Die palästinensische Journalistin Ashira Darwish, die bereits mehrmals wegen ihrer Arbeit inhaftiert wurde, lebt nun aus Gründen der eigenen Sicherheit in den USA. Ashira Darwish hat 15 Jahre als Radio- und Fernsehjournalistin sowie investigativ in Palästina gearbeitet, u.a. für die BBC, Amnesty International und Human Rights Watch. Sie ist Gründerin eines Therapieprojekts für Traumatisierte namens Catharsis Holistic Healing und Hauptfigur im Dokumentarfilm „Where Olive Trees Weep“ (2024), der vom Kampf und der Widerstandskraft der Palästinenser unter israelischer Besatzung erzählt. Rolf-Henning Hintze hat Ashira Darwish für die NachDenkSeiten interviewt.
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Rolf-Henning Hintze: Das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehprogramm ARD ließ kürzlich erstmals einen palästinensischen Familienvater, den israelische Soldaten in Gaza als menschlichen Schutzschild eingesetzt hatten, über seine Erfahrungen sprechen. Ist diese militärische Praxis, obwohl sie eine schwere Verletzung des Völkerrechts ist, bei der israelischen Armee an der Tagesordnung?
Ashira Darwish: Menschliche Schutzschilde werden von israelischen Soldaten systematisch eingesetzt, das wird in der Armee nicht bestraft. Seit Langem haben wir gesehen, dass Soldaten Männer, Frauen und manchmal sogar Kinder als Schutzschilde einsetzen. In Gaza ist das eine normale Praxis und wird auch im Westjordanland angewendet. In vielen Fällen setzen sie Gefangene in Handschellen und mit verbundenen Augen ein. Die traurige Realität ist, dass dies noch nicht einmal die schlimmsten Verletzungen des Völkerrechts sind im Vergleich zu den Folterkellern, die Israel betreibt.
Einige deutsche Gruppen, die Palästina unterstützen, zeigen in Veranstaltungen den Dokumentarfilm „Wo die Olivenbäume weinen“. Dieser Film wird im deutschen Fernsehen wohl kaum gezeigt werden, denn er enthält Einzelheiten über Folter, die auch Sie selbst in der Haft erlitten haben. Könnten Sie kurz etwas über Ihre Erfahrungen in der Haft sagen?
Ich würde empfehlen, sich den Film anzusehen, dann erfährt man, was die Palästinenser täglich auszuhalten haben. Der Film kann gegen eine Spende oder kostenfrei heruntergeladen werden (es existieren bereits Fassungen mit Untertiteln u.a. in Arabisch, Hebräisch, Chinesisch, Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch, Russisch, Indonesisch und Portugiesisch; Anm. d. Red.). Die Folter, die ich zu erleiden hatte, ist nichts im Vergleich zu dem, was Israel jetzt und schon sehr lange macht. Systematische Folter von Gefangenen wird nicht nur akzeptiert, sondern von der israelischen Gesellschaft sogar gutgeheißen. Unlängst gab es nach dem Tod durch Missbrauch von Palästinensern, die ohne Anklage inhaftiert waren, Forderungen, den Missbrauch von Palästinensern zu legalisieren.
Weshalb sind Sie verhaftet worden?
Wegen meiner journalistischen Arbeit. Ich war Reporterin eines Radiosenders, wegen meiner Berichte wurde ich festgenommen. Zum ersten Mal wurde ich mit 16 Jahren festgenommen, als wir auf einer Demonstration Protestlieder sangen.
Sie haben als Journalistin für die BBC und andere Medien aus Palästina und Israel berichtet. Welche zwei oder drei Vorfälle sind Ihnen besonders in Erinnerung?
Während meiner journalistischen Arbeit habe ich vor allem über Korruption in der Palästinensischen Autonomiebehörde berichtet. Als ich später für eine Menschenrechtsorganisation recherchierte, gingen mir die Augen über die Brutalität und Folter der palästinensischen Behörde auf. Es gab auch außergerichtliche Tötungen palästinensischer Widerstandskämpfer. Es wurde mir klar, dass die Behörde die fortgesetzte Besatzung wegen finanzieller Vorteile unterstützte und, um ihre Macht im Westjordanland zu sichern. Als ich über israelische Brutalität arbeitete, waren das Töten und die Folter palästinensischer Kinder das Schockierendste für mich.
Aus welchen Gründen haben Sie Ihr Land verlassen, um in die USA zu gehen und dort eine andere Arbeit zu übernehmen?
Aus Gründen der Vorsicht. Ich wollte verhindern, dass die israelische Armee hinter mir und meiner Familie her ist – als Strafe für meine Beteiligung an dem Film. Menschen werden ja bereits für Meinungsäußerungen auf Facebook festgenommen, also wollte ich sicher sein.
Die Mehrheit der Menschen in Gaza ist zweifellos schwer traumatisiert. Meinen Sie, dass israelische Soldaten aufgrund der Handlungen, die sie getan haben oder begehen, ebenfalls traumatisiert werden?
Ich bin sicher, dass israelische Soldaten extrem traumatisiert sind, und wir werden die Effekte dessen, was sie getan haben, sehen. Diejenigen, die gezwungen wurden, Kinder zu töten und Gefangene zu vergewaltigen, werden jeden Tag damit zu tun haben. Für sie ist Brutalität etwas Normales geworden, sie werden auch in ihrer Umgebung und in ihren Häusern so handeln.
Die große Mehrheit der Länder des globalen Südens unterstützt Palästinas Recht auf einen unabhängigen Staat und kritisiert Israels Politik der illegalen Siedlungen und Unterdrückung. So lange aber die starke Unterstützung der USA für Israel anhält, wird Netanjahu seine Politik wahrscheinlich kaum ändern. In Europa herrscht die Meinung vor, die EU könne wenig tun, um Änderungen in Israel zu bewirken. Es gibt aber auch Stimmen, die sich für starken wirtschaftlichen Druck auf Israel, z.B. durch das Aussetzen des EU-Assoziierungsabkommens, einsetzen. Wie sehen Sie das?
Mit ihrem Schweigen ist die EU ein Komplize beim Zulassen von Völkermord, und Deutschland unterstützt den Völkermord finanziell und durch große Munitionslieferungen. Dies verstößt nicht gegen das Völkerrecht, das die EU respektiert, wenn es ihr nützt. Respekt für das Völkerrecht gibt es nur, wenn die Betroffenen Weiße sind. Es kann aber eine Menge getan werden, um die EU für ihr Schweigen verantwortlich zu machen. Nötig wären eine Verstärkung des Boykotts und auch juristische Klagen gegen Staaten, die Israel unterstützen. Je mehr Aktionen und Druck auf die EU ausgeübt werden, um den Völkermord zu beenden, desto mehr Hoffnung haben wir.
Der jüdische Autor Nathan Thrall hat für sein jüngstes Buch den Pulitzerpreis erhalten. In einem Interview der Frankfurter Rundschau sagte er, eine Lösung für Palästina sehe er erst in Jahrzehnten. Sehen Sie das anders?
Ich habe mit Nathan zusammen an seinem Buch gearbeitet und ich schätze ihn außerordentlich, aber ich habe das Gefühl, dass Palästina der Befreiung nahe ist. Ich denke, dass Israels Völkermord selbstmörderisch ist – damit werden alle Brücken der Koexistenz mit den Palästinensern zerstört. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das zu Bruch geht.
In sehr ungewöhnlicher Weise hat der jordanische Außenminister Aiman al-Safadi kürzlich die starke deutsche Unterstützung für Israel kritisiert. In einer Pressekonferenz fragte er in Anwesenheit von Außenministerin Annalena Baerbock in Amman, wann Deutschland Sanktionen gegen jene verhängen werde, die das Völkerrecht und das humanitäre Völkerrecht verletzen. Ist diese Haltung in arabischen Ländern verbreitet und würde das Deutschlands Ansehen in der Region beschädigen?
Deutschlands Ansehen hat in der arabischen Welt bereits gelitten, und auch in Europa. Die Unterstützung für den Völkermord ist offenkundig, und Deutschland, das einen Völkermord an Juden und anderen Minderheiten beging, trägt jetzt wieder zu einer ethnischen Säuberung von Palästinensern bei, anstatt eine klare Haltung gegen Völkermord einzunehmen.
Titelbild: Pressefoto von „Where Olive Trees Wheep”