Massenmedien sind eine Art „Fenster zur Welt“, so die Charakterisierung der Medien durch Walter Lippmann, ein US-amerikanischer Journalist und Publizist, der 1922 ein Grundlagenwerk des Journalismus mit dem Titel „Die öffentliche Meinung“ veröffentlichte. Und dieses „Fenster-zur-Welt-sein“ ist umso mehr gegeben, je mehr die realen Ereignisse sich den Primärerfahrungen des Menschen und der Gesellschaft durch räumliche Distanzen entziehen. Von Alexander Neu.
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Ohne massenmediale Berichterstattung bewegen sich Menschen faktisch im Tal der Ahnungslosen, da sie sich nur auf ihre Primärerfahrungen im begrenzten räumlichen Bereich beziehen können. Angesichts dessen verfügen Massenmedien quasi über ein Informationsmonopol, was sie zu einem unverzichtbaren Kommunikationsakteur moderner Gesellschaften macht – Medien haben Macht, die Medienmacht. So weit, so gut, zunächst einmal.
Allerdings beschränkt sich das Wirken der Massenmedien eben nicht allein auf die – zumindest dem Anspruch nach – neutrale und objektive Identifikation, Multiplikation und Distribution von Informationen über reale Ereignisse. Vielmehr konstruieren Massenmedien bewusst subjektive Realitäten, neudeutsch Narrative, die sie als angeblich objektive Wirklichkeit publizieren. Und dieses Phänomen betrifft insbesondere die politische Sphäre. Massenmedien werden auf diese Weise zu politischen Machtfaktoren, Journalisten bisweilen zu Politaktivisten im Kostüm des seriösen Journalisten. Vorbei ist die Zeit, in der nur von „passiver Medienmacht“ – mithin der Instrumentalisierung der Medien seitens der Politik als politisches Sprachrohr – gesprochen werden kann. Es geht zunehmend um die „aktive Medienmacht“. Sie beschreibt das Einflusspotenzial, ja geradezu den Druck der Medien auf politische Entscheider und Entscheidungsprozesse.
Der aktive politisch-mediale Machtfaktor ist allgegenwärtig, indes nicht demokratisch legitimiert. Selbstverständlich kann der mündige Bürger das Medium zwecks Informationsrezeption frei „wählen“ – ARD statt FAZ oder RTL statt Stern etc. Die Informationsrezeptionsfreiheit des Menschen in unserem Land genießt sogar Verfassungsrang (Artikel 5, Abs. 1 Grundgesetz) und muss gegen jegliche Einschränkungen verteidigt werden.
Was aber, wenn die Medien sich inhaltlich kaum unterscheiden, weil die Redaktionslinien ideologisch und gesinnungsethisch mehr oder minder identisch sind – wenn also nur die Hülle, nicht indes der Inhalt variiert? Oder wenn sogar signifikant abweichende Medien verboten würden? Wenn also Informationen und Meinungen eng auf eine spezifisch ideologische Richtung hin kanalisiert werden? Wenn Faktenberichterstattung nach bestem Wissen und Gewissen, also die Einhaltung journalistischer Standards, durch Haltungsjournalismus, das heißt journalistische Gesinnungsethik, ersetzt wird? Und wenn beide Faktoren (inhaltliche haltungsideologische Eintönigkeit der Berichterstattung und Verbote abweichender Berichterstattung und Meinungen) verbunden würden, dann entfiele die Grundlage für die Demokratie. Dann wäre die Dialektik der Antike, der Rede und Gegenrede mit dem Ziel des guten Erkenntnisgewinns, der Wahrheitsfindung begraben. Die Aufklärung würde auf diese Weise durch die neuen Antiaufklärer mit dem Verweis, die Aufklärung schützen zu müssen, faktisch abgewickelt. Der politische Liberalismus, dem ein jahrhundertelanger Kampf zugrunde liegt, drohte zur bloßen Hülle zu verkommen. Kurzum: Es stünde noch Demokratie drauf, aber es wäre keine gelebte Demokratie mehr drin.
Schon vor 25 Jahren beobachtete der Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler S. Ruß-Mohl ein um sich greifendes neues berufliches Selbstverständnis, nämlich der „Moralisierung des Journalismus“ – der Journalist als der selbsternannte, die Gesellschaft erziehende Haltungsträger. Der Jugoslawienkrieg inklusive des NATO-Angriffskrieges beschleunigte diese Entwicklung hin zur Moralisierung der Medien. Die vordergründige Legitimation des NATO-Krieges gegen Jugoslawien war keine völkerrechtliche, wie auch. Es war vielmehr eine von Medien und Politik gemeinsam getragene, rein moralische Rechtfertigung. Das Kernelement der Moral war der Rückgriff auf die de facto den Holocaust relativierenden Faschismusanalogien: Die Serben wurden als neue Faschisten/Nazis etikettiert und die Albaner als ausschließliche Opfer, gestellt in die Reihe des industriellen Judenmordes des deutschen Faschismus.
Wie sonst sind die Auslassungen des damaligen grünen Außenministers J. Fischer zu Ausschwitz und Serbien sowie sein Vergleich, S. Milosevic sei bereit, „zu handeln wie Stalin und Hitler“, im Kontext seiner Rechtfertigung für die deutsche Beteiligung am NATO-Angriffskrieg gegen Serbien zu interpretieren? Wie sonst sind die widerlegten Behauptungen des damaligen SPD-Verteidigungsministers R. Scharping von einem „KZ“ mitten in Pristina zu verstehen? Und auch so manche deutschen Medien scheuten sich nicht, mit Faschismusanalogien Stimmung zu machen.
Mit diesem neuen Selbstverständnis der moralisierenden und haltungstreuen Journalisten werde, so die Journalistin und Koordinatorin der Initiative „Freies Wort“ Christine Horn bereits Ende der 1990er-Jahre, die Rolle des Journalismus in Politik und Gesellschaft neu definiert: So gebe es seit geraumer Zeit in den USA und Großbritannien offene Diskussionen bei den Journalisten darüber, sich nicht mehr nur auf objektive Faktenberichterstattung zu beschränken, sondern auch Verantwortung zu tragen, für die Opfer Partei zu ergreifen und Institutionen zum Handeln zu zwingen. Dieser moralisierende Zeitgeist ist zwischenzeitlich auf Europa übergesprungen. Es sei mir folgender Hinweis gestattet: Ob der haltungstragende und moralisierende Journalist tatsächlich von der Reinheit seines Gewissens überzeugt ist und sich somit selbst zum nützlichen Idioten zeitgenössischer Machtpolitik degradiert, oder ob er vielmehr tatsächlich die Moral nur als Instrument zur Vernebelung der öffentlichen Meinung nutzt, um die machtpolitische Agenda, insbesondere in der Außenpolitik, doch bewusst mitzugestalten, ist wohl nur im jeweiligen Einzelfall zu klären.
Vorkriegs- und Kriegspropaganda gegen Kritiker an der Heimatfront
Wie bereits oben ausgeführt, geht es vielen Medien um die soziale Konstruktion einer exklusiven Realität, nur einer Wahrheit, mithin eines Narrativs – nämlich: Wir sind die Guten! Und wenn die „Gefahr entsteht“, dass Medien und Politiker, zuvörderst alternative Medien und Politiker, jenseits der selbsternannten Blase der Guten das kanalisierte Informations- und Meinungsspektrum mit einem abweichenden Narrativ aufzusprengen beabsichtigen und somit das mediale und politische Deutungsmonopol relativieren, dann wird bisweilen auf Maßnahmen zurückgegriffen, die einem demokratischem Verständnis zutiefst widersprechen.
Über die Prinzipien der Kriegspropaganda gibt es mittlerweile einige wissenschaftliche Arbeiten. Auch meine Dissertationsschrift aus dem Jahre 2004 ist der Kriegsberichterstattung gewidmet. Eine wissenschaftliche Aktualisierung des Phänomens medialer und politischer Entgleisungen, Diffamierungen, Beleidigungen etc. in Kriegs- und Vorkriegszeiten gegen Kritiker innerhalb einer Gesellschaft wäre sicherlich hilfreich. Nur, welcher Doktorand und welcher Doktorvater würde sich das heute trauen angesichts der vergifteten Atmosphäre in Deutschland?
Mediale Diffamierungstechniken
Zu den neueren und neuesten Errungenschaften der Verunglimpfungen und Verleumdungen kritischer und antimilitaristischer Geister gehören die Begriffe „umstritten“ sowie „auffällig“ bzw. „fällt auf mit …“ sowie der Vorwurf des „Whataboutism“.
„Umstritten“ und Reproduktion des russischen Narrativs
Wer von den selbsternannten journalistischen Sittenwächtern der Moral als „umstritten“ gebrandmarkt wird, dem wird die Redlichkeit, die Seriosität abgesprochen. Er oder sie wird aus dem Diskursraum entfernt, besser noch, er oder sie hat sich ja selbst ins Aus geschossen. Denn seine und ihre Aussagen sind es aufgrund einer angeblichen Absurdität oder sogar Nähe zum „Feind“ nicht mehr wert, diskutiert zu werden. Hierzu gehört, dass faktenbasierte Aussagen, die das herrschende Narrativ anzweifeln oder sogar bloßstellen, mindestens „umstritten“ sind und mittlerweile sogar als Reproduktion des feindlichen Narrativs degradiert werden – eine Fortsetzung der Diskussion ist dann kaum noch möglich, und das ist ja auch die Absicht. Wer also beispielsweise kundtut, die EU-Sanktionen gegen Russland schadeten Deutschland mehr als Russland, verbreitet sodann ein „Kremlnarrativ“. Die Gegner dieses vermeintlichen „Kremlnarratives“ geben sich nicht einmal die Mühe, diese Aussage anhand von vergleichenden Wirtschafts- und Handelsdaten falsifizieren zu wollen. Es ist ein „Kremlnarrativ“, und damit ist die Debatte beendet – basta.
Nicht minder die Nennung der Vorgeschichte – insbesondere die NATO-Osterweiterung – des zweifellos russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Diese Vorgeschichte wurde anfänglich als verschwörungstheoretisch stigmatisiert, nun sogar als Kreml- und Putinpropaganda abgewürgt. Die Diffamierungskampagne läuft ungeachtet der Tatsache, dass der NATO-Generalsekretär – und nicht nur er – diesen Zusammenhang in einer Rede vor einem EU-Ausschuss 2023 selbst erwähnte: „The background was that President Putin declared (…) that they wanted NATO to sign, to promise no more NATO enlargement. That was a precondition for not invade Ukraine. (…) So he went to war to prevent NATO, more NATO, close to his borders.“
(Quelle: nato.int, mehr dazu vor allem mit Blick auf weitere westliche Bedenkenträger einer NATO-Osterweiterung)
Auch werden die Forderungen einer sofortigen Waffenruhe und die notwendigen Verhandlungen für eine Friedenslösung, die die Sicherheitsbedürfnisse aller Konfliktakteure berücksichtigt, als Putinsprech verteufelt. Mit anderen Worten: Diejenigen, die Frieden einfordern, müssen irgendwie im Solde Putins stehen.
Zugleich wird behauptet, und hier wird die Absurdität besonders deutlich, Putin wolle keine Verhandlungen zu einer Friedenslösung. Ja, was denn nun?
Whataboutism
Eine beliebte Taktik in Diskussionen ist der empörte Vorwurf des „Whataboutism“ – also des Relativierungsvorwurfs des Vergehens der einen Seite durch Nennung gleichartiger Vergehen der anderen Seite.
Beispielsweise, wenn in der Diskussion des völkerrechtswidrigen Krieges Russlands gegen die Ukraine der nicht minder völkerrechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien 1999 genannt wird, womit eine Kontextualisierung der internationalen Konfliktlagen herbeigeführt wird – ganz nach der biblischen Aussage: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“–, dann kommt der empörte Vorwurf, man wolle das russische Vorgehen ja nur relativieren und verhöhne die gegenwärtigen Opfer in der Ukraine damit. Tatsächlich wird umgekehrt ein Schuh daraus, da die von der eigenen Seite „produzierten“ Opfer marginalisiert werden. Diese Technik des „Whataboutism“ lässt sich leicht kontern, wenn man über genügend Fachwissen verfügt.
Exkurs
Fakt aber ist, dass mit dem NATO-Angriffskrieg auf das damalige Jugoslawien das Gewaltverbot der UNO-Charta massiv gebrochen und sodann ein Präzedenzfall geschaffen wurde, den Russland nun (aus)nutzt. Und wer hoffte, der völkerrechtswidrige Krieg gegen Jugoslawien sei ein zu tolerierender Einzelfall ohne Präzedenzwirkung, der möge sich bitte an den Angriffskrieg der „Koalition der Willigen“ (ironischerweise unter Beteiligung der Ukraine) unter US-Führung gegen den Irak 2003 erinnern. Washington nutzte den 1999 selbst geschaffenen Präzedenzfall 2003 gegen den Irak – wie praktisch. Zynischerweise könnte man von einem sich entwickelnden Völkergewohnheitsrecht sprechen, Drittstaaten militärisch überfallen zu dürfen. Jedenfalls liegt das konsensuale moderne Völkerrecht seit spätestens 1999 in Trümmern. Um dennoch den Anschein eines globalen Ordnungsrahmens aufrechtzuerhalten, hat der Westen praktischerweise eine neue Rechtsform für den Rest der Welt kreiert und pocht auf deren Einhaltung, was der Nichtwesten wiederum nicht so recht einsehen will: „die regelbasierte internationale Ordnung“.
Exkurs Ende
Das Ziel des empörten Vorwurfs besteht darin, nur die genehme Hälfte des Gesamtbildes zu zeigen bzw. zu diskutieren und die andere, die unangenehme Hälfte als nicht existent oder zumindest als nachrangig zu deklarieren.
Es soll nur dieser eine Fall, dieser eine Krieg, dieses eine Massaker, diese eine Kriegspartei betrachtet werden, um ein endgültiges Urteil zu fällen, was natürlich auf die unterkomplexe Erfassung von „Realität“ – hier die Guten, dort die Bösen – hinausläuft. Dieses binäre Schema funktioniert auch deshalb relativ erfolgreich, da es so manchem denkfaulen Zeitgenossen sehr entgegenkommt: Warum sich in komplizierte Realitäten eindenken, Kontexte ausleuchten, wenn es auch einfacher geht. Zumal sich positive und negative Images von Staaten und Gesellschaften, über lange Zeiträume gepflegt, als relativ stabil erweisen. Der „Serbe“ ist genauso hinterwäldlerisch wie der „Russe“. Dem Serben wurde während der Zerlegung Jugoslawiens eine genetische Präposition zur Gewaltanwendung nachgesagt, wie der Russe, der zwar aussieht wie ein Europäer, aber keiner ist – wie die Politikwissenschaftlerin Florence Glaub 2022 in der Talksendung von M. Lanz als „Expertise“ unwidersprochen zum Besten gab.
„Auffallen“ und „auffällig“
Die neueste Errungenschaft im Kampf um das Deutungsmonopol, im Kampf um das alleinherrschende Narrativ ist, wie bereits oben genannt, das Adjektiv „auffällig“ und „fällt auf“. So ist zum Beispiel Sahra Wagenknecht „mit Blick auf den Krieg in der Ukraine schon mehrmals mit Falschbehauptungen aufgefallen“, so die Tagesschau vom 31. Juli 2024.
Und auch in der Politikwissenschaft trifft es J. Varwick, Professor für Internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, „der seit Jahren mit Russland-freundlichen Positionen auffällt …“.
Für das Verb „auffallen“ werden beispielsweise folgende Synonyme im Duden genannt: „bemerkt werden“ und „Aufmerksamkeit erregen“. Die Adjektivform „auffällig“ beschreibt der Duden mit: „die Aufmerksamkeit erregend, auf sich ziehend“. Als Beispiele nennt der Duden „ein auffälliges Benehmen“, „er ist schon mit 14 Jahren zum ersten Mal auffällig geworden (ist durch gesetzwidriges o. ä. Verhalten aufgefallen)“, ist also verhaltensauffällig – ein medizinischer bzw. psychologischer Befund.
Und genau darum geht es: Der Person wird Verhaltensauffälligkeit – also ein psychisches Problem – unterstellt, da, so der Duden, „in ihrem Verhalten vom Normalen, Üblichen in auffälliger Weise abweichend“. Auffällig ist also das Unnormale. Und was das Normale ist, bestimmen die Haltungsjournalisten, nämlich ihr Narrativ. Mit dem Verb „auffallen“ wird auf subtile Weise dem Leser/Zuschauer vermittelt, dass die mit diesem Verb beglückten Personen ein psychisches Problem haben. Der Medienkonsument möge bei psychisch belasteten Personen bitte nicht mehr hinhören und schon gar nicht dessen Äußerungen ernst nehmen.
Diese Beispiele zeigen, mit welch harten Bandagen die herrschende Meinung um ihr Monopol kämpft. Als Kollateralschaden wird nicht nur die Spaltung der Gesellschaft hingenommen, sondern auch die Demokratie, der Kampf um die besten Argumente, fahrlässig gefährdet.
Titelbild: Shutterstock / Marko Aliaksandr