Es gibt sie noch, die Letzten ihrer Art: Deutsch-russische Initiativen, die sich in der aktuellen Situation den neuen Feindbildern nicht nur verweigern, sondern genau antizyklisch handeln. Die Jugendinitiative „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“ wird im Spätherbst im türkischen Izmir ein neues Projekt verwirklichen. Von Leo Ensel.
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Manche Menschen können es einfach nicht lassen! Erst recht nicht zu Zeiten, in denen ihnen der Wind mit voller Wucht ins Gesicht bläst, weil nahezu überall vehement das genaue Gegenteil gefordert wird…
Make love, not war!
Gemeint ist etwas, das man früher ein wenig old fashioned angestaubt als „Engagement für Frieden und Völkerverständigung“ bezeichnet hätte. Man kann das Ganze aber auch mit einem drastischeren Motto aus ebenfalls lange vergangenen (wilderen) Zeiten auf den Punkt bringen, das heute, in dieser schrecklichen Gegenwart, mit seiner nonchalanten Frechheit wieder äußerst hilfreich sein könnte: „Make love, not war!“
Die Rede ist vom deutsch-russischen Jugendprojekt „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“, zu dem sich das deutsche „Ensemble MIR“ – „Mir“ (Мир) heißt „Frieden“ – aus Südbaden und das „Jugendtheater PREMIER“ aus dem russischen Twer vor sechs Jahren zusammengeschlossen haben. In beiden Ländern sind sie längst keine Unbekannten mehr. Bereits im Herbst 2019 konzertierten sie gemeinsam und live in Russland (Twer, Moskau) und Deutschland (Rheinfelden, Basel, Badenweiler, Freiburg). Russische und deutsche Medien berichteten begeistert. Auch während der Coronazeit ließ man sich von gemeinsamen Projekten nicht abbringen: Drei Musikvideos – u.a. unter dem Titel „Heal the World“ – wurden online über die Grenzen hinweg produziert und auf einem eigenen YouTube-Kanal veröffentlicht. Und vor zwei Jahren, am 11. September 2022, wurde der Initiative in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche der „Göttinger Friedenspreis“ verliehen.
Dass „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“, jetzt erst recht!, gerade zu Kriegszeiten weiter macht, versteht sich von selbst. Und wenn man aufgrund der westlicherseits extrem eingeschränkten Reisemöglichkeiten weder in Russland noch in Deutschland gemeinsame Projekte auf die Beine stellen kann, dann trifft man sich eben in der Türkei. So geschehen vergangenes Jahr, als sich im Herbst zwölf Deutsche und fünfzehn Russen für zehn Tage in Izmir trafen, um dort zusammen eine zarte west-östliche Liebesromanze, den Musikfilm „Romeo und Julia – Frieden ist möglich“, zu realisieren – ein Film, der mit seiner subversiven Kraft der Liebe sowohl in Deutschland als auch in Russland für Aufmerksamkeit sorgte!
Ein deutsch-russisches Friedenskonzert in der Türkei
So auch wieder dieses Jahr – und wieder in Izmir – vom 26. Oktober bis zum 3. November. Diesmal allerdings werden rund 60 musikbegeisterte Teilnehmer erwartet, die auf einem kommunalen Campingplatz direkt am Meer wohnen und in dieser intensive Begegnungen ermöglichenden naturnahen Umgebung als Sänger und Chor ein Konzertprogramm mit eigenen Songs erarbeiten werden. Zu einigen Songs wird es auch Choreographien geben. Eine kleine von SchauspielerInnen gespielte Rahmenhandlung, so ist es geplant, umrahmt das Konzert. Begleitet werden die jungen SängerInnen, TänzerInnen und SchauspielerInnen von einer professionellen Band und einem kleinen Orchester aus Izmir. Mit dabei sind diesmal auch in der Türkei lebende Flüchtlinge aus anderen Ländern.
Die Song-Materialien (Audio-Stimmen und Notentext) werden den Teilnehmern zuvor online bereitgestellt, so dass das Programm zu Hause schon geübt werden kann. Ebenso wird es Tanzvideos zur Vorbereitung geben. Ein Teil des Konzertprogrammes wird aber auch spontan durch eigene Beiträge der Teilnehmer während des Camps entstehen können.
Das Abschlusskonzert wird in einem großen und repräsentativen Konzertsaal in Izmir stattfinden. Unterstützt und getragen wird das Projekt in der Türkei von 13 Rotary Clubs aus Izmir und dem dortigen rotarischen Distrikt. Diese wollen auch dafür sorgen, dass die 1000 Plätze des Konzertsaales ausverkauft sind. Mit dem Einnahmenüberschuss wird das von Rotary International neugegründete Friedenszentrum an der Bahçeşehir University in Istanbul gefördert. Das Konzert wird professionell aufgenommen und gefilmt. Es soll online veröffentlicht werden.
Friedensfähigkeit statt Kriegstüchtigkeit
In einer Zeit, in der die NATO nach Land, Wasser, Luft, Weltraum und dem Internet nun offiziell einen sechsten Kriegsschauplatz, den „Kampf um die Köpfe“ (Cognitive Warfare), eröffnet hat, in der mit modernsten Mitteln psychologischer Beeinflussung die Köpfe der Menschen so infiltriert und manipuliert werden sollen, dass sie die zu Feinden erklärten Menschen anderer Länder willig attackieren und töten – in dieser Zeit setzt „Musik für den Frieden – Mузыка ради Mира“ auf das genaue Gegenteil.
Den zerstörerischen Gedankengängen der Herrschenden auf allen Seiten wird eine friedfertige Vision entgegengesetzt und eingeübt: Die Projektarbeit durch gemeinsames künstlerisches Tun, das alltägliche friedliche Zusammenleben und die direkten Begegnungen von Mensch zu Mensch fördern und verfestigen bei den jugendlichen Teilnehmern unerschütterliche Freundbilder statt medialer Feindbilder, emotionale Friedenssehnsucht statt kognitiver Kriegsführung, Friedensfähigkeit statt Kriegstüchtigkeit – kurz: Liebe statt Hass!
Dabei spielen die gemeinsamen Mahlzeiten in der Gruppe, die Probezeiten und Freizeiten (Sport, Schwimmen im Meer etc.) eine wichtige Rolle. Gruppengespräche und Einzelgespräche über die eigene Motivation sich für den Frieden zu engagieren, stärken den Zusammenhalt der Gruppe. Dieses friedliche Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Nationen strahlt aus in die Welt und kann im optimalen Falle zu einem Best-Practice Beispiel werden. Wenn diese jungen Menschen später Repräsentanten ihrer Länder sind und Verantwortung tragen, ist mit dieser Erfahrung die Basis für ein friedlicheres Miteinander zwischen den Nationen gelegt.
Geplant ist zudem ein 45-minütiger Dokumentarfilm für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland, der das gesamte Projekt, von den Planungsanfängen bis zum abschließenden Konzert in Izmir, dokumentiert. Auf diese Weise soll die Botschaft des Friedens-Musikcamps auch eine breitere Öffentlichkeit in Deutschland erreichen.
Man darf also gespannt sein!
Mit freundlicher Genehmigung von Globalbridge.
Titelbild: © Ulrike Vogt
PS:
Auch Aktivitäten für den Frieden – Sie ahnen es dunkel – kosten Geld. (Die Organisatoren haben ein Gesamtbudget von 60.000 € einkalkuliert.) Wer in dieser spannungsgeladenen Zeit ebenfalls kontrazyklisch handeln und auch etwas bewirken will, ist eingeladen, sich hier zu beteiligen: Musik für den Frieden e.V., Emil-Bizer-Straße 92, 79379 Müllheim im Markgräflerland. Sparkasse Markgräflerland, IBAN DE24 6835 1865 0108 7211 43, BIC SOLADES1MGL oder per PayPal über die Homepage: www.musik-fuer-den-frieden.de. Der Verein ist gemeinnützig und berechtigt, Spendenbescheinigungen auszustellen.