitel über das (inoffizielle) „Bundesland Berlin – Geteilte Stadt …” wird auch sicherheitshalber nicht einmal der ansonsten gern als Westberliner Wahrzeichen vorgezeigte Funkturm erwähnt, vermutlich, um nicht versehentlich noch auf den Fernsehturm der DDR-Hauptstadt eingehen zu müssen. Nur ein Foto des 1979 eröffneten Internationalen Congress Centrums (ICC) (vom Funkturm aus aufgenommen!) lässt den Berlin-Kenner am Horizont im Dunst den Fernsehturm am Alex und unweit daneben das Internationale Handelszentrum am S-Bahnhof Friedrichstraße erahnen.
Seit Anfang der 1950er-Jahre hatten in der DDR teils weltbekannte Architekten, oft nach Wettbewerbsausschreibungen, ihre Ideen und Konzepte eingebracht, diesem Versuch einer neuen, menschlicheren Gesellschaft auch architektonisch Ausdruck zu verleihen. Das waren meist Gratwanderungen zwischen sich rasch wandelndem Zeitgeschmack – auch angesichts politischer Vorgaben – und vor allem der wirtschaftlichen Machbarkeit. Einige wenige Bauten in Ostberlin überdauerten – trotz der im Einigungsvertrag 1990 als „Beitritt” verbrämten Vereinnahmung der DDR anstelle einer Vereinigung beider deutscher Staaten auf Augenhöhe. Andere intakte Prachtbauten wurden in regelrechter Siegermentalität (wie der Palast der Republik) oder aus Profitgier geschliffen – so geschehen beim gegenüber am Spreeufer gelegenen einstigen Palasthotel. Das musste – obwohl ein schwedischer Neubau in der DDR – aus Profitgier der Bauwirtschaft dem heutigen AquaDom weichen, der mittlerweile durch das 2022 geplatzte Aquarium aus Acryl-Glas weltweit bereits einige Berühmtheit erlangt hat. Beim Palast der Republik war vermutlich die Volkskammer (als DDR-Parlament) mit ihren vergleichsweise wenigen Räumlichkeiten an der Schmalseite des Gebäudes 1990 der Stein des Anstoßes. Als fadenscheinige Begründung für den Abriss musste dagegen der Spritzasbest-Brandschutz im gesamten Palast der Republik (damaliger Stand der Technik in Ost wie West) herhalten: Eine Sanierung sei unbezahlbar und die Bewahrung somit untragbar – wogegen das etwa zeitgleich und daher mittels gleicher (Asbest-)Methoden brandgeschützte ICC-Raumschiff neben dem Westberliner Funkturm fachgerecht vom Spritzasbest befreit und saniert wurde, ohne dass man dort die Kosten scheute.
So wurde in Ostberlin seither demonstrativ in retrospektiver Nostalgie gemäß den Postkartenfotos von vor der „Unzeit” der DDR zurückgebaut, auch wenn das Kaufhaus Galeries Lafayette Berlin in der Friedrichstraße nun auch bereits wieder seine Pforten schließen musste. Diese Abrissmentalität bei so vielen Zeugnissen der DDR-Architektur wie möglich offenbart den heute weiter lebendigen Ungeist des Kalten Krieges, als es bestenfalls die „sogenannte DDR” hieß. Selbst dann, wenn einige dieser Bauprojekte – wie etwa vom Anfang der 50er-Jahre die Karl-Marx-Allee zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz, um die 70er-Jahre weitergebaut bis zum Alexanderplatz, unter Denkmalsschutz gestellt wurden. Keineswegs übertrieben bezeichnete bereits Mitte der 1950er-Jahre der renommierte brasilianische Architekt Oscar Niemeyer nach seinem Berlin-Besuch ebendiese nach den Entwürfen von Hermann Henselmann aus Trümmern gebaute Ost-West-Magistrale als „eine der bedeutendsten Alleen der europäischen Metropolen”. Heutige Tendenzen der urbanen Gentrifizierung durch privatwirtschaftliche Profitmaximierung im Dschungel des Gesetzgebers zwischen Mieterhöhungen und öffentlich gefördertem Denkmalsschutz bremst das natürlich keineswegs, „Zuckerbäckerstil” bleibt ein Schimpfwort.
55 Jahre hat der Berliner Fernsehturm also bereits auf dem Buckel, auch fast 35 Jahre Nach-Wende überstanden, und ist – welch Wunder – quasi über Nacht zum gesamtdeutschen Markenzeichen geworden. Mindestens für Berlin („arm, aber sexy!”), wenn nicht stellvertretend für ganz Deutschland ist er ein weltweit bekannter Touristenmagnet: In den ersten drei Jahren besuchten ihn über vier Millionen Besucher, heute Jahr für Jahr mehr als eine Million Touristen.
Im wahrsten Sinne des Wortes „überstanden” hat er dieses halbe Jahrhundert. Im italienischen Friaul bebte 1976 gleich dreimal die Erde: am 6. Mai, am 11. September, und vier Tage später am 15. September 1976 das stärkste der Beben, das viele dort vorher „nur” beschädigte Gebäude noch vollends zerstörte. Transversale Erdbebenwellen gelangten bis nach Deutschland, versetzten an jenem Tag auch in Berlin Pendellampen in bedenkliche Schwingungen, was auch Der Spiegel seinerzeit meldete (Ausgabe 39/1976). Manch einer mag sich gewundert haben, dass der Fernsehturm stehen blieb, aber es war eben kein Schrott, sondern ist bis heute ein Geniestreich.
Die Vorgeschichte des Fernsehturms bis zu seiner Einweihung 1969 birgt viele wechselvolle Höhen und Tiefen – wie viele andere Bauprojekte der Nachkriegszeit – zwischen Wünschen und Machbarkeit. Einerseits Ergebnis einer nüchternen technischen Analyse, dass zeitgemäßer Rundfunk – wenn schon nicht von den Müggelbergen – vom geografischen Mittelpunkt Berlins, am besten wenige Hundert Meter vom Alex entfernt im Friedrichshain, ausgestrahlt werden sollte. Andererseits brauchte die DDR-Hauptstadt ohnehin die Fertigstellung ihres Zentrums, mit möglichst attraktiven wie zweckmäßigen architektonischen Neugestaltungen breit nutzbar, ganz im Sinne ihres neuen Gesellschaftsmodells.
Ein erster Anlauf für die technische Seite, einen ganz Berlin abdeckenden UKW-/VHF-/UHF-Sendeturm an einem zukunftssicheren Standort, scheiterte schon Mitte der 1950er-Jahre. Immerhin hatte die Europäische Rundfunkkonferenz in Stockholm 1952 der DDR, damals von vielen Staaten noch nicht politisch anerkannt, die von Technikern ungeliebten weil störanfälligen Fernsehsendefrequenzen im Band I und Band III zugeteilt. Zwar wurde am Müggelsee – unweit des Müggelturms heute noch erkennbar – der Bau eines Fernseh-„Turms” beantragt und bewilligt, 130 Meter Höhe hätten dort oben gereicht. Aufgrund der möglichen Gefährdung des Flugverkehrs, nämlich am Rande der Einflugschneise zum DDR-Flughafen in Schönefeld gelegen, wurde das Projekt 1954 kurzerhand wieder abgeblasen. Der bereits errichtete Sockel des Bauwerkes diente teils als „Observatorium” und ist heute noch ein Richtfunkknoten der Deutschen Telekom. Nach der Erkenntnis der immer schmerzhafteren Versorgungslücken der UKW- und TV-Sender in der DDR wurde sowohl aus technischer Sicht als auch als städtebaulicher Blickfang (Point de mire) der Standort westlich des Alexanderplatzes im Sinne einer optimalen Platzierung im Zentrum als die Ideallösung erkannt und abgesegnet. Diese städtebauliche Gestaltung eines repräsentativen Zentrums, um die fast ein Jahrzehnt mühsam gerungen worden war, fand später noch ihren Abschluss in der Errichtung des Palastes der Republik von 1973 bis 1976 mit einem 5.000-Plätze-Multifunktionssaal für Großveranstaltungen, Restaurants, Theater, Post und außerdem auch noch mit der Volkskammer, der Legislative in der DDR, an einem endlich zentralen wie repräsentativen Ort.
In dieser Geschichte des Ringens um die vielen Architektur-Konzepte und Städtebau-Planungen gab es auch früher bereits mehrfach Turmkonzepte, was am Ende – lange nach der Errichtung und der nun wohl zeitlosen Erfolgsgeschichte des Fernsehturms – illustre Streitigkeiten um die „wahre” Urheberschaft des Konzepts aufkommen ließ. Der Erfolg hat bekanntlich stets viele Väter. Wahr ist sowohl, dass Hermann Henselmann, seit 1953 aufgrund seiner Leistungen bei der Bebauung der Stalinallee (der heutigen Karl-Marx-Allee) Chefarchitekt des Berliner Magistrats, bereits 1958/59 seinen „Turm der Signale” vorgeschlagen hatte, was sogar 1961 mit der DDR-Zeitschrift Deutsche Architektur öffentlich war. Andererseits war der ebenfalls weltbekannte Architekt Gerhard Kosel von Juli 1964 bis Dezember 1965 gesamtverantwortlich für dieses Bauvorhaben und reklamierte, dass er sowohl den endgültigen, heutigen Standort als auch Entwürfe der Gestalt entscheidend geprägt hätte, bevor ihm schon 1965 – wegen bei Bauvorhaben nahezu stets drohender Kostenexplosion – diese Verantwortung wieder entzogen wurde. Er fiel keineswegs in „Ungnade”, denn wenig später (1967 bis 1972) war er wieder in Amt und Würden, aber an anderer Stelle: als Stellvertretender Minister für Bauwesen der DDR und danach DDR-Vertreter in der UNO-Kommission für menschenwürdige Siedlungen.
Schließlich sollte man aber heute nachdrücklich anerkennen, dass viele endgültige Details der Konstruktion und der Gestalt des Berliner Fernsehturmes von einem Architektenkollektiv des VEB Industrieprojektierung (Ipro), einem Betrieb im Bau- und Montagekombinat Kohle und Energie, dem größten Baubetrieb der DDR, unter Leitung von Fritz Dieter für die Kugel und Günter Franke für den Turmschaft projektiert wurden, dem zweifelsfrei Hermann Henselmann als künstlerischer Berater zur Seite stand. Ohnehin sind mittlerweile alle diese namentlich Genannten bereits verstorben, viele Erbauer des Turms nicht. Im Übrigen wurden neben diesem Publikumsliebling von jenem volkseigenen Baukombinat zuvor und danach weitere Industriegiganten vergleichbarer Höhe errichtet, die heute bereits wieder verschwunden sind. So wurden allein für das leistungsstärkste DDR-Kraftwerk in Boxberg Anfang der 1970er-Jahre sogar vier Schlote mit je 300 Metern Höhe errichtet.
Unter heute zahllosen Fernseh- und sonstigen Turmbauten auf der Welt ist die Kugel als Form des Turmkopfes unterhalb des Sendeantennenmastes zweifellos das markanteste Unterscheidungsmerkmal und mittlerweile ein Logo für Berlin. Dennoch war diese Kugel nicht allein der damaligen angeblichen „Sputnik-Ikonografie” in der DDR geschuldet, sondern folgte ganz nüchternen technischen Anforderungen, nämlich zwecks Beherrschbarkeit der Klimatisierung aller Sendeanlagen im Turm ein maximales Raumvolumen bei minimaler Außenfläche zu bieten, was allein für sich schon eine Kugel als geometrische Idealform nahelegte.
Übrigens, was das Erdbeben betrifft: Die tiefe Lage mitten im Urstromtal von Berlin erwies sich für das Fundament erstaunlicherweise nicht als ein Nachteil. Es ist mit 2,70 bis 5,80 Metern vergleichsweise flach gegründet, weil gerade dort Schichten aus Kies und Sanden eine gute Tragfähigkeit nachwiesen – ganz im Gegensatz zum sumpfigen Untergrund des Schlosses und vieler anderer Bauwerke im heutigen Zentrum Berlins. Moorlandschaften hat Deutschland bekanntlich reichlich. Dass die meisten davon trockengelegt wurden, erweist sich mittlerweile sowohl für Hochwassergefahren wie Arterhaltung als ein menschengemachter Nachteil in der Landschaftsgestaltung.
Nachzutragen ist ganz zeitgemäß: Als zweithöchste Bauwerke Deutschlands, errichtet von 1977 bis 1982, dienen dort die Sendemasten mit 352,9 Metern Höhe als Antenne des Längstwellensenders der Deutschen Marine für ihre U-Boote betrieben. Diese Marinefunksendestelle Rhauderfehn mit der Bezeichnung NATO VLF / MSK liegt innerhalb des Naturschutzgebiets „Esterweger Dose” im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg. Dort kommt der „Kriegstüchtigkeit” die ausgedehnte Moorlandschaft sogar zugute – als feuchtes und somit besonders niederohmiges Erdnetz für diese Antennenanlage.
Unangefochten das höchste Bauwerk in Europa ist seit 1967 bis heute allerdings noch immer der Moskauer Fernsehturm in Ostankino mit seinen 537 Metern Höhe. Der Berliner Fernsehturm war 1969 mit 365 Metern der zweithöchste der Welt und hat nach einem Umbau der Antennenanlage über der Kugel seit 1997 eine Höhe von gut 368 Metern.
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