Ein von Bertelsmann in Kooperation mit Innenministerium, Stiftungen und weiteren Partnern realisierter „Bürgerrat“ macht sehr fragwürdige Vorschläge zum „Kampf gegen Desinformation“. Das wirft Fragen auf: zu den konkreten Vorschlägen und zum Prinzip „Bürgerrat”. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Ein „Bürgerrat“ für „Maßnahmen gegen Desinformation“ hat die „Prüfung einer strafrechtlichen Verfolgung und/oder Sanktionierung der Verbreitung von Desinformation“ empfohlen, außerdem solle ein freiwilliges Gütesiegel für „qualitativen Journalismus“ eingeführt werden, wie Medien berichten. Eine „unabhängige Stelle“ solle für das Siegel Kriterien entwickeln und es an Verlage und Medienhäuser vergeben, heißt es im „Bürgergutachten zum Umgang mit Desinformation“, das am Donnerstag Bundesinnenministerin Nancy Faeser übergeben wurde, wie Bertelsmann in einer Mitteilung erklärte.
Weitere Vorschläge des Rates sind unter anderem eine Überprüfung von Beiträgen durch Künstliche Intelligenz (KI), bevor diese veröffentlicht werden; verpflichtende Lektionen zu „Medienkompetenz“ bei Elternabenden; ein („beispielsweise von Correctiv“) erstelltes „Desinformationsranking“ und viele andere. Das Projekt wurde von der Bertelsmann-Stiftung in Kooperation mit dem Bundesinnenministerium, der Stiftung Mercator und anderen Akteuren umgesetzt. Die vom „Bürgerrat“ entwickelten Ideen sind nicht bindend, sondern dienen als Empfehlung für künftige Gesetzgebung. Die Ergebnisse im Wortlaut finden sich unter diesem Link.
Faeser zur Pressefreiheit: „Da würde ich mich als Staat nie einmischen“
Die Zustimmungsraten unter den beim „Bürgerrat“ beteiligten Bürgern sind zum Teil erstaunlich: 96 Prozent sprachen sich etwa für die fragwürdige Maßnahme mit dem Siegel aus – überraschend: Innenministerin Nancy Faeser (SPD) äußerte sich zunächst skeptisch zu dem Vorschlag. Die Pressefreiheit sei ein hohes Gut der Verfassung. „Da würde ich mich als Staat nie einmischen“, sagte Faeser. Sie sehe die Einführung eines Gütesiegels kritisch.
Die Worte zum hohen Wert der Pressefreiheit ausgerechnet vonseiten Faesers sind natürlich eine Provokation. Es ist auch nicht ausgemacht, ob Faeser diese Position gegen das „Gütesiegel“ ernst meint oder ob sie die aktuelle Situation nur nutzt, um sich nach ihrem Vorpreschen um das Verbot des Magazins Compact zur Abwechslung als Hüterin der Meinungsfreiheit zu inszenieren. Jedenfalls hat die Bundesregierung den „Bürgerrat“ im Vorfeld beworben, etwa hier auf Facebook – dort heißt es, die „wichtigen Empfehlungen“ würden „in die Strategie der Bundesregierung im Umgang mit Desinformation einfließen“.
„Möglichkeiten zur Einschränkung von Desinformation“
Anfang des Jahres sei das Projekt „Forum gegen Fakes“ mit einer Online-Befragung gestartet, so Medien. Mehr als 420.000 Menschen hätten Vorschläge, Kommentare und Einschätzungen zum Umgang mit Desinformation beigesteuert. Der anschließende Bürgerrat bestand dann aus etwa 120 Teilnehmern, die in Berlin über neun Tage „Möglichkeiten zur Einschränkung von Desinformation“ ausarbeitet hätten. Das Projekt mündete in 15 Empfehlungen, mehr Infos zum Vorgang selber gibt es unter diesem Link, wo es heißt, dass deutschlandweit Menschen nach dem Zufallsprinzip kontaktiert worden seien und dass der Bürgerrat die Vielfalt der Bevölkerung in Deutschland abbilden würde.
Eines der Grundprobleme ist: Wer darf warum und nach welchen Kriterien einen Beitrag als „Desinformation“ klassifizieren und dann entsprechend behandeln?
Es finden sich in dem Papier des „Bürgerrats“ auch einige wohlklingende Floskeln, die bei ehrlicher Umsetzung möglicherweise Gutes bewirken könnten. Warum der ganze Vorgang trotzdem sehr fragwürdig ist, wird weiter unten geschildert. Es gibt auch inhaltlich hochproblematische Forderungen, bei denen der fragwürdige Charakter nicht einmal hinter netten Phrasen versteckt wird. Dazu gehören (unter anderem) folgende Forderungen:
Auch Kritik wird oft als „Desinformation“ dargestellt
Die Ergebnisse des Bürgerrats zeigen auch die Wirkung der offiziellen Meinungsmache gegen Regierungskritiker: Oft wird Kritik an aktuellen politischen Vorhaben als „Desinformation“ dargestellt, legitime Einwände werden inzwischen oft als „Delegitimierung“ diffamiert.
Und die Ergebnisse zeigen ein Unwissen darüber, dass z.B. Überprüfungen durch KI nicht immer den neutralen Charakter haben, wie es für manche Bürger vielleicht den Anschein hat: Wer den Algorithmus der KI kontrolliert und die Infos, mit denen sie gefüttert wird, kontrolliert dann indirekt die Wahrnehmung und die Klassifizierung von Medienbeiträgen.
Noch ein Wort zu dieser Forderung:
Wer wollte prinzipiell etwas gegen Medienbildung auch für Eltern von Schulkindern und in den Lehrplänen einwenden? Leider ist aber zu befürchten, dass diese Art „Medienbildung“ eher eine weitere Form der Meinungsmache sein könnte und sie zur Warnung vor „gefährlicher“ Regierungskritik missbraucht wird.
Denn selbstverständlich müssten in dieser Bildung auch die aktuellen Tendenzen zu einer indirekten Zensur der Meinungsfreiheit durch das deutsche „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, durch den „Digital Services Act“ auf EU-Ebene oder durch die Verunklarung der Grenze zwischen legal und illegal in Form neuer Begriffe wie „Delegitimierung des Staates“ thematisiert werden. Auch müsste berichtet werden über die Ungleichbehandlung zwischen öffentlich-rechtlichen bzw. privaten Mainstreammedien einerseits und den Alternativmedien andererseits. Wenn es um Einmischungen in Wahlen geht, müsste in so einer Medienbildung der Blick auch in Richtung der USA und ihrer hierzulande in der „Meinungsbildung“ sehr aktiven Think-Tanks gerichtet werden. Und wer Gruppen wie „Correctiv“ als „unabhängige“ Hüter über „seriös“ und „unseriös“ installieren möchte, sollte sich das nochmal sehr gut überlegen und sich die Finanzierung des „unabhängigen Recherchezentrums“ anschauen.
Orwell’sche Sprachverdrehung
Teilweise Zustimmung zum Papier des Rates gibt es vonseiten der Grünen, wie der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Konstantin von Notz in einer Pressemitteilung erklärt, in der er auch eine „ressortübergreifende Strategie gegen Desinformation“ ankündigt. Der Staat müsse „Nutzerinnen und Nutzer, öffentliche Diskurse und demokratische Willensbildungsprozesse gerade im Kontext von Wahlen schützen. Regulierung bleibt das Gebot der Stunde“ – hier ist sie wieder die Orwell’sche Sprachverdrehung: Aus Maßnahmen zur Einschränkung von „offiziell“ als „Desinformation“ markierten Beiträgen wird bei von Notz ein „Schutz“ der demokratischen Willensbildungsprozesse. Er übernimmt indirekt einen Teil der Vorschläge des „Bürgerrats“:
„Notwendig ist ein ganzes Maßnahmenbündel – von der effektiven Plattformregulierung durch gute Gesetzgebung, die Stärkung unabhängiger Aufsichtsstrukturen samt echter Sanktionsmöglichkeiten und einer verbesserten Rechtsdurchsetzung im Digitalen, über Maßnahmen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit und mehr altersunabhängige Medienkompetenzvermittlung.“
„Bürgerräte“ als Pseudo-Parlamente?
„Bürgerräte“ als „Ergänzung“ der realen Parlamente sind bei der Bundesregierung beliebt, unter anderem auch beim Thema Corona-„Aufarbeitung“. So hat Kanzler Scholz „Bürgerräte“ als Forum für eine solche Aufarbeitung ins Spiel gebracht, wie wir im Artikel „Scholz, Corona und die Bürgerräte: Anekdoten statt Aufarbeitung“ beschrieben haben. Dass Gesundheitsminister Lauterbach aktuell diesen Vorschlag „nicht falsch“ findet, war zu erwarten.
Der auch von der nun mit Alena Buyx verstärkten Firma Bertelsmann vorangetriebene, hier beschriebene Vorgang ist bereits wegen des Prinzips „Bürgerrat“ bedenklich: Diese Formate sind nicht demokratisch legitimiert. Werden hier Pseudo-Parlamente benutzt, um indirekt Stimmung gegen geltendes Recht (z.B. Meinungsfreiheit) zu machen? Vielleicht sehen Leser aber auch positive Aspekte bei dem Prinzip Bürgerrat, die ich übersehen habe, dann würde ich mich über Hinweise freuen. Meiner Meinung nach sind „Bürgerräte“ (in der bisher praktizierten Form) entweder folgenlose Quatschbuden – oder bedenkliche Parallel-Parlamente, in denen moderierte Situationen als „Spiegel der Gesellschaft“ verkauft werden sollen.
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
Titelbild: pathdoc / shutterstock.com