„False Prophet“ ist der einzige Song auf Bob Dylans im Juni 2020 erschienenem Album „Rough and Rowdy Ways“, für den es zwei offizielle Musikvideos gibt: eine Grafik-animierte Version mit dem Text, die andere mit einem Standbild, das ein Skelett in Smoking und Zylinder zeigt, welches eine Spritze in seiner rechten Hand hat. In seiner linken Hand hält es ein Geschenk, das wegen seiner Schleife in Kreuzform auffällt. Aktuell bewirbt der Skeleton-Dandy, dessen Schatten die Gestalt eines Mannes am Galgen hat, unter der Überschrift „Things aren’t what they were …“ mit der Spritze in der Hand – nein, nicht die nächste Impfung, sondern die elf Deutschland-Konzerte des Künstlers im Oktober. Von Rumen Milkow.
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Auch wenn ich mich nicht wie der frühere Präsident Obama als „A really big fan“ von Robert Zimmermann, wie Bob Dylan eigentlich heißt, bezeichnen würde, kann ich mich dem Phänomen Dylan nicht entziehen. Seit meiner frühesten Jugend bin ich davon fasziniert, wie der näselnde Nicht-Sänger mit einfachen Harmonien und eher durchschnittlichen Melodien, die beim ersten Hören so gar nicht zu den anspruchsvollen Texten passen wollen, etwas Neues schafft, das viel mehr ist als nur die Summe seiner Einzelteile. Waren mir seine Texte anfangs egal, besteht mein bescheidenes Englisch heute zum großen Teil aus Dylan-Zitaten.
In diesem Fall war es aber weder der Text noch eine Melodie und auch kein näselnder Sprechgesang, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen, sondern bereits beschriebener Skeleton-Dandy mit der Spritze in der Hand. Außerdem der Titel „False Prophet“, am Ende aber dann doch der Text. Warum versucht Dylan, der von manchem bis heute als Prophet angesehen wird, der er nie sein wollte, uns plötzlich mittels eines Songs mit dem Titel „Falscher Prophet“ vom Gegenteil zu überzeugen: „I ain’t no false prophet, I just know what I know.“ Dazu habe ich eine Presseanfrage an den Künstler gestellt – auch, weil ich wissen wollte, was es mit dem Skeleton-Dandy mit der Spritze auf sich hat, aber vor allem, wer der falsche Prophet ist. Meine Anfrage blieb unbeantwortet, was zu erwarten war, denn Dylan sagt in „False Prophet“ auch: „What are you lookin’ at? There’s nothing to see!“
Im Juni 2020, die Corona-Zeit war noch relativ am Anfang, sagte der Künstler in einem Interview mit der New York Times (NYT), dass man auf verschiedene Weise über das Corona-Virus denken könne. Wörtlich meinte er: „Ich denke, man muss ihm einfach seinen Lauf lassen.“ Dazu passt, dass er im Oktober 2021 auf weltweite Tour ging, nachdem auch er zuvor coronabedingt Konzerte absagen musste. Die Vorbereitung dieser Tour, die sich über drei Jahre erstreckt und erst Ende dieses Jahres offiziell endet, dürfte in eine Zeit gefallen sein, in der hierzulande Künstler und Künstlerinnen wegen ihrer Aktion #allesdichtmachen viel Kritik einstecken mussten.
In dem NYT-Interview sagte Dylan auch, er denke über den Tod ganz allgemein und nicht auf persönliche Weise nach: „Die lange, seltsame Reise des nackten Affen. Ich will es nicht unterschätzen, aber das Leben eines jeden ist so vergänglich.“ Über die Pandemie äußerte sich der Musiker so: „Ich denke, es ist ein Vorbote von etwas, das noch kommen wird. (…) Extreme Arroganz kann verheerende Folgen haben. Vielleicht stehen wir am Vorabend der Zerstörung.“ Man kann Dylans düstere Prognose auch als Zeitenwende interpretieren, um ein in Deutschland aktuell oft gebrauchtes Wort zu verwenden.
Für Dylan selbst war das Attentat auf John F. Kennedy im November 1963 eine solche Zeitenwende. Nicht wenige halten Dylans kurz nach der Ermordung Kennedys erschienenen Song „The Times They Are A-Changing“ für den Soundtrack dieser Zeitenwende. Nur, obwohl der Song im März 1964 veröffentlicht wurde, hat Dylan ihn bereits im Oktober 1963, also einen Monat vor der Ermordung aufgenommen. Hat sich Dylan, der sich so gut wie nie zu tagespolitischen Themen äußert, schon damals als Prophet betätigt? Und tut er es mit „False Prophet“ vielleicht erneut?
„False Prophet“ wurde im Januar und Februar 2020 eingespielt. Corona zeichnete sich damals gerade erst am Horizont ab. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er im Text nicht nur feststellt „I ain’t no false prophet, I just know what I know“, sondern auch: „I know how it happened, I saw it begin“. Im Interview mit der NYT im Juni 2020 scheint Dylan auf dieses Wissen zurückzugreifen, wenngleich indirekt. Der 83-Jährige sagt dort, dass es viele Gründe gibt, sich Sorgen zu machen. Es gebe heute definitiv mehr Angst und Nervosität als früher. Dies gelte aber nur für Menschen seines Alters. Ältere würden eher dazu neigen, in der Vergangenheit zu leben, so Dylan. Junge Menschen hätten diese Tendenz nicht, denn: „Sie haben keine Vergangenheit, also wissen sie nur, was sie sehen und hören, und sie glauben alles.“
Dylans Antwort bezog sich auf eine Frage zu seinem Song „Murder Most Foul“, der wie „False Prophet“ und „I Contain Multitudes“ schon Wochen vor der offiziellen Veröffentlichung von „Rough and Rowdy Ways“ online gestellt worden war. In „Murder Most Foul“ geht es um die Ermordung Kennedys, die jetzt 61 Jahre zurückliegt. Am Text fällt auf, dass die Mehrzahl verwendet wird. Hier ein paar Beispiele: „Du hast unbezahlte Schulden und WIR sind hier, sie einzutreiben. WIR töten Dich mit Hass, ohne jeglichen Respekt. (…) WIR haben bereits jemanden, der Deinen Platz einnehmen wird.“ Interessant auch das Schluss-Statement: „Tausende haben zugesehen, niemand hat auch nur etwas gesehen.“
Die Verwendung der Mehrzahl ist von Bedeutung, weil bis heute offiziell die Einzeltäterthese gilt. Auch wenn mittlerweile eine Mehrheit der Amerikaner Zweifel daran hat, gilt eine Verschwörung immer noch als Verschwörungstheorie. Obwohl damit die Frage im Raum steht, ob Dylan vielleicht ein Verschwörungstheoretiker ist, scheint die Verwendung der Mehrzahl kaum jemandem aufgefallen zu sein. Ähnlich verhält es sich mit der Spritze, die das Skelett in Smoking und Zylinder auf den Plakaten in der Hand hält, mit denen die Konzerte der Welttournee des Musikers beworben werden. Niemand scheint sie wirklich bemerkt zu haben.
Der Urheber des Bildes könnte Dylan selbst sein, denn der Stil ähnelt den Siebdrucken seiner Ausstellung „Revisionist Art“. Als Vorlage diente offensichtlich das Shadow Magazine vom Mai 2015. Das Cover mit dem Titel „Death about Town“ zeigt genau denselben Skeleton-Dandy, nur seitenverkehrt. Anstelle der Spritze hat dieser eine Zigarette in der einen Hand, in der anderen eins zu eins das Geschenk mit der Schleife in Kreuzform. Der Schatten des Skeleton-Dandy dort ist ein Mann mit Hut, der anstelle der Zigarette eine Pistole in der Hand hält. Über den Schatten des Skeleton-Dandy von „False Prophet“ gibt es Spekulationen, dass dieser wegen seiner Frisur Donald Trump am Galgen darstellen könnte. Wahrscheinlicher ist, dass auch der Schatten abgekupfert wurde, und zwar von einem anderen Magazin namens Black Mask vom Mai 1943.
Selbst bei der Musik zu „False Prophet“ soll sich der Künstler, in dem Fall sicher Dylan selbst, anderweitig bedient haben, wie das National Public Radio (NPR) im Mai 2020 berichtete. Demnach klingt „False Prophet“ „furchtbar alt … und vertraut“. Der Song soll ein Gitarrensolo und andere Elemente einer Single aus dem Jahr 1954 von Billy „The Kid“ Emerson, einem Pianisten, Sänger und Komponisten, enthalten.
Dass Dylan sich musikalisch, manchmal auch textlich, bei anderen bedient, ist kein Geheimnis. So gesehen ist der Rückgriff beim Bild zu „False Prophet“ auf bereits vorhandene Cover keine Überraschung. Wie bereits angedeutet, ist das Bild auch der falsche Weg, sich einen Reim auf das zu machen, was der Künstler sagen will. Spätestens seit der Verleihung des Literaturnobelpreises ist es offiziell: Bob Dylan ist vor allem ein Mann des Wortes. Als solchen sollte man ihn beim Wort nehmen, auch wenn dies nicht immer einfach ist, denn oft spricht er in Gleichnissen.
Meinte Dylan 1964 in „The Times They Are A-Changing“ noch „For the loser now will be later to win“, diagnostizierte er der Welt 1988 „World Gone Wrong“, um im Jahre 2000 im Oscar-prämierten „Things have changed“ resigniert festzustellen: „People are crazy and times are strange … I used to care, but things have changed.“ Mit anderen Worten: Nicht die Zeiten, sondern die Dinge haben sich geändert – und Dylan mit ihnen.
Eines ist möglicherweise beim Alten geblieben, und zwar das, was der frühere Präsident Obama sagte, als er Dylan 2012 mit der Medal Of Freedom ehrte, eine der höchsten zivilen Auszeichnungen der Vereinigten Staaten. Bei dieser Gelegenheit outete er sich nicht nur als „A really big fan“, sondern stellte darüber hinaus über Dylan fest: „He is still searching for a little bit of truth.“
Was Dylans Wahrheit ist, darüber kann man nur spekulieren, so wie der Rolling Stone Anfang September. Da spielte Dylan plötzlich einen Song live, den er 20 Jahre lang nicht auf der Bühne gespielt hat. Kurz zuvor hatte der frühere Präsident Obama genau diesen Song auf die Liste seiner Sommersongs gesetzt. Der Rolling Stone vermutet einen Zusammengang. Da Dylan nicht dafür bekannt ist, seine Beweggründe für Dinge preiszugeben, musste das renommierte Musik-Magazin am Ende resümieren: „Wir können nur spekulieren.“
Auch ich kann nur spekulieren, warum man sich mit solchen Banalitäten beschäftigt und nicht mit der Frage, warum in und unmittelbar nach einer Pandemie, in der das Überleben der Menschheit von einer Impfung abgehangen haben soll, ausgerechnet ein Skeleton-Dandy mit einer Spritze in der Hand, der zu einem Song mit dem Titel „False Prophet“ gehört, ein Plakat ziert, welches weltweit Werbung für ein Rockkonzert macht. Das aktuelle Aufregerthema ist übrigens immer noch das Handyverbot auf Dylan-Konzerten.
Viele Konzertbesucher interessieren sich vor allem dafür, in welchem musikalischen Gewand Dylan seine Songs diesmal vorträgt. Bilder und Texte sind für sie eher Nebensache. Manche bringen die Spritze mit Dylans Heroinsucht Anfang der Sechziger in Verbindung. Dagegen spricht, dass der Künstler nicht dafür bekannt ist zurückzublicken. Der Dylan-Experte Prof. Dr. Heinrich Detering, der mehrere Bücher über Bob Dylan geschrieben hat, darunter „Stimmen aus der Unterwelt – Bob Dylans Mysterienspiele“, beantwortet meine Frage, wie er den Skeleton-Dandy mit der Spritze deutet, kurz und knapp so: „Ich habe keine Ahnung.“
Auch ich habe keine wirkliche Ahnung. Ich würde es aber nicht ausschließen, dass Dylan die Antwort selbst gibt, und zwar in seinen Worten. Vielleicht ist es diese: „Sie haben keine Vergangenheit, also wissen sie nur, was sie sehen und hören, und sie glauben alles.“ Oder diese: „Tausende haben zugesehen, niemand hat auch nur etwas gesehen.“ Oder einfach nur: „Things aren’t what they were …“.
Titelbild: © Rumen Milkow