Ein europäischer Putsch? Die aktuelle Entwicklung der EU aus Sicht eines italienischen Linken

Ein europäischer Putsch? Die aktuelle Entwicklung der EU aus Sicht eines italienischen Linken

Ein europäischer Putsch? Die aktuelle Entwicklung der EU aus Sicht eines italienischen Linken

Maike Gosch
Ein Artikel von Maike Gosch

Der zweite Teil des Interviews mit dem italienischen Autor und Journalisten Thomas Fazi über die EU als demokratisches oder antidemokratisches Projekt und seine aktuelle Studie „Der stille Putsch – der Griff der Europäischen Kommission nach der Macht“. Das Interview hat Maike Gosch geführt und aus dem Englischen übersetzt.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Thomas Fazi ist ein vielfach ausgezeichneter italienischer Autor und Journalist, der sich selbst als Sozialist bezeichnet. Seine Artikel sind in zahlreichen Online- und Printpublikationen erschienen, u.a. ist er Kolumnist für das britische Magazin UnHerd und Redakteur des amerikanischen Magazins Compact. Kürzlich hat er eine europapolitische Studie mit dem Titel „The silent coup – The European Commission’s power grab“ („Der stille Putsch – der Griff der Europäischen Kommission nach der Macht“) veröffentlicht. Wir sprachen mit ihm im ersten Teil des Interviews über die Vorgeschichte dieser Entwicklung und darüber, inwieweit die EU demokratisch konstituiert und legitimiert ist oder es je war, was ihre „wahre Geschichte“ ist und wie sie sich aktuell entwickelt. In diesem zweiten Teil werden wir genauer auf Fazis aktuelle Studie eingehen.

Maike Gosch: Im ersten Teil des Interviews haben wir viel über den Hintergrund und die Geschichte der EU gesprochen und auch über die allmähliche Machtverschiebung von den Mitgliedsstaaten hin zur EU. Kommen wir nun zu den Krisen, die laut Ihrer Studie „Der stille Putsch: der Griff der Europäischen Kommission nach der Macht” dazu benutzt wurden, die Macht weiter auf die EU und insbesondere auf die Europäische Kommission zu übertragen.

Thomas Fazi: In dieser Untersuchung konzentriere ich mich auf drei historische Wendepunkte: Die Eurokrise, die Covid-19-Pandemie und die Ukraine-Krise, und wie all diese Krisen von der Kommission genutzt wurden, um ihre Befugnisse radikal auszuweiten – bis zu dem Punkt, dass die Europäische Kommission (und damit die EU als supranationale Einheit) heute mächtiger ist als je zuvor. Das interinstitutionelle Machtgleichgewicht hat sich massiv verschoben, weg vom Europäischen Rat, wo die Regierungen zusammenkommen, hin zur Kommission selbst. Und Ursula von der Leyen hat dies als Präsidentin der Kommission, die sie sowohl während der Covid-19-Krise als auch zu Beginn des Ukraine-Krieges geführt hat und die sie natürlich immer noch führt, ganz entscheidend gefördert. Ich denke, dass sich bei der Analyse der Krisen klare Muster herauskristallisieren, und zwar in Bezug darauf, wie die Kommission diese Krisen bewusst genutzt hat, um immer mehr Macht in ihren eigenen Händen zu konzentrieren. Das ist sehr besorgniserregend, denn jetzt haben wir eine undemokratische, nicht rechenschaftspflichtige, nicht gewählte Institution, die im Grunde genommen enorme Macht über so ziemlich jeden Bereich der Politik ausübt – von der öffentlichen Gesundheit über Wirtschafts-, Währungs- und Steuerangelegenheiten bis hin zur Außen-, Militär- und Sicherheitspolitik, für die die Kommission nach den Verträgen eigentlich überhaupt nicht zuständig ist.

Die Außenpolitik, insbesondere die Militär- und Sicherheitspolitik, war schon immer ein Bereich, in dem die Regierungen verständlicherweise nur ungern Macht an die Europäische Union abgaben. Tatsächlich hatte die Kommission in diesen Bereichen immer nur einen sehr begrenzten Einfluss. Aber jetzt, dank des Ukraine-Krieges und der Art und Weise, wie von der Leyen diese Krise geschickt ausgenutzt hat, um die Macht zu übernehmen und zu einer Art Oberbefehlshaberin der Europäischen Union zu werden, haben wir nun eine völlig undemokratische Institution, die in hohem Maße über die Außenpolitik und die Militär- und Sicherheitspolitik der gesamten Europäischen Union entscheidet, was wirklich ziemlich erschreckend ist, wenn man bedenkt, dass wir über das wichtigste Thema überhaupt sprechen: Krieg und Frieden und die potenzielle Bedrohung des Überlebens jedes einzelnen Menschen in Europa angesichts der zunehmenden Aussicht und Wahrscheinlichkeit einer direkten Konfrontation mit Russland.

Das ist der Prozess, den ich in meiner Studie beschreibe. Ich hielt es für wichtig, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, denn nicht genug Menschen sind sich darüber im Klaren, was in den letzten Jahren geschehen ist und wie gefährlich die Situation ist, die aus dieser zunehmenden „Supranationalisierung” der Politik entstanden ist. Die heutige Kommission ist nicht nur eine Bedrohung für die Demokratie, sondern auch für die Sicherheit und das Wohlergehen aller europäischen Bürger.

Lassen Sie uns über diese Krisen sprechen, die Ihrer Analyse zufolge ausgenutzt wurden und mit der Euro-Krise beginnen, und vielleicht besonders über Deutschland in diesem Zusammenhang.

Deutschlands Politik gegenüber der Europäischen Union entsprach lange Zeit der Beschreibung des Prozesses, den ich im ersten Teil des Interviews beschrieben habe, nämlich dass nationale Regierungen und nationale Eliten die Europäische Union zu ihrem eigenen Vorteil nutzten. Deutschland ist wahrscheinlich das klarste Beispiel dafür, dass ein Land die Europäische Union sowie das Narrativ der „Europäisierung Deutschlands” und der angeblichen Abkehr von Deutschlands hypernationalistischen Tendenzen der Vergangenheit nutzt, um in Wirklichkeit die nationalen Interessen Deutschlands, genauer gesagt die seiner kapitalistischen Eliten, zu fördern und etwas zu verfolgen, was man als eine Form von Wirtschaftsnationalismus bezeichnen könnte. Lange Zeit konnte man die Beziehung Deutschlands zur Europäischen Union als eine Art „Nationalismus durch Europäismus“ beschreiben. Ein Großteil der Erzählung über Deutschlands Beziehung zur Europäischen Union ist völlig falsch, selbst wenn man bis zum Beitritt Deutschlands zum Euro zurückgeht.

Offiziell heißt es, Deutschland habe dem Euro nicht beitreten wollen, aber dies sei der Preis gewesen, den das Land zahlen musste, damit andere Länder, allen voran Frankreich, die Wiedervereinigung akzeptierten. Aber das ist weitgehend ein Mythos. Wenn man sich die Geschichte dieser Zeit, der frühen 90er-Jahre, anschaut, stellt man fest, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland sehr wohl wussten, dass der Euro für Deutschland von wirtschaftlichem Vorteil war, oder besser gesagt: von Vorteil für seine Eliten.

Der erste wirkliche Coup der Kommission geschah während der Eurokrise, als die Kommission unter dem Deckmantel der Reaktion auf diese Krise beispiellose Befugnisse zur Überwachung und Einmischung in die Wirtschaftspolitik der Länder erhielt. Die Übertragung von mehr Befugnissen an die Europäische Union zur Einmischung in die eigene Wirtschaft war etwas, dem Deutschland immer sehr misstrauisch gegenüberstand, da es als Land immer sehr stolz auf seine wirtschaftliche Souveränität war, und das zu Recht. Aber Deutschland stimmte vielen dieser institutionellen Veränderungen zu, weil es erkannte, dass die Kommission sich nicht auf Deutschland konzentrieren würde, sondern auf die schwächeren Länder der Union, um sie zu zwingen, bestimmte Wirtschaftsreformen durchzuführen und sich an die von Deutschland gewünschte Wirtschaftsagenda zu halten. Dies sind eindeutige Beispiele dafür, wie Deutschland Europa „benutzt” hat, um seine wirtschaftliche und sogar politische Hegemonie über Europa zu behaupten und zu festigen.

Als die Eurokrise ausbrach, sagten die Europäische Kommission und die anderen supranationalen Institutionen wie die Europäische Zentralbank: Wir müssen eine viel größere Rolle bei der Verwaltung der finanziellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Länder spielen, um sie vor einem Zahlungsausfall zu bewahren. Tatsächlich war die Architektur des Euro der Hauptgrund dafür, dass mehrere Länder überhaupt erst in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Und dennoch wurde die Krise von der Europäischen Kommission genutzt, um vorübergehend die Kontrolle über die Finanzen dieser Länder zu übernehmen. Dies geschah zum Beispiel durch die „Troika”, die Ad-hoc-Institution, die sich aus der Kommission, der EZB und dem IWF zusammensetzt und während der Krise geschaffen wurde. Und was bei all diesen Krisen passiert, ist, dass bestimmte Maßnahmen als vorübergehend und „einmalig” dargestellt werden, dann aber zu einem dauerhaften institutionellen Wandel führen. So führte die Troika, die eine Ad-hoc-Institution war, welche angeblich nur geschaffen wurde, um die aktuelle Krise zu lösen, zu einer Reihe von neuen Regeln, Gesetzen, Verordnungen, Organisationen wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und sogar einem Vertrag, dem Fiskalpakt (Fiscal Compact), der die Sparpolitik und das System der fiskalischen Überwachung effektiv institutionalisierte, wobei die Kommission weitreichende Befugnisse erhielt, um die fiskalischen Haushalte der Mitgliedsstaaten zu überwachen. Dies führte zu einem massiven institutionellen Wandel und bedeutete eine enorme Machtverschiebung von der nationalen auf die supranationale Ebene.

Und dies war ein Muster, das sich in den folgenden Krisen wiederholte. Als die Covid-Krise im Jahr 2020 ausbrach, setzte sich Ursula von der Leyen sofort an die Spitze der Krise, sowohl an der wirtschaftlichen Front als auch an der Front der Impfstoffbeschaffung. Und das Argument war immer dasselbe: „Wir haben es mit einer massiven Krise zu tun, deshalb können wir die nationalen Regierungen nicht allein damit fertig werden lassen. Wir haben das Fachwissen und sind die einzigen, die Entscheidungen für alle treffen können.“ Und wenn man sich die wirtschaftlichen Maßnahmen ansieht, die während der Pandemie ergriffen wurden, wie z.B. die Einrichtung des Europäischen Aufbauplans (The Next Generation EU Fund), der als wirtschaftlicher Unterstützungsfonds vorgestellt wurde, um den Ländern bei der Bewältigung der Krise zu helfen, so führte dies in Wirklichkeit zu einer Änderung der faktischen wirtschaftlichen Verfassung der Europäischen Union. Denn zum ersten Mal sahen wir, wie die EU ein massives gemeinsames Kreditaufnahmeprogramm durchführte, was von bestimmten Ländern, insbesondere von Deutschland, und von bestimmten Wählergruppen immer abgelehnt wurde.

Und dieser Widerstand wurde nicht durch eine demokratische öffentliche Debatte oder eine Vertragsänderung überwunden, sondern einfach unter dem Vorwand, auf die Krise zu reagieren. Unter dem Vorwand, wirtschaftlich auf die Covid-Krise zu reagieren, sind wir nun in eine Situation geraten, in der die EU gemeinsame Schulden aufnimmt, was sie noch nie getan hat, jedenfalls nicht in diesem Umfang. Hinzu kommt, dass die Kommission für die Auszahlung dieser Gelder zuständig ist, was ihr natürlich einen enormen zusätzlichen Einfluss verschafft, nicht nur bei der Verwendung dieser Gelder – denn die Kommission entscheidet letztendlich, wohin diese Gelder fließen –, sondern sie kann diese Gelder auch dazu verwenden, Staaten zu erpressen, die sich nicht an die Brüsseler „Agenda“ halten, indem sie damit droht, diese Gelder zurückzuhalten, wie sie es zum Beispiel bereits mit Ungarn und Polen getan hat.

Und dann, in der zweiten Phase der Covid-Krise, leitete die Kommission, oder besser gesagt von der Leyen selbst, im Alleingang ein massives Impfstoff-Beschaffungsprogramm für die gesamte EU und unterzeichnete im Namen der Mitgliedstaaten Verträge im Wert von sage und schreibe 71 Milliarden Euro. Die meisten dieser Verträge wurden hinter verschlossenen Türen unterzeichnet. Ein einziger Vertrag im Wert von 35 Milliarden Euro wurde von von der Leyen selbst in einer Reihe von Textnachrichten und Anrufen mit dem CEO von Pfizer, Albert Bourla, ausgehandelt, die inzwischen verschwunden sind. Alle Bemühungen von Rechnungsprüfern, Transparenzbeauftragten, Europaabgeordneten, Journalisten und Bürgern, herauszufinden, was genau passiert ist, wurden abgewürgt, und „Pfizergate” ist zu einem der größten Skandale in der Geschichte der EU geworden. Und selbst das Argument der Kommission für dieses gemeinsame Beschaffungsprogramm, sie könne durch Verhandlungen im Namen aller Mitgliedstaaten niedrigere Preise erzielen, erwies sich als unbegründet.

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Anfang 2022 setzte sich Ursula von der Leyen wieder an die Spitze der Reaktion durch die EU und erreichte damit zwei Ziele, die sie seit ihrem Amtsantritt 2019 verfolgt hatte: die Ausweitung des Mandats der EU und der Kommission im Bereich Sicherheit und gleichzeitig die Unterordnung des Blocks unter die US-NATO-Strategie, wodurch die EU im Grunde zum politischen Arm der NATO wurde.

Sie begann mit der Verabschiedung eines beispiellosen Sanktionspakets, das buchstäblich am Tag nach der russischen Invasion verabschiedet wurde, also offensichtlich lange im Voraus vorbereitet worden war. Viele weitere folgten. Die Machtübernahme, um die es hier geht, besteht darin, dass traditionell der Rat für Sanktionsregelungen zuständig ist, während die Kommission nur die technischen Einzelheiten und die Umsetzung überwacht. Die Rollen wurden nun einfach vertauscht, und der gesamte Prozess wurde von von der Leyen entwickelt und vorangetrieben, zweifellos in enger Abstimmung mit Washington – bis zu dem Punkt, dass die USA zumindest zu Beginn mehr über die Arbeit an den Sanktionen wussten als die Mitgliedstaaten selbst. Und Ende 2022 beschloss der Rat, der Kommission die Befugnis zu übertragen, Sanktionen für die Verletzung von Sanktionen festzulegen und durchzusetzen, was bis dahin in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten gefallen war.

Ursula von der Leyen hat in allen öffentlichen Äußerungen und Reden einen zunehmend kriegerischen Ton zum Ukraine-Konflikt angeschlagen, immer mehr Sanktionspakete abgefeuert und dann maßgeblich dazu beigetragen, dass die Militärhilfe ausgerechnet mit 3,6 Milliarden Euro aus dem Finanzierungsmechanismus der Europäischen Friedensfazilität finanziert wurde. Mit dieser Strategie öffentlicher Erklärungen, die sich immer weiter verschärfen und immer radikaler werden, gelang es ihr, die EU-Strategie und die NATO-Strategie (die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind) allen überzustülpen, indem sie die Mitgliedstaaten durch Überrumpelung und einen gewissen Gruppendruck dazu brachte, ihrer Führung weitgehend zu folgen – wohlgemerkt in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, für die die EU, wie gesagt, gar keine formale Zuständigkeit hat.

In meinem Bericht gehe ich näher darauf ein und beschreibe auch die Art und Weise, wie die Kommission diese Krise genutzt hat, um ihre Bemühungen voranzutreiben, abweichende Meinungen und Desinformation (wie es jetzt heißt) in der EU durch eine neue Zensurregelung in Form des Gesetzes über digitale Dienste einzuschränken und zu verbieten.

Ihre Studie wurde von MCC Brüssel veröffentlicht. Können Sie uns ein wenig über diese Institution und Ihre Beziehung zu ihr erzählen?

MCC Brüssel ist eine ungarische Denkfabrik. Sie wird nicht direkt von der Regierung finanziert, ist also eine unabhängige Denkfabrik, aber wie alle Denkfabriken vertritt sie eine Ideologie. Und MCC Brüssel ist ziemlich eng mit den Ansichten von Victor Orbán verbunden. Ungarn ist heute eines der wenigen Länder, die meines Erachtens noch für die Grundprinzipien der Souveränität und der Demokratie eintreten und versuchen, sich gegen die zunehmende Einmischung der EU in die inneren Angelegenheiten der Nationalstaaten zu wehren. Und es ist auch praktisch das einzige Land, das sich gegen die EU-NATO-Strategie in der Ukraine wehrt.

Die Institution hat natürlich ihre eigenen Ansichten, die sich teilweise mit denen von Orbán decken. Ich stimme nicht in allen Fragen mit Orbán überein, aber ich stimme definitiv mit ihm überein, wenn es um seine Einstellung zur Europäischen Union und seine geopolitischen Ansichten geht, insbesondere gegenüber der Ukraine und der NATO. Allein die Tatsache, dass die Denkfabrik mit Orbán in Verbindung gebracht wird, wird sie in den Augen einiger in Misskredit bringen. Aber ich denke auch, dass diese Methode, jede kritische Meinung zu delegitimieren, indem man sie einfach als „rechtsextrem” oder „pro Putin“ oder was auch immer bezeichnet, nicht mehr so gut zu funktionieren scheint. Ich würde mir wünschen, dass mehr Menschen erkennen, dass dies nur ein Weg ist, sich einer Debatte zu verweigern.

Ich habe den Bericht kürzlich in Brüssel vorgestellt, und es kamen viele feindselige Journalisten zu der Präsentation. Ich glaube, sie kamen in der Hoffnung, ein paar gute Zitate zu bekommen, um einen Artikel gegen MCC zu schreiben, aber stattdessen haben sie festgestellt, dass das, was sie gehört haben, eine solide Analyse war, die nichts „Rechtsextremes” enthielt. Und tatsächlich haben die meisten von ihnen am Ende nicht darüber geschrieben – aus genau diesem Grund, denke ich, denn sie haben erkannt, dass sie die Zeitung oder die Veranstaltung nicht verunglimpfen können, und einer von ihnen hat das mir gegenüber sogar ausdrücklich zugegeben. Ich schreibe also gerne für jeden, der mich ohne Zensur oder Einmischung schreiben lässt. Das kann eine konservative Denkfabrik wie MCC sein, aber ich würde genauso gerne für eine linke Denkfabrik schreiben. Das Problem ist, dass sich die Linke, wie bereits erwähnt, so weit von ihren traditionellen Werten entfernt hat, dass sie einen Sozialisten der alten Schule wie mich für einen Rechten hält, wenn er über die Bedeutung der nationalen Souveränität oder andere derartige Themen spricht.

Es ist eines der Paradoxe des Zeitalters, in dem wir leben, dass ich als jemand, der von der Linken kommt, von der sozialistischen Linken, in einer Reihe von grundlegenden Fragen – wie nationale Souveränität, die Europäische Union, die NATO, der Krieg in der Ukraine – heute oft mehr mit Leuten übereinstimme, die von rechts kommen oder die aus ganz anderen politischen Traditionen kommen als ich, als mit denen auf der Linken. Aber wie gesagt, ich sehe das nicht so, dass ich nach rechts gerutscht bin. Ich sehe es so, dass die meisten Leute auf der Linken völlig verrückt geworden sind. Wie ich bereits gesagt habe, hat sich meine Position zu diesen Themen in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert, und sie stimmt sogar eng mit der Position überein, die die Linke in diesen Fragen bis vor ein paar Jahrzehnten vertrat.

Ich denke, unabhängig davon, ob man Ihrer Beschreibung der Entwicklungen als „Putsch” zustimmt oder nicht, können die meisten Menschen zustimmen, dass wir in den letzten Jahren einen Machtzuwachs der Kommission erlebt haben und dass sie Kompetenzen in Bereichen übernommen hat, die sie vorher nicht hatte. Ich frage mich, ob es gegen diese „Machtübernahme”, die Sie beschreiben, irgendeinen Widerstand gegeben hat, sei es vom Europäischen Parlament, von den nationalen Regierungen oder von irgendeiner anderen Stelle oder Person.

Was zunächst das Europäische Parlament (EP) betrifft, so wäre es naiv zu erwarten, dass ausgerechnet das EP sich dagegen wehrt, denn das EP hat sich schon immer für die Stärkung der Europäischen Union auf Kosten der nationalen Regierungen eingesetzt. So haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in der Vergangenheit stets die Übertragung von Souveränität von der nationalen auf die supranationale Ebene gefördert. Das Europäische Parlament hat sich in der Vergangenheit immer für die föderalistische Idee eingesetzt – die Vereinigten Staaten von Europa usw. – und hat sich daher in der Vergangenheit immer für die Übertragung von Befugnissen auf die Kommission und für eine Ausweitung der Befugnisse der Kommission auf Kosten der Nationalstaaten ausgesprochen, auch wenn sie von der Notwendigkeit einer „Demokratisierung der Kommission” usw. sprechen. Aber das ist nur eine Beschönigung dessen, was im Grunde die vollständige Unterstützung der Idee der Supranationalisierung selbst ist. Vielleicht wird das jetzige Parlament einen etwas anderen Ansatz verfolgen, aber historisch gesehen war das Parlament immer für die Übertragung von Befugnissen an die Kommission.

Also nein, es gab nicht viel Widerstand. Es gab auch sehr wenig Widerstand von Seiten der Bürger an der Basis, aber das liegt, glaube ich, daran, dass sich viele Menschen nicht wirklich bewusst sind, was passiert – außer auf einer Art instinktiven Ebene, dass sie das Gefühl haben, dass die Europäische Union zu mächtig ist, als sie es sein sollte. Aber es fehlt ihnen ein tieferer Einblick da hinein, was genau auf institutioneller Ebene passiert.

Es gab auch relativ wenig Widerstand von Seiten der Regierungen, aber ich denke, das könnte zum Teil damit zu tun haben, dass im Kalkül einiger Regierungen immer noch ein wenig von der vorhin erwähnten Schuldzuweisungslogik im Spiel ist. Wenn Sie zum Beispiel die Ukraine massiv unterstützen und einen Stellvertreterkrieg gegen Russland führen wollen, aber Ihre Bevölkerung diese Politik wahrscheinlich nicht unterstützt, dann kann es sinnvoll sein, die Kommission mit der Verfolgung dieser Politik zu betrauen, denn dann können Sie sagen: „Es ist die gesamte Europäische Union, die das tut. Es ist nicht das, was wir wollen, aber sehen Sie, es ist die Kommission, die die Führung in dieser Sache übernimmt. Es ist die Europäische Union, die auf diese Politik drängt, und alle anderen tun es auch. Also müssen wir uns dem anschließen.” Aber ich denke, es hat eher mit der Pfadabhängigkeit der Supranationalisierung zu tun. Wenn dieser Prozess einmal begonnen hat, ist es sehr schwer, ihn zu stoppen oder zu unterbrechen, geschweige denn umzukehren. Es entwickelt sich eine Art Eigenlogik.

Selbst eine kleine Übertragung von Souveränität auf die supranationale Ebene schafft die Voraussetzungen dafür, dass weitere Souveränitätsübertragungen unvermeidlich oder scheinbar unvermeidlich sind. Die Existenz einer supranationalen Institution und die Mitgliedschaft in dieser supranationalen Institution schafft einen sehr starken institutionellen, materiellen und ich würde sagen sogar psychologischen Druck auf die Regierungen, weitere Souveränitätsübertragungen zu akzeptieren. Besonders deutlich wird dies im wirtschaftlichen Bereich. Wenn man seine geldpolitische Souveränität aufgegeben hat, hat man auch einen großen Teil seiner wirtschaftlichen Souveränität aufgegeben. Wenn es dann zu einer Krise kommt, hat man natürlich keine andere Wahl, als weitere Kontrolle an die Institution abzutreten, die tatsächlich die eigene Wirtschaft kontrolliert, und das ist nun einmal die Europäische Union, wie wir während der Eurokrise gesehen haben. Aber allein die Zugehörigkeit zur Europäischen Union, zu dieser Art von multinationalem Club, erzeugt einen enormen Druck. Wann immer eine Krise von kontinentalem oder sogar globalem Ausmaß auftritt, übt dies einen enormen Druck auf die Regierungen aus, zu akzeptieren, dass die Kommission als einzige Institution, die in der Lage ist, schnell und auf europäischer Ebene zu handeln, die Führung übernehmen sollte.

Ich denke, der Aufstieg der sogenannten „populistischen” Parteien in ganz Europa ist eindeutig eine starke Ablehnung ihrer eigenen Regierungen und deren Politik. Aber es ist definitiv auch, indirekt, eine Ablehnung von politischen Entscheidungen auf EU-Ebene und der Entwicklungen dort, da die Regierungen oft nur die Umsetzer der Politik der Europäischen Union sind. Die Menschen haben also in gewisser Weise versucht, sich durch ihre Stimmabgabe zu wehren. Und natürlich sollten wir darauf hoffen, dass dies noch viel mehr geschieht.

Haben Sie darüber hinaus eine Idee oder einen Vorschlag, was die europäische Öffentlichkeit oder die deutsche Öffentlichkeit gegen diese Machtübernahme tun könnte, wenn sie mit Ihrer Analyse übereinstimmt?

Was wir meiner Meinung nach tun müssen, ist, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was passiert, und mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, was für ein Problem die Europäische Union wirklich ist und wie sehr sie eine Bedrohung darstellt. Ich denke, das ist das Beste und Wichtigste, was wir tun können. Wir müssen einfach das Bewusstsein dafür schärfen, wie wichtig es ist, diese Institution zurückzubauen. Es ist für die Menschen fast unmöglich geworden, sich ein Europa ohne die EU vorzustellen, aber ehrlich gesagt müssen wir feststellen, dass sich die inneren Widersprüche der Europäischen Union immer mehr verstärken. Und so ist es alles andere als klar, dass die EU die nächsten zehn oder zwanzig Jahre überleben kann. Die wirtschaftlichen Widersprüche, die sich aus ihr ergeben, werden immer größer und größer. Die Wirtschaftsleistung Europas ist im Grunde die schlechteste unter den Industrieländern, und dafür trägt die EU einen großen Teil der Verantwortung. Hinzu kommt der ständige Druck, den die EU auf den demokratischen Prozess ausübt. Wie lange kann das gut gehen? Wie lange kann man Parteien unterdrücken, die kritisch gegenüber der Europäischen Union sind? Und dann gibt es natürlich noch das geopolitische Element – die Art und Weise, wie die Europäische Union eine Schlüsselrolle dabei spielt, uns in einen potenziell katastrophalen Konflikt mit Russland zu ziehen. Die Europäische Union ist heute also ein völliger wirtschaftlicher, politischer und geopolitischer Misserfolg – vielleicht nicht aus der Sicht der Eliten, aber definitiv aus der Sicht der überwältigenden Mehrheit der Menschen. Sie hat uns alle auf so vielen Ebenen im Stich gelassen.

Ich würde mir wünschen, dass in ganz Europa eine starke Bewegung gegen die EU entsteht, denn ich denke, dass wir nur aus der Asche der Europäischen Union ein Europa wieder aufbauen können, das auf echter Zusammenarbeit zwischen den Staaten – echtem Internationalismus – basiert, was die Existenz souveräner Staaten voraussetzt. Das ist etwas ganz anderes als das, was wir jetzt haben, nämlich den Supranationalismus, der die Negation der Nationalstaaten und damit die Negation des Internationalismus ist. Hoffen wir also alle, dass sich eine Form des europaweiten Widerstands gegen diese höchst destruktive Institution herausbildet. Und das Beste, was wir tun können, ist, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was die EU wirklich ist, und hoffentlich eine Rolle bei der Entstehung dieser Bewegung zu spielen.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

Den ersten Teil des Interviews können Sie hier nachlesen.

Mehr von Thomas Fazi auf Substack und auf X.

Titelbild: Thomas Fazi