Der Eurasienkomplex: Warum und wie dem Westen die Zukunft entgleitet

Der Eurasienkomplex: Warum und wie dem Westen die Zukunft entgleitet

Der Eurasienkomplex: Warum und wie dem Westen die Zukunft entgleitet

Ein Artikel von Bettina Schmidt

Es ist das große Verdienst von Jürgen Kuczynski (Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, gest. 1997), ausführlich über die Geschichte des Alltags des deutschen Volkes gearbeitet zu haben. An diese fünfbändige Studie fühlte ich mich bei dem gerade erschienenen Buch „Der Eurasienkomplex“ erinnert. Hier fassen zwei „alte Eurasien-Hasen“ ihre Erfahrungen, Erlebnisse und ihre Erkenntnisse zusammen. Thomas Fasbender hat von 1992 bis 2015 in Moskau gelebt und u.a. eine Biografie über Putin geschrieben. Uwe Leuschner ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert geschäftlich in diesem geopolitischen Raum engagiert, vorrangig im Logistik-Sektor. Eine Buchrezension von Bettina Schmidt.

„Wir beschreiben unsere Sicht auf Veränderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der weiteren Entwicklung in ganz Eurasien, von Deutschland bis nach Fernost.“

Ausgangspunkt der Betrachtungen ist die jeweilige Situation in Ost- und Westdeutschland mit der Sentenz, dass durch die Wiedervereinigung strukturell die „neue BRD die alte BRD sei, nur flächenmäßig erweitert“. Der Terminus ‚Eurasienkomplex‘ wird von den Autoren durchaus im psychologischen Sinn verstanden, nämlich als „Angst vor der Infragestellung des eurozentristischen Weltbildes“. Wurden Anfang der 90er-Jahre durch Digitalisierung und Globalisierung die Märkte in Russland, China und anderswo in Asien noch als Wachstumsschub für westeuropäische Unternehmen angesehen (günstige Rohstoffe, niedrige Lohnkosten etc.), so mutierten sie im 21. Jahrhundert zu einem Bedrohungsszenarium. Den Grund für diese diametral entgegengesetzte Wahrnehmung sehen die Autoren in Versäumnissen: „Hätte sich Deutschland nach 1990 als mitteleuropäische Brücke zum sich neu aufstellenden Osten verstanden (und nicht als Werkzeug westlicher Geostrategie), wären die genannten (ostdeutschen / B.S.) Kompetenzen, Netzwerke und Kontakte von unschätzbarem Wert gewesen.“ Gemeint ist hier die während der Wiedervereinigung vorhandene große Wirkmacht ostdeutscher Sozialisation. Geschildert werden dann die Konsequenzen der von der westdeutschen Übernahme für wertlos erklärten „interkulturellen Kompetenz der ostdeutschen Eliten“.

Auch die durch die Politik der DDR funktionierende Brücke zum globalen Süden (ausländische Studenten und Arbeiter) wurde durch die Wiedervereinigung ersatzlos aufgegeben. Der Einwand, der an diesem Punkt meistens kommt, ist ökonomischer Art. Er wird von den Autoren auch aufgegriffen: Die DDR sei ja auch pleite gewesen. Stimmt und stimmt so nicht, meinen Fasbender und Leuschner. Es stimme nur, wenn man – wie geschehen – die Währungsunion zum Wechselkurs von 1:1 durchgezogen hat. Dieses Vorgehen implizierte ein riesiges Problem für die ostdeutsche Wirtschaft, da sie nach gänzlich anderen systemischen Prinzipien funktionierte. Die Resultate sind hinlänglich bekannt und werden von den Autoren beispielhaft durchdekliniert. Vom Ostler Leuschner und auch vom Westler Fasbender werden zuerst die Entwicklungen im jeweils eigenen Land bis 1990 dargelegt, ergänzt durch Erfahrungen, die sie im jeweils anderen Teil gemacht haben.

Was beide hervorragend können, ist die unprätentiöse Schilderung ihrer Erlebnisse, wobei keine der Systemseiten dabei nur positiv oder negativ dargestellt wird. Die Konsequenz ihrer individuellen Sichtweisen ist dann aber von allgemeiner und grundlegender Art: „Wir hatten die Chance, nach 1990 auf eine nachhaltige europäische Friedensordnung hinzuarbeiten. Stattdessen haben wir, nicht nur im eigenen Land, auch in Europa den Westen Richtung Osten ausgewalzt.“ Die Quittung erhalten wir, so die Autoren, durch Krieg und zunehmende Nichtbeachtung europäischer Werte im eurasischen Raum. Die Stärke des Buches besteht in den eingeflochtenen persönlichen Berichten. Dadurch werden abstrahierte Aussagen greif- und nachvollziehbar. Ergänzt werden die individuellen Erlebnisse durch mehrere Interviews, die kaleidoskopartig das Dargelegte zu einem prägnanten Bild ergänzen. Es ist sehr erhellend, wenn die – gegenüber dem westlichen Maßstab – andersartige Sozialisation ostdeutscher Menschen auch für die asiatische Mentalität dargelegt wird.

Zugespitzt formuliert: Die Ostdeutschen bemerke man in Deutschland eigentlich nur – so die Autoren -, wenn sie stören oder Probleme verursachen, hingegen gehe man in Asien seit Hunderten von Jahren mit jeweils anders sozialisierten Gruppen und Ethnien um. Das Jahrhundert-Projekt der Neuen Seidenstraße (als eines der genannten Beispiele) wäre ohne eine gewisse soziale Toleranz nicht denkbar. „Erfolg ist etwas, das man am besten gemeinsam erlebt“, und dafür bedarf es eines Dialogs auf Augenhöhe sowie eines Primats der Wirtschaft, welches derzeit allerdings durch das Primat der Politik abgelöst worden sei. Diese Grundthese wird jeweils für Russland, aber auch für China und Staaten wie Kasachstan u.a. ausgebreitet. „Die europäische Aufklärung [ist] das eine – die in Fernost verbreitete Weltsicht, die seit einigen Tausend Jahren vorherrschende konfuzianische Sozialethik (…) das andere.“ Dass die Akzeptanz der Unterschiede die „einzig vernünftige Alternative“ sei, um „real verbliebene Handlungsspielräume optimal“ nutzen zu können, wird an diversen selbst erlebten und selbst geführten Unternehmen verdeutlicht. Beispielhaft beschreibt ein Kapitel den Weg eines in China produzierten Laptops bis hin zum Auslieferungslager in Duisburg.

Nicht nur wird dargelegt, was alles wie miteinander ins Räderwerk passen muss, damit so ein Transport zeitnah sein Ziel erreicht, sondern auch, wie anfällig insbesondere die Logistik für politische Störfaktoren (Sanktionen) ist. Plötzlich sind bestimmte Wege einfach gesperrt, Unternehmen nicht mehr handlungsfähig, gemeinsame Projekte dem Tod geweiht. Die Vorgaben der Politik führen dann zu den derzeit erlebten Resultaten wie der Abkehr des Nicht-Westens vom westlichen Europa:

„Politische Rivalitäten und historische Konflikte gehören zum kollektiven Miteinander; sie werden immer präsent sein. Der beste Weg, sie einzudämmen und zu kontrollieren, sind gemeinsame Interessen in Gestalt gegenseitiger Abhängigkeiten. Der große Fehler des Westens im 21. Jahrhundert liegt darin, diese Erkenntnis über den Haufen zu werfen (…) [Und] es gibt noch einen viel größeren Fehler: Der Westen will den Nicht-Westen nach seinem Bild gestalten.“

Aber: „Die Welt braucht uns weniger als wir sie (…) wir sollten dort nicht predigen, sondern zuhören; nicht missionieren, sondern lernen“. Dieser Ansatz ist der derzeitigen westeuropäischen Politik allerdings sehr fremd. Die Autoren schlussfolgern: Da „Europa als Großmacht keine Rolle mehr spielt, wird der Kontinent entweder zur Friedensdrehscheibe oder zum Schlachtfeld“.

Die Stärke des Buches von Fasbender und Leuschner besteht darin, anhand zahlreicher Beispiele darzulegen, wie man zum Nutzen aller Beteiligten wirtschaftlich zusammen agieren sollte. Dabei zeigen sie die Hindernisse, die derzeit die östliche und westliche Dialogbereitschaft erschweren, ohne ideologische Parteinahme für die eine oder für die andere Seite auf. Das Buch ist sehr kenntnisreich und überdies leicht lesbar geschrieben. Letzteres liegt auch in der Anlage des Buches begründet, die häufig zwischen den Sichtweisen der beiden Autoren wechselt, selbst Erlebtes aufführt und durch Interviews ergänzt. Was aus diesen Erfahrungen gefolgert wird, ist nicht nur interessant, sondern hoch bedeutsam – wirken doch die jeweiligen, in einer Gesellschaft verankerten Wertvorstellungen und Sozialisierungen hinein in unseren real erlebten Alltag, hier und jetzt. Und damit schließt sich der Kreis wieder zu Jürgen Kuczynskis „Geschichte des Alltags“.

Thomas Fasbender, Uwe Leuschner: Der Eurasien-Komplex: Warum und wie dem Westen die Zukunft entgleitet. Verlag Das Neue Berlin (Eulenspiegel-Verlagsgruppe), edition Ost, Berlin 2024, 256 Seiten, 12,5 x 21 cm, broschiert, 20,- Euro, ISBN 978-3-360-02818-1

Titelbild: Buchcover

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