Politiker-Beschimpfung
Erhard Eppler in der Süddeutschen Zeitung vom 19.6.2006.
Die Abrechnung eines Mitarbeiters von Helmut Schmidt
“Machtwahn” heißt das Buch. Der Titel stammt sicher nicht vom Autor. Denn die “mittelmäßige Führungselite, die uns zugrunde richtet” – so der Untertitel – fühlt sich gar nicht mächtig gegenüber einem global agierenden Kapital. Sie stellt sich in seinen Dienst, verficht seine Interessen, verbreitet seine Ideologie. Wer heute in Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftsjournalismus und Wirtschaftspolitik das Sagen hat – für Albrecht Müller die Elite -, glaubt und lässt glauben, dass, wer nur den lieben Markt lässt walten, schließlich im Idealreich allgemeinen Wohlstands lande. Wenn da Macht ist, dann geliehene, die bei Abweichung jederzeit entzogen werden kann. Kein Anlass zum Wahn. Der Autor hatte den Titel “Dumm oder korrupt?” vorgeschlagen, und er bedauert, dass es dabei nicht geblieben ist. Manche hält er wohl für dumm und korrupt. Und im Laufe von 349 Seiten verlagert er seine Argumentation von “dumm” zu “korrupt”. Auf Seite 300 ist zu lesen: “Wir haben es mit einer Generation von Topeliten zu tun, die viel Zeit, Kraft und sogar Steuergelder darauf verwenden
- das bisher angesammelte Volksvermögen zu verscherbeln,
- eine der wichtigsten Errungenschaften, die solidarischen Sicherungssysteme, dem Vertrauensverlust preiszugeben und so zu zerstören.
Und all das aus einem einzigen Grund: weil sie an dem Akt der Veränderung verdienen wollen.”
Es stimmt ja: Manche von denen, die Müller meint, zumal wenn sie mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten, haben ihre Entzauberung redlich verdient. Aber alle, die Müller da beschimpft, werden sich gelassen zurücklehnen: Auf solche Anwürfe brauchen sie nicht zu reagieren. So, wie sie Müllers Buch über die “Reformlüge” ignoriert haben, das vieles von dem vorwegnahm, was nun eher breit getreten als vertieft wird, werden sie nun sagen können, Müller bewege sich weit jenseits einer seriösen Diskussion. Und denen, die das Buch verschlingen, ist anschließend auch nicht nach rationalem Diskurs zumute. Korrupte Eliten kann man nur wegfegen, und wenn man es dann doch nicht kann, darf man wenigstens, wie manche Gewerkschafter, einem ausgewiesenen Plebejer wie Oskar Lafontaine zujubeln, weil der bekanntlich immer nur das Gemeinwohl im Auge hat, genau wie die Bildzeitung, die sein Forum war und ihn gut bezahlte.
Was dieses Land braucht, ist ein politischer Diskurs, der die behäbige Hegemonie marktradikaler Ideologen ablöst. Am ehesten lässt er sich einleiten mit der Frage, was ein Staat zu leisten hat, was man ihm abnehmen darf und was nicht. Beschimpfungen stören nur. Es könnte sein, dass die marktradikale Welle sich weltweit schon gebrochen hat. Die Gegenbewegung hat, ausgehend von Lateinamerika, inzwischen Deutschland erreicht. Jetzt sind einleuchtende Alternativen gefragt. Möglichst europäische, nachdem die Nationalstaaten erpressbar geworden sind. Und da hat Müller nichts beizutragen außer dem erstaunlichen Rat: “Macht alles so wie wir, die Nicht-Dummen, Nicht-Korrupten es in den Siebzigerjahren gemacht haben!”
Es mag ja stimmen, dass den Leuten, die Müller mit “Eliten” meint, seit dem Lambsdorff-Papier, das die sozialliberale Koalition aufkündigte, also seit 25 Jahren, nichts Neues mehr eingefallen ist. Nur: Müller kann da lässig mithalten: Was ist ihm in den letzten 30 Jahren Neues eingefallen? Oder sind es 40 Jahre? Seit Plisch und Plum 1966 anfingen, eine Konjunkturdelle frei nach Keynes durch kreditfinanzierte Programme einzuebnen? Was damals richtig und möglich war, soll nun, für eine ganz andere, globalisierte Wirtschaft, zum Allheilmittel für alle Fälle werden.
Dass die Regierung Schmidt, deren Planungsabteilung im Kanzleramt Albrecht Müller leitete, die erste Ölpreisexplosion nicht, wie heute Sigmar Gabriel, als Motor einer modernen Energiepolitik nutzte, sondern lediglich mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen reagierte, hält Müller für die letzte richtige wirtschaftspolitische Entscheidung. Dabei war damals schon klar, dass nicht mit Schulden wettgemacht werden konnte, was die Ölscheichs zu verlangen gedachten. Helmut Schmidt hatte seine Gründe dafür, dass er die zweite Ölpreisexplosion nicht noch einmal so bekämpfen wollte. Das war Lambsdorffs Chance.
Vor ein paar Wochen schickte mir eine ehemalige Bundestagskollegin die Abschrift einer Rede zu, die ich auf dem Landesparteitag der Berliner SPD 1982 unmittelbar nach dem Sturz der Regierung Schmid gehalten habe. Damals – ich hatte dies längst vergessen – erinnerte ich daran, dass ich “vor einigen Jahren”, also wohl Ende der Siebzigerjahre, als die zweite Ölpreiskrise begann, gesagt hätte: “Wenn wir nicht über Keynes hinauskommen, werden wir hinter Keynes zurückgeprügelt.” Und dann: “Dies ist im Augenblick” (Ende 1982) “in vollem Gange.” Man verzeihe dieses Selbstzitat aus fernen Zeiten. Es zeigt, dass Müllers Position nie unangefochten war.
Natürlich ahnte ich damals noch nicht, wie gründlich dieses “Zurückprügeln hinter Keynes” ausfallen, wie lange es dauern und wo es enden würde. Noch weniger allerdings konnte ich mir vorstellen, dass einer von denen, deren Mangel an Sensibilität und Phantasie den Zurückprüglern freie Bahn geschaffen hatte, 24 Jahre später noch behaupten könnte, alles Elend komme daher, dass man nicht einfach weitergeführt habe, was schon damals als Antwort auf immer neue Schübe von Energieverteuerung nicht taugte.
Das Bewusstsein wird geprägt von dem, was war, von der Vergangenheit. Daher haben wir Mühe, die Zukunft richtig einzuschätzen. Deshalb fand ich, wie die Regierung Schmidt auf die Ölpreisexplosion antwortete, schlimm, aber verzeihlich. Auch mein Urteil über die Leute, die Müller für dumm oder für korrupt hält, fällt deshalb wesentlich milder aus. Auch Müller ist weder dumm noch korrupt. Aber was er heute unternimmt, ist nicht mehr verzeihlich. Es ist nur noch schlimm. Es spielt denen in die Hände, für die Demokratie nie etwas anderes war als eine Verschwörung der Dummen mit den Korrupten.
ERHARD EPPLER
ALBRECHT MÜLLER: Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet. Droemer/Knaur, München 2006. 363 Seiten, 19,90 Euro.
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.138, Montag, den 19. Juni 2006 , Seite 61