Der gestrige Tag war ein Paukenschlag für die Grünen. Und damit ist weniger der Rücktritt des Parteivorstands rund um Ricarda Lang und Omid Nouripour gemeint. Wie gestern Abend bekannt wurde, will offenbar auch der komplette Vorstand der Jugendorganisation Grüne Jugend nicht nur zurücktreten, sondern sogar geschlossen die Partei verlassen. Die Grünen verlieren die Jugend. Schon bei den Landtagswahlen in Brandenburg zeigte sich, dass die einstige Nummer Eins bei den Jungwählern bei der Jugend nicht mehr zieht. Doch die Probleme der Grünen sind grundlegender. Sie sind eine Zeitgeist-Partei, der der Zeitgeist abhandengekommen ist. Oder ist es zu früh für einen Abgesang? Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Jede Zeit hat ihre Themen. Die Bundestagswahl 2017 markierte wohl die erste Zäsur im deutschen Parteiensystem. Wir befanden uns in der späten Merkel-Ära, einmal mehr kam es trotz massiver Verluste der beiden Volksparteien zu einer Großen Koalition. Der große Gewinner der Wahl war die AfD, die mit einem sehr guten Ergebnis von 12,6 Prozent erstmals in den Bundestag einzog. Die Grünen lagen damals bei 8,9 Prozent – in einer Briefwahl konnte damals Cem Özdemir hauchdünn den Posten des männlichen Spitzenkandidaten vor Robert Habeck erkämpfen. Von einer grünen Volkspartei war damals noch nicht die Rede.
Dann kam das Jahr 2018, das Jahr des „Grünen-Hypes“. Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck übernahmen zwei damals noch unverbrauchte, moderne Grüne die Parteispitze und der Zeitgeist verlieh den Grünen Flügel. Zwei Themen bestimmten in diesem Jahr die Debatte: Die AfD und die Klimapolitik. In Berlin gingen 200.000 Menschen unter dem Motto #Unteilbar auf die Straße und demonstrierten gegen den Rechtsruck und für eine offene Gesellschaft. In jeder zweiten Talkshow ging es in diesem Jahr um die Erfolge der AfD und das AfD-Themenpotpourri „Islam, Migration, Asyl“. Wenn die Frage, wie man es mit der AfD hält, zur Gretchenfrage bei der Wahl wird, profitiert – neben der AfD selbst – freilich auch die Partei, die es schafft, sich in der Öffentlichkeit als Gegenspieler der AfD zu inszenieren. Und das waren damals die Grünen. Heute wählt man auch CDU oder SPD, um die AfD zu „verhindern“, damals war das noch anders.
2018 war auch das Jahr, in dem die Klimapolitik gerade bei Jungwählern zum bestimmenden Thema wurde. In Schweden demonstrierte die damals noch von den Medien bejubelte Aktivistin Greta Thunberg für eine klimafreundlichere Politik, in Deutschland gingen hunderttausende Kinder, Jugendliche und Sympathisanten unter dem Motto „Fridays for Future“ auf die Straße. Auch aus diesem Thema konnten vor allem zwei Parteien Kapital schlagen – die AfD, die den „Klimawahn“ pauschal ablehnt, und die Grünen, die sich zumindest damals noch als politischer Arm der Klimabewegung inszenieren konnten. Bei der Bayernwahl im Oktober 2018 waren dann auch die Grünen mit 17,5 Prozent neben der AfD die großen Gewinner, während auch hier die beiden Volksparteien die großen Verlierer waren.
2019 erreichte der grüne Hype dann seinen Höhepunkt, die Grünen konnten im Frühjahr bei den Europawahlen mit 20,5 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis erzielen und wurden hinter der CDU die zweitstärkste Kraft. Im Sommer und Herbst 2019 lagen die Grünen in Umfragen sogar zeitweise vor der CDU und waren die stärkste politische Kraft im Lande. Die Medien kürten sie zur neuen Volkspartei, es galt schon fast als ausgemacht, dass sie auch den nächsten Kanzler stellen würden. Der Zeitgeist war grün.
Rückblickend war 2019 wohl das letzte vergleichsweise sorgenfreie Jahr. Corona war noch fern, die Wirtschaft lief halbwegs rund, der Krieg in der Ukraine war ein regionaler innerstaatlicher Konflikt und die Gesellschaft hatte den Luxus, sich über „Wohlfühlthemen“ zu streiten. Neben einer offenen Migrationspolitik und Klimaschutz war dies vor allem die Identitätspolitik mit all ihren Schattierungen. Die Grünen lagen im Trend, sie waren die „Wohlfühlpartei“ schlechthin. Wer keine anderen Sorgen hatte, wählte grün und fühlte sich gut dabei. Those Were the Days my Friend, they thought they´ll never end … doch so langsam drehte sich der Wind und mit ihm der Zeitgeist.
Aus der Identitätspolitik wurde ein Kulturkampf. Die Corona-Maßnahmen spalteten das Land und schädigten die Wirtschaft. Der Krieg in der Ukraine und die mit ihm begründeten Sanktionen gegen Russland spalteten das Land noch tiefer und führten zu Preissteigerungen, die immer mehr Bürgern das „Wohlfühlen“ abgewöhnten. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Und da immer weniger Menschen sich den Luxus erlauben wollten, ihre Wahlentscheidung von „Wohlfühlthemen“ abhängig zu machen, nahm auch der Grünen-Hype ab. Bei der Bundestagswahl 2021 kamen die Grünen mit ihrer talent- und glücklosen Spitzenkandidatin Baerbock schon nur noch auf 14,7 Prozent – gegenüber 2017 zwar ein Gewinn, aber mehr als zehn Prozentpunkte weniger als in den Umfragen während des Höhepunkts des Grünen-Hypes. Schlimmer noch: Nun waren die Grünen als Teil der Ampel in der Regierungsverantwortung und wurden – nicht zu Unrecht – zum Symbol für die Spaltung und den Niedergang, die seit 2021 die gesellschaftliche Entwicklung kennzeichnen.
Von nun an ging’s bergab. Die Grünen sind nicht nur eine Partei, deren Wahlergebnisse vom Zeitgeist beflügelt wurden – der Zeitgeist und die Regierungsverantwortung haben auch dafür gesorgt, dass die Partei sich selbst von innen heraus umgekrempelt hat. Die Widersprüche wurden immer offensichtlicher. Von ihren friedenspolitischen Wurzeln hatten die Grünen sich schon lange vor ihrem Höhenflug verabschiedet. Nun kamen jedoch auch eine konsequente Abkehr von den Grundsätzen einer progressiven Sozialpolitik, einer konsequenten Klimapolitik und einer offenen Migrationspolitik hinzu. Viele Wähler, die diese Partei entweder aus Überzeugung oder einfach deshalb gewählt hatten, um sich wohlzufühlen und zu „den Guten“ zu gehören, rieben sich nun erstaunt die Augen. Eine grüne Ministerin beerdigte die Kindergrundsicherung, ein grüner Minister verbockte ein klimapolitisches Projekt nach dem nächsten und am Ende exekutierten die Grünen gar eine – zumindest rhetorisch – migrationspolitische Wende, die auch von der AfD stammen könnte. Für was haben diese Menschen die Grünen gewählt?
Der Niedergang der Grünen ist jedoch nicht nur eine Folge der immer offeneren Widersprüche zwischen Anspruch und Realität, Image und Wirklichkeit. Der Zeitgeist, der die Grünen einst zur Hype-Partei gemacht hatte, hat sich ganz offensichtlich gedreht. Wärmepumpen und E-Autos finden keine Käufer, aus den Klimaschutz-Kindern wurden verwirrte Aktivisten der letzten Generation, die in der Gesellschaft keinen Rückhalt haben. Eine offene Migrationspolitik gilt heute angesichts der Überlastung der Systeme als naiver Wunschgedanke, Kritik an der Migrationspolitik kommt nicht mehr nur von rechts, sondern ist selbst in den sonst so politisch korrekten Talkshows gang und gäbe. Und selbst beim Kulturkampf, der immer noch tobt, scheinen die Grünen Land verloren zu haben. Die Wirtschaft schwächelt, die Menschen ächzen unter Reallohnverlusten. Derweil wirkt die „wertegeleitete“ Außenministerin nur noch als schlechte Parodie ihrer selbst. Nicht Russland, sondern sie selbst und ihre Partei sind ruiniert.
Es ist nicht mehr hip, die Grünen zu wählen, und die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen zeigen das. Nur in Sachsen konnten die Grünen mit Müh’ und Not überhaupt noch in den Landtag einziehen. Für die Grünen dürfte jedoch problematischer sein, dass sie vor allem die jungen Wähler verloren haben. In Sachsen kamen die Grünen bei den Erstwählern auf 8 Prozent, in Thüringen auf 5 Prozent und in Brandenburg auf 6 Prozent – hier waren es bei der letzten Wahl noch 27 Prozent. Die Zeiten, in denen die Grünen die Partei der Jungwähler waren, sind vorbei – wahrscheinlich für eine sehr lange Zeit, vielleicht sogar für immer.
Der kollektive Austritt des Vorstands der Grünen Jugend zementiert diese Entwicklung. Eine Jugendorganisation, die politisch klar links positioniert ist und neben sozialpolitischen Themen vor allem den Klimaschutz und eine offene Migrationspolitik zu ihren Kernthemen zählt, ist mit einer Partei, die sich nun im kommenden Wahlkampf als „Habeck-Partei“ inszenieren und vor allem „enttäuschten CDU-Wählern“ als eine Art Merkel-Partei 2.0 ein Angebot machen will, vollkommen inkompatibel. Stellt sich die Frage, mit wem die modernen Grünen überhaupt kompatibel sind.
So richtig wohlfühlen können sich heute noch nicht einmal die Hardcore-Wähler aus Freiburg und den Berliner Innenstadt-Bezirken mit dieser Partei. Die Ex-Grüne Jutta Ditfurth sagte einst: „Alle Parteien machen ihren Wählern was vor, aber es gibt keine Partei, die eine so grandiose Differenz zwischen ihrem Image und ihrer Realität hat wie die Grünen“. Das ist zweifelsohne richtig, aber die Zahl derer, deren kognitive Dissonanzen derart hartnäckig sind, dürfte sich künftig auf eine Kernwählerschaft beschränken. Die Grünen werden natürlich nicht verschwinden. Aber ohne den passenden Zeitgeist sind die Grünen eben nur das – eine Klientelpartei für das progressiv-liberale bürgerliche Milieu, das sich vor allem in den Großstädten im akademischen Umfeld gebildet hat; eine Partei, für die mittel- bis langfristig die Fünf-Prozent-Hürde eine größere Bedeutung als die Frage eines „Kanzlerkandidaten“ haben wird.
Und das ist gut so. Vermissen wird die Grünen niemand. Schon die unerträglich triefende Pathetik, die Selbsterhöhung und das messianische Sendungsbewusstsein, das gestern vor allem in der Rücktrittserklärung von Omid Nouripour aus dem Mikrofon quoll, zeigt, wie überflüssig diese Partei ist. Da haben nur noch die Geigen gefehlt. Wer braucht die modernen Grünen? Kriegsgeil ist die CDU auch. Wirtschaftsliberal ist auch die FDP und für das von den Grünen aufgegebene Themenpotpourri „Klima, offene Grenzen und Identitätspolitik“ bietet sich die siechende Linkspartei förmlich an. Der Zeitgeist hat sich gedreht und die Zeitgeistpartei steht nun nackt da. Aber wer weiß. Sollte das Land wider Erwarten die heutigen Krisen meistern und in eine neue Zeit voranschreiten, in der sich der Zeitgeist wieder ändert, könnte eine neue grüne Ära kommen. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Good bye, Grüne!
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: Wirestock Collection/shutterstock.com