Auf allen Weltmeeren zu Hause

Auf allen Weltmeeren zu Hause

Auf allen Weltmeeren zu Hause

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Die Philippinen, die zusammen mit dem südlichen Nachbarn Indonesien das insulare Südostasien bilden, waren stets eine Nation von Seefahrern. Überliefert ist die Geschichte des Enrique Melaka (auch Enrique von Malakka), der ein Sklave, Diener und Dolmetscher von Ferdinand Magellan war, als dieser sich anschickte, vor reichlich 500 Jahren im Dienste der spanischen Krone die legendären Gewürzinseln zu entdecken. Fünf Jahrhunderte nach all diesen Ereignissen führte Rainer Werning für die NachDenkSeiten Mitte Mai in Brüssel ein Gespräch mit dem philippinischen Seemannspastor June Mark Yañez (45), der langjähriger Hafenkaplan in Hamburg und Rostock war und seit 2022 im belgischen Antwerpen arbeitet.

Enrique, so der ihm von Magellan gegebene Name, stammte von der malaiischen Halbinsel, nach anderen Angaben aus Sumatra oder aus jener Region, die die Spanier später die Philippinen tauften. Auf den Reisen dolmetschte Enrique u.a. zwischen den Bewohnern der zentralphilippinischen Visayas-Inselgruppe und den Spaniern. Nach Magellans gewaltsamem Tod im April 1521 auf Mactan, wo sich heute mit dem internationalen Flughafen Cebu der zweitgrößte Airport der Philippinen befindet, wäre Enrique, dem Testament Magellans entsprechend, frei gewesen. Doch der neue Kapitän Juan Sebastián Elcano setzte Enrique weiterhin als Dolmetscher ein. Dieser rächte sich, indem er ein blutiges Bankett mit dem cebuanischen Fürsten Rajah Humabon mitplante, bei dem über 20 europäische Teilnehmer getötet wurden. So viel ist historisch verbürgt – dank der minutiösen Aufzeichnungen des italienischen Bordchronisten Antonio Pigafetta.

Rainer Werning: Wo sind Sie geboren und aufgewachsen?

June Mark Yañez: Ich bin in Cagayan de Oro City im Norden der südphilippinischen Insel Mindanao geboren und dort auch aufgewachsen.

Was waren prägende Erlebnisse in Ihrer Zeit als Jugendlicher?

Als Jugendlicher hat mich die intensive ökumenische Bewegung tief geprägt – vor allem die Zusammenarbeit der Kirchen mit Menschen, die sich aktiv für die Umwelt und soziale Gerechtigkeit engagieren.

Was studierten Sie, und wie kamen Sie dazu, sich ausgerechnet für Seeleute zu interessieren?

Ich habe Philosophie studiert – nebst vielen anderen Dingen, die ich sowohl auf der Straße als auch in der Kirche lernte. Ehrlich gesagt habe ich in frühen Jahren weder Ahnung über noch Interesse für Seeleute gehabt. Innerhalb der Kirche als auch in der Gesellschaft wurden Seeleute als vergleichsweise reiche Menschen angesehen. Mein Bild von Seeleuten änderte sich gehörig, als ich im Zuge eines Austauschprogramms zwischen der Iglesia Filipina Independiente[*] und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland beziehungsweise der Nordkirche im Jahr 2015 nach Deutschland kam. Dort arbeitete ich fünf Jahre lang als sogenannter Port Chaplain (Hafenkaplan) in Hamburg und zwei Jahre in Rostock, wo meine Tätigkeit von der lokalen Dependance der Deutschen Seemannsmission[**] finanziert wurde.

In beiden Städten hatte ich enge Kontakte zu den Seeleuten. Ich redete sehr viel mit ihnen, besuchte sie ausgiebig an Bord ihrer Schiffe sowie in Clubs eigens für Seeleute und, wenn sie einige Zeit im Krankenhaus verbringen mussten. Auf diese Weise lernte ich jenseits idealisierender Vorstellungen die mitunter harte und dunkle Realität des Lebens auf See kennen.

Philippinische Seeleute sind heute auf allen Weltmeeren anzutreffen. Wie ist das zu erklären, seit wann und aus welchen Gründen geschah das?

Während der weltweiten Wirtschaftskrise Ende der 1970er-Jahre propagierte unsere Regierung, dass zahlreiche Filipinos ins Ausland gehen sollten, um die Arbeitslosigkeit daheim zu überwinden und die philippinische Wirtschaft zu stärken. Es war dies kein schlechtes Timing, zumal in zahlreichen Städten im Ausland ein großer Mangel an billigen Arbeitskräften herrschte – auch in Europa. Seitdem hat unsere Regierung etliche Behörden gegründet, die sich auf die Bedürfnisse und Anforderungen eines solchen Arbeitsmarkts einstellten. So entstand beispielsweise der Overseas Employment Development Board, dessen Kernanliegen erklärtermaßen darin besteht, „die Beschäftigung philippinischer Arbeitnehmer im Ausland durch ein umfassendes Marktförderungs- und Entwicklungsprogramm“ zu unterstützen. Unter dieses Programm fiel auch die Seefahrt beziehungsweise die Förderung von Seeleuten.

1980 wurde der National Seamen’s Board mit dem Ziel aus der Taufe gehoben, „ein umfassendes Programm für im Ausland beschäftigte philippinische Seeleute zu entwickeln und zu unterhalten“. Seeleute wurden auf diese Weise zu einem wichtigen „Auslandsprodukt“. Bis jetzt ist die Seefahrt einer der größten und lukrativsten Handelszweige der Philippinen. Zusammen mit allen anderen Überseearbeitern, den sogenannten Overseas Filipino Workers (OFW), belaufen sich ihre Auslandsüberweisungen in die Philippinen auf ungefähr zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Um die Arbeit der Seeleute wertzuschätzen, werden auch sie daheim als „Helden“ gepriesen, denen zu Ehren an jedem 5. Juni im Jahr eigens ein Nationaler Tag für Seeleute (Day for Filipino Seafarers) abgehalten wird.

Auf der anderen Seite ist das Leben in den Philippinen für viele Menschen nach wie vor sehr hart. Armut ist allgegenwärtig und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Seefahrt bietet deshalb eine gute Chance, der Misere zu entfliehen. Für viele – vor allem Männer – ist sie die einzige Möglichkeit, eine bessere Lebensqualität für ihre Familie zu ermöglichen. In diesem Kontext wird verständlich, warum viele Filipinos zur See wollen und dass sie dabei in Kauf nehmen, Löhne angeboten zu bekommen, die im Vergleich zu Kollegen aus Europa sehr niedrig sind. Dennoch sind die gezahlten Löhne immerhin drei- bis viermal höher als das, was ein Seemann in den Philippinen verdient.

Wie ist da die Gehaltsstaffelung: Was verdient ein Pinoy-Seemann[***] durchschnittlich beim Einstieg, und was sind die Topgehälter hoch qualifizierter Seeleute?

Es gibt eine sehr breite Gehaltsstaffelung, was insbesondere Offiziere und Nicht-Offiziere betrifft. Ein Kapitän beispielsweise kriegt ungefähr 500.000 Peso oder rund 8.500 US-Dollar pro Monat. Als Einsteiger verdient ein philippinischer Seemann etwa 40.000 Peso oder zirka 860 monatlich. Die durchschnittliche Entlohnung eines philippinischen Seemanns im Ausland beträgt etwa 100.000 Peso oder etwa 1.700 US-Dollar. In den Philippinen zählen Seeleute zu den zehn bestverdienenden Arbeitern.

Wie viele Pinoy-Seeleute gibt es heute weltweit?

Im Jahr 2022 waren laut offiziellen Angaben 385.240 philippinische Seeleute im Ausland tätig. Das entspricht nahezu einem Viertel aller weltweit beschäftigten Seeleute.

Was sind deren größte Schwierigkeiten und Probleme?

Trotz der allgemein lukrativen und stabilen Lage der Seefahrt auf dem Arbeitsmarkt findet sich ein normaler philippinischer Seemann häufig in einer prekären Situation. Das betrifft u.a. die geringe Ausbildungsqualität für Offiziere; die Mehrheit der philippinischen Seeleute sind Nicht-Offiziere, was im Klartext bedeutet, dass sie lediglich über befristete Arbeitsverträge verfügen; am Ende eines sechs- bis neunmonatigen Arbeitsvertrags besteht keinerlei Garantie zur Wiederanstellung. Die Resultate kann man sich leicht ausmalen: Es bestehen Ausbeutungsverhältnisse und unfaire Arbeitsverhältnisse, vor allem bei temporärem Arbeitskräfteüberangebot. Zusätzlich gibt es Diskriminierung nach Alter und Gesundheitszustand. Viele dieser Probleme sind Ausdruck der unregulierten Macht von Beschäftigungsagenturen in den Philippinen.

Weil sie Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren, kämpfen philippinische Seeleute oft nicht gegen:

  • Gewalt (körperliche wie verbale)
  • Ablehnung von Freizeitmöglichkeiten
  • Arbeitsüberlastung
  • rassistisch begründete Diskriminierung an Bord
  • unbezahlte Überstunden oder Unterbezahlung
  • unmenschliche Behandlung (an Bord wie auch im Krankheitsfall, oder wenn sie im Gefängnis sitzen)

Viele Seeleute leiden, gerade weil sie in solchen Problemlagen keine Ansprechpartner haben, an psychischen oder seelischen Erkrankungen. Auch kommt es zu Depressionen und Suizidversuchen.

Wie sah eigentlich konkret ihre Lage während der Corona-Zeit aus?

Während der Corona-Zeit nahmen die Probleme der Seeleute in hohem Maße zu. Sie vereinsamten, waren auf sich allein gestellt, ohne sich Hilfspersonen anvertrauen zu können. Viele Seeleute durchlitten Depressionen und neigten in einigen Fällen zu Selbstmord. Die allermeisten von ihnen hatten während dieser Zeit keine Gelegenheit, von Bord zu gehen und so etwas wie Rekreation zu erleben; ganz zu schweigen davon, dass sie nicht nach Hause kommen konnten – man war für ein Jahr oder länger buchstäblich gestrandet! Angesichts des engen familiären Zusammenhalts in den Philippinen bedeutete das nachgerade eine extrem hohe Stresssituation für alle Beteiligten.

Was unternimmt die philippinische Regierung, um die eigenen Seeleute zu schützen und ihre Lage zu verbessern?

Die philippinische Regierung und die Behörden in den Philippinen sind, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung, schlichtweg „seeblind“. Sie betrachten die im Ausland arbeitenden Seeleute als Melkkühe und wollen so viel Geld wie möglich aus ihnen herauspressen. Ich war im letzten Jahr in den Philippinen und hatte ausreichend Gelegenheit, mich u.a. im Hafen von Manila umzuschauen. Ich habe mit Leuten aus der Seemannsmission, von Manning Agencies sowie Personal des ITF (einer internationalen Gewerkschaft) gesprochen. Alle versicherten mir, dass die Regierung nichts für Seeleute tut, die im Hafen von Manila ankommen. Das Schlimmste ist allerdings, dass es dort von Beamten wimmelt, die die Hand aufhalten.

Sind Sie in Ihrer Arbeit Rassismus begegnet – falls ja, in welcher Form?

Ja. In den meisten Fällen fühlen sich die Seeleute „kleingemacht“ – vor allem seitens russischer und ukrainischer Offiziere, die sie entweder misshandeln und beschimpfen oder sich über sie lustig machen. Beim Essen werden häufig ihre Präferenzen missachtet oder ihre Esskultur verspottet – vornehmlich seitens griechischer oder italienischer Chefs. Dann kommt es auch vor, dass nur philippinische Seeleute nicht an Land gehen dürfen, um ihre Freizeit zu genießen – was natürlich im Fall ihrer europäischen Kollegen nicht der Fall ist. Die größte Form der Ungleichheit und Ungleichbehandlung besteht nach wie vor in der Bezahlung; für genau die gleiche Arbeit werden Filipinos im Vergleich zu europäischen Seeleuten schlechter bezahlt.

Persönlich begegnete ich zum Glück keinem Rassismus. Bislang wurde ich so behandelt wie meine anderen europäischen Hafenkapläne oder Port-Chaplain-Kollegen auch.

Wie muss sich ein Außenstehender Ihren Tagesablauf vorstellen?

Unsere Arbeit ist wesentlich Sozialarbeit („welfare service“). Darüber hinaus schöpfen wir als in der Seemannsmission tätige Personen aus der Quelle unseres christlichen Glaubens – das letztlich motiviert uns und unser Tun. Christus ist in erster Linie auf der Seite von Menschen, die an den Rändern der Gesellschaft stehen und die von anderen schlecht angesehen sind – darunter fallen eben auch Seeleute. Obwohl sie viel für uns alle arbeiten – immerhin erfolgen etwa 90 Prozent des internationalen Güter- und Handelsverkehrs auf dem Seeweg –, werden sie häufig nicht geschätzt. Wir sind dafür da, ihnen respektvoll beizustehen und sie in ihrer Würde zu unterstützen.

Mein Tagesablauf? Zunächst bereite ich mich vor, indem ich Satellitenbilder studiere und mich um die Schiffsliste kümmere, damit ich weiß, welche Schiffe in meinem Hoheitsgebiet einlaufen. Die neu angekommenen Schiffe genießen Priorität. Sie haben Vorrang, was meine Schiffsbesuche und die jeweilige Besatzungsbetreuung betrifft. Ich schaue mir sodann ihre Nationalitäten an, um sie mit entsprechenden Zeitungen zu versorgen. Ich besorge mir all jene Dinge, die ich für solche Besuche brauche – SIM-Karten, Bibeln, Bibeltexte zum Nachdenken, Magazine usw. An Bord verteile ich das unter den Leuten. Dann rede ich mit der Besatzung, um ihre Anliegen zu erfahren und entsprechend zu handeln. Manchmal sind es geistliche Belange, manchmal praktische Alltagsdinge und mitunter auch arbeitsrechtliche Probleme. In solchen Fällen kontaktieren wir sozial engagierte Gewerkschafter oder schalten die jeweilige Hafenbehörde ein.

An manchen Tagen nehme ich an Meetings mit anderen Kollegen teil, um uns über aktuell anstehende Probleme und dergleichen auszutauschen. Liegt ein Seemann im Krankenhaus, stimmen wir uns sofort untereinander ab, wer Krankenbesuche absolviert und sich angemessen um die Belange der betroffenen Personen kümmert.

In den Seemannsclub gehe ich, wenn dort Not am Mann herrscht, um auszuhelfen oder auch Busfahrten zu koordinieren – wir bieten nämlich einen Shuttle-Service an, der die Seeleute kostenlos zum Club befördert. Das sind dann Augenblicke, in denen ich mit Seeleuten intensiv ins Gespräch komme und viel über deren private Angelegenheiten, Nöte und Sorgen erfahre.

An bestimmten Tagen feiere ich mit geschätzten Kollegen Gottesdienste an Bord oder in Seemannsclubs.

[P.S.: Dabei wird es an freudvollen Momenten und ausgelassener Unterhaltung nicht mangeln; mein Gesprächspartner ist ein ebenso guter Sänger wie begabter Gitarrenspieler. Kein Wunder: Viele seiner musikalisch begnadeten Landsleute spielen als geschätzte Musikbands auf internationalen Kreuzfahrtschiffen und in den Nobelhotels dieser Welt – RW]

Titelbild: Aerial_View/shutterstock.com


[«*] Die Iglesia Filipina Independiente (IFI) entstand unter der Führung des Priesters und Freiheitskämpfers Gregorio Aglipay als eine Art Nationalkirche der Philippinen. Sie propagierte die kulturelle Unabhängigkeit vom spanischen Kolonialjoch und kritisierte offen die Missstände der spanisch dominierten römisch-katholischen Amtskirche. Als Aglipay 1899 exkommuniziert wurde, konstituierte sich die IFI offiziell im Jahr 1902 und lehnte die Autorität des Papstes ebenso ab wie den Zölibat. Bis heute ist die IFI eine sozial engagierte Kirche, deren Bischöfe und Mitglieder mitunter harscher politischer Verfolgung und Repression ausgesetzt sind. – Siehe u.a.: nordkirche-weltbewegt.de/partnerorganisation-iglesia-filipina-independiente/ & Franz Segbers & Peter-Ben Smit (Hrsg.): Katholisch in Zeiten der Globalisierung. Erinnerung an den Märtyrerbischof Alberto Ramento, den Bischof der Arbeiter und Bauern. Luzern 2010: Edition Exodus sowie Rainer Werning: „Wir sind die Stimmen der Stummen“: Ein Gespräch mit Antonio N. Ablon. Über die Arbeit als Bischof in der Unabhängigen Philippinischen Kirche und die Repressionen von Staat und Militär, in: Wochenendbeilage von Junge Welt (Berlin) am 12. Oktober 2019, S. 1 & 2.

[«**] Die Deutsche Seemannsmission e.V. ist eine evangelische Seelsorge- und Sozialeinrichtung für Seeleute, die in über 30 Stationen im In- und Ausland tätig ist. Die Geschäftsstelle befindet sich in Hamburg und der Vereinssitz ist Bremen – seemannsmission.org

[«***] „Pinoy“ ist die ebenso gebräuchliche wie liebevolle Bezeichnung von Filipinos und Filipinas untereinander.