Die diesjährige UN-Generalversammlung in New York ist seit Sonntag Bühne für Staatschefs aus aller Welt. Auf einem „Zukunftsgipfel“ werden Sonntagsreden darüber gehalten, was die Vereinten Nationen tun müssen, um die Verpflichtungen einzuhalten, die sie im Hinblick auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und die Charta der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2030 eingegangen sind. Von Karin Leukefeld.
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Deutschland und Namibia haben einen Pakt für die Zukunft entwickelt, der vom Plenum bereits am Sonntag angenommen wurde. UN-Generalsekretär António Guterres rief dazu auf, eine „Zukunft für unsere Enkelkinder zu schaffen“.
Tatsächlich ist die „Weltgemeinschaft“ weit davon entfernt, die 17 Nachhaltigkeitsziele auch nur annähernd realisieren zu können.
„Keine Armut, kein Hunger, Gesundheit und Wohlergehen und hochwertige Bildung“ lauten die Ziele, die ganz am Anfang der Wunschliste stehen. Für Kriegs- und Krisengebiete auf der Welt ist das Gegenteil der Fall. Das gilt für die Bewohner des Gazastreifens und im von Israel besetzten Westjordanland. Das gilt für die Bevölkerung im Libanon und für Millionen von Flüchtlingen in Lagern. Das gilt für die Menschen, die seit mehr als 20 Jahren versuchen, den endlosen, US-geführten „Kriegen gegen den Terror“ und den „vielen Arten von Krieg Israels“ im Nahen und Mittleren Osten zu widerstehen.
Am vergangenen Sonntag, dem 22. September 2024, lag die Zahl der getöteten Palästinenser im Gazastreifen bei mehr als 41.421, teilte die palästinensische Gesundheitsbehörde (Gaza) mit. Mehr als 16.000 der Toten sind demnach Kinder. Mindestens 10.000 Menschen gelten als vermisst unter Trümmern. Die meisten der Toten seien Frauen und Kinder, sagte der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk im August. Seitdem ist die Zahl der Toten täglich gestiegen.
Am 10. Juni 2024 hatte der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2735 verabschiedet, die einen Waffenstillstand in Gaza anordnete.
Der Resolutionstext basierte auf einem von den USA eingereichten Textvorschlag, weswegen die USA zustimmte. Bis dahin hatten die USA jede Resolution für einen Waffenstillstand mit ihrem Veto verhindert. Vorgesehen war ein Drei-Phasen-Plan, wie die Hamas ihn über Vermittler bereits Anfang des Jahres vorgelegt hatte. Die Hamas stimmte also zu, doch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gab den israelischen Unterhändlern immer neue Vorbedingungen mit. Schließlich wurde auch dem Letzten klar, dass er an einem Waffenstillstand und an dem Abzug der israelischen Armee aus dem palästinensischen Gazastreifen nicht interessiert war. Gegenüber den Angehörigen der Geiseln ließ er erklären, dass er den Krieg gegen Gaza nicht beenden werde, um die Geiseln zu befreien.
Am 18. Juli verabschiedete das israelische Parlament (Knesset) eine Resolution, mit der die Zweistaatenlösung abgelehnt wurde.
Am 19. Juli gab der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Ergebnis seiner jahrelangen Begutachtung bekannt, wonach die Besatzung palästinensischer Gebiete unrechtmäßig sei und gegen internationales Recht verstoße. Israel müsse die Besatzung „so schnell wie möglich beenden”.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte daraufhin, die „israelischen Siedlungen in allen Gebieten unseres Heimatlandes … sind rechtmäßig. Das jüdische Volk ist kein Eroberer in seinem eigenen Land.“
Am 18. September 2024 befasste sich die UN-Vollversammlung mit einer Resolution, die den Gutachterspruch des Internationalen Gerichtshofes vom 19. Juli 2024 stärken sollte. Gefordert wurde, dass Israel innerhalb von zwölf Monaten und ohne Verzögerungen „seine unrechtmäßige Anwesenheit in den besetzten palästinensischen Gebieten beenden“ müsse. Israel müsse seine Armee zurückziehen, alle neuen Siedlungsaktivitäten einstellen, alle Siedler aus dem besetzten Land abtransportieren und Teile der Mauer, die innerhalb des Westjordanlandes errichtet worden war, abbauen. Land und anderes nicht bewegliches Eigentum müsse (an die Palästinenser) zurückgegeben werden, das Gleiche gelte für Kulturgut. Die vertriebenen Palästinenser müssten zurückkehren können oder entschädigt werden. Ausdrücklich bezog sich die Erklärung auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes. Die Generalversammlung nahm die Resolution mit 124 Stimmen an. 14 Staaten votierten dagegen und 43 Staaten enthielten sich, darunter Deutschland.
Niemand ist mehr sicher
Fast zeitgleich explodierten im Libanon und in Syrien Tausende Personenrufgeräte, sogenannte „Pager“, in den Händen oder Taschen ihrer Benutzer. In Syrien war die Zahl der Verletzten gering, doch im Libanon wurden zwölf Personen getötet und 2.800 Menschen teilweise lebensgefährlich verletzt.
Bei einer zweiten Explosionswelle am folgenden Tag explodierten zeitgleich Hunderte Walkie-Talkies und Funkgeräte. 20 Personen wurden getötet, mehr als 600 Menschen wurden teilweise lebensgefährlich verletzt. Die Geräte explodierten auf Balkonen, Küchentischen und in Autos und lösten Brände aus. Die Zahl der Toten beider Angriffe stieg auf 39, mehr als 3.000 Menschen wurden teilweise lebensgefährlich verletzt.
Da es sich um Gegenstände handelt, die im Alltag von Rettungsdiensten, in Hotels, an Flughäfen und in großen Unternehmen, aber auch von der libanesischen Hisbollah genutzt werden, um das Abhören und Überwachen von Mobiltelefonen durch Israel zu vermeiden, hielten die Benutzer die Geräte in den Händen oder transportierten sie in Taschen. Verletzungen gab es im Gesicht, an den Augen, den Händen, Fingern und am Bauch. Ärzte berichteten, sie hätten noch nie so grauenhafte Verletzungen gesehen.
Im Libanon machte man den israelischen Geheimdienst Mossad verantwortlich. Die US-Administration erklärte, nichts gewusst zu haben. Die New York Times lieferte – hinter einer Bezahlwand – eine Geschichte, die um die Welt ging.
Danach soll der Mossad eine komplette Produktionskette aufgebaut haben. Mit eigener Firma als Subunternehmen der taiwanesischen Firma Gold Apollo habe der Mossad den kompletten Auftrag abgewickelt. Bei Gold Apollo in Taiwan hatte die Hisbollah 5.000 Personenrufgeräte (Pager) bestellt, daher ist naheliegend, dass der Mossad den Angriff geplant, vorbereitet und durchgeführt hat. Die NYT-Geschichte kursiert inzwischen international und auch in deutschen Medien mit Varianten.
Libanon forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates, die auf Antrag Algeriens, einem nicht-ständigen Mitglied im UNSR, für Freitag, den 20. September (New York, Ortszeit) einberufen wurde.
Der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk nannte die Angriffe eine „neue Entwicklung der Kriegsführung. Kommunikationsgeräte werden Waffen.“ Zeitgleich Tausende von Menschen durch die manipulierten Geräte anzugreifen, ohne zu wissen, wer das jeweilige Gerät benutze, sei ein Verstoß gegen das internationale humanitäre Recht. Die „tragische Situation“ dürfe nicht isoliert gesehen werden, denn sie hänge direkt mit dem Krieg in Gaza und der anhaltenden israelischen Besatzung von palästinensischem Territorium zusammen.
Der libanesische Außenminister Abdallah Bou Habib sagte, nach „diesen abgründigen“ elektronischen Angriffen sei „niemand mehr sicher in dieser Welt“. Sollte der Sicherheitsrat diesen „Terrorangriff“ nicht als solchen benennen und den Verursacher verurteilen, stehe die Glaubwürdigkeit des Gremiums auf dem Spiel. „Wenn man so ein Vorgehen akzeptiert, öffnet man die Büchse der Pandora“, sagte Bou Habib. Staaten und extremistische Gruppen werden dem Beispiel folgen und Zivilisten in aller Welt mit tödlicher Technologie angreifen. Seit 1948 habe Israel keine UN-Sicherheitsratsresolution eingehalten, so sei aus dem Land ein „Schurkenstaat“ geworden, der den ganzen Mittleren Osten mit Krieg überziehen werde. Er forderte den Sicherheitsrat auf, Israel zu verurteilen, das die Souveränität des Libanon verletzt habe. Der syrische Botschafter bei den Vereinten Nationen betonte, dass die Staaten, die Israel unterstützten, volle Verantwortung für dessen Aggression trügen. Die brutalen israelischen Angriffe seien für die arabischen Länder nicht neu. Neu sei allerdings die Manipulation von modernen technischen Geräten, die den Menschen nutzen sollten, in tickende Zeitbomben.
Der israelische UN-Botschafter forderte den UN-Sicherheitsrat auf, Hisbollah und die iranischen Revolutionsgarden zu „Terrororganisationen“ zu erklären. Dem libanesischen Außenminister warf er vor, einer „Terrororganisation erlaubt zu haben, einen Staat innerhalb des Libanon“ gegründet zu haben. Israel werde sich verteidigen und nicht zulassen, dass „die Hisbollah libanesisches Territorium als Abschussrampe für Gewalt“ benutzt. Die US-Vertretung stellte sich hinter Israel, das sich gegen die täglichen Angriffe verteidigen müsse. Malta forderte eine Untersuchung. Die Schweiz erinnerte an Verhandlungen. Russland regte ein internationales Gesetz gegen die Nutzung von Alltagsgegenständen als Waffen an. China forderte wie auch der Iran eine Verurteilung Israels. (Quelle: press.un.org)
Eine Entscheidung gab es nicht. Am Abend des gleichen Tages (20. September 2024, Beirut Ortszeit) bombardierte die israelische Luftwaffe ein Wohnhaus im dicht bewohnten Süden von Beirut mit vier Raketen und brachte das Haus zum Einsturz. Dutzende Menschen wurden verschüttet. 15 Angehörige der Hisbollah wurden tot geborgen, darunter zwei hochrangige Kommandeure. Die Zahl der Toten stieg im Laufe der Bergungsarbeiten auf 51, darunter waren Frauen und Kinder. Zehn Personen werden noch vermisst. Am Wochenende flogen israelische Kampfjets teilweise im Minutentakt Angriffe auf den Süden des Libanon und feuerten nach eigenen Angaben auf Hunderte angebliche Raketenabschussrampen der Hisbollah.
Die Hisbollah reagierte am Samstag mit elf Angriffen, bei denen militärische Stellungen im Norden Israels und auf den besetzten und annektierten Golanhöhen getroffen wurden. Am frühen Sonntagmorgen wurden erstmals schwere Raketen von der Hisbollah eingesetzt. Deren Ziel war bei zwei Angriffen die israelische Luftwaffenbasis Ramat David bei Haifa. Ein dritter Angriff galt dem militärischen Rüstungskomplex der Firma Rafael, die auf die Produktion elektronischer Geräte und Ausrüstung spezialisiert ist. Die Firma liegt im Norden von Haifa (Zevulun) und sei mit Dutzenden Fadi 1, Fadi 2 und Katjusha-Raketen getroffen worden, hieß es in der dazugehörigen Hisbollah-Erklärung. Es handele sich um eine „vorläufige Antwort auf das brutale Massaker, das der Feind Israel in verschiedenen Gebieten des Libanon am Dienstag und Mittwoch (Massaker mit Pager und Funkgeräten) verübt“ habe.
Warnungen und Drohungen
Mitte der Woche hatte Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, nach den israelischen Massenangriffen auf Libanesen über manipulierte Kommunikationsgeräte Israel mit Vergeltung gedroht. Die feigen Angriffe hätten die Hisbollah und Unterstützer in ihrem Alltag getroffen, nicht mit der Waffe in der Hand an der Front. Die Hisbollah sei geschwächt, werde aber gestärkt aus dem Angriff hervorgehen. Israel werde mit schärferen Reaktionen rechnen müssen. Nasrallah wandte sich direkt an Benjamin Netanjahu und an Yoav Gallant, den israelischen Verteidigungsminister, und sagte: „Die Front im Libanon wird nicht ruhig werden, bis die Aggression gegen Gaza stoppt.“
Israels Militärsprecher Daniel Hagari erklärte nun vor Journalisten, dass neben den massiven Luftangriffen auf den Südlibanon auch ein Truppeneinmarsch nicht ausgeschlossen sei. Die israelische Armee kündigte Luftangriffe auf Gebäude an, in denen die Hisbollah angeblich Waffen versteckt haben soll. Die libanesische Zivilbevölkerung wurde aufgerufen, die Gebiete umgehend zu verlassen. Beobachter bewerteten die Aussagen Hagaris als „klassisches Beispiel für psychologische Kriegsführung“. Israel wende das gleiche Vorgehen im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland an, schrieb der Journalist Zein Basravi (Amman). Die Bevölkerung solle verunsichert und das Ausland darauf hingewiesen werden, dass die politischen und militärischen Führer (Hisbollah) die Bevölkerung als „menschliche Schutzschilde“ benutzten. Damit „verschleiere die israelische Armee ihre eigene Aggression“ gegenüber der Bevölkerung, so Basravi.
Zu Beginn des offiziellen UN-Gipfels am Montag (23. September 2024) warnten zahlreiche Politiker erneut vor einem regionalen Krieg, der durch einen israelischen Krieg gegen den Libanon ausgelöst werden könne. Der ägyptische Außenminister Badr Abdelatty forderte einen Waffenstillstand in Gaza, der alle Fronten beruhigen werde.
Der libanesische amtierende Ministerpräsident Najib Mikati sagte seine Reise zum UN-Gipfel in New York ab und erklärte bei einer Dringlichkeitssitzung der Regierung in Beirut, die internationale Gemeinschaft und das menschliche Gewissen müssten „eine klare Position zu den grauenhaften Massakern einnehmen“, die im Libanon verübt worden seien. Internationales Recht müsse aktiviert werden, um zivile Technologie davor zu schützen, dass sie als Waffe genutzt werden könne. Alles müsse getan werden, „um die vielen Arten von Kriegen, die der Feind Israel verübe, zu stoppen“, so Mikati.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat derweil seine Reise zum UN-Gipfel verschoben. Aktuell soll er statt Dienstag nun am Mittwoch nach New York reisen. Medien berichten allerdings unter Berufung auf seine Mitarbeiter, dass er vermutlich erst am Freitag in New York vor der UN-Versammlung sprechen wird. Beobachter erwarten, dass viele Staatenvertreter den Plenarsaal dann aus Protest gegen Israels Kriege verlassen werden.
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