„Denn eine Meinungsfreiheit, die nur politisch genehme Positionen zulässt, ist keine“

„Denn eine Meinungsfreiheit, die nur politisch genehme Positionen zulässt, ist keine“

„Denn eine Meinungsfreiheit, die nur politisch genehme Positionen zulässt, ist keine“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Die Bürger werden „zunehmend als unmündige, hilfsbedürftige Dummerchen dargestellt“, von denen die Politik meine, sie müssten vor Fake News und „falschen“ Meinungen geschützt werden. Das sagt Hannah Broecker im Interview mit den NachDenkSeiten. Die Kommunikationswissenschaftlerin konzentriert sich in ihrer Forschung auf die Etablierung von Zensurregimen in westlichen Gesellschaften. Das Interview führte Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In ihrem gerade mit herausgegebenen Buch „Mediensystem und öffentliche Sphäre in der Krise“ zeigt Hannah Broecker die gegenwärtige Zensurpraxis auf. Im Interview sprechen wir darüber, wie sich Zensur aktuell ausformt und wie Begriffe wie etwa „Demokratie“, „Meinungsfreiheit“ oder „Bürger“ in ihrer Bedeutung pervertiert werden.

Marcus Klöckner: Frau Broecker, Sie setzen sich mit dem Thema Meinungsfreiheit auseinander und sprechen von „Zensurregimen“. Was meinen Sie damit?

Hannah Broecker: Wir haben in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften eine Argumentationslinie, die versucht, eine Sichtweise durchzusetzen, nach der es gut und richtig wäre, bestimmte Positionen in der Öffentlichkeit zu zensieren. Meist wird argumentiert, dass diese Positionen in irgendeiner Form eine Gefährdung für das Allgemeinwohl darstellen würden und deshalb zensiert werden müssen und dürfen. Wir finden aber auch gesetzliche Veränderungen, die mehr Zensur möglich machen und – wie im Fall des europäischen Digital Services Act und davor bereits beim deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz – auch aktiv fordern. Ähnliche und teilweise noch krasser vorgehende Gesetzgebungen finden wir auch im Vereinten Königreich, Irland und in Kanada, wo die geplante Online Harms Bill noch deutlich schärfer vorgehen will. Dann gibt es noch eine dritte Ebene.

Nämlich?

Zensurpraktiken, die nicht gesetzlich sanktioniert sind, die aber in Zusammenarbeit zwischen großen Tech-Plattformen, staatlichen Institutionen, teils Geheimdiensten und Universitäten durchgeführt werden.

Würden Sie das bitte präzisieren?

Über einige davon haben wir erst erfahren, als Elon Musk nach seiner Übernahme von Twitter drei Journalisten Zugang zu den Archiven gab, die dann wiederum die vorherigen Moderations- und Zensurpraktiken zumindest teilweise offenlegen konnten. Das sind die sogenannten Twitter Files. Hier wurden z.B. zensorische Aktivitäten des Virality Project aufgedeckt, die sich vor allem auf Informationen rund um Corona und auch wahre Erfahrungsberichte zu möglichen Impfnebenwirkungen bezogen. An diesem Projekt arbeiten sowohl staatliche US-Behörden als auch die Stanford University mit. Auch Mark Zuckerberg, der META- und Facebook-Chef, hat nun einen öffentlichen Brief an die US-Regierung gerichtet, in dem er auf den stetigen Zensurdruck insbesondere während der Coronazeit, aber auch im Kontext des Hunter-Biden-Laptops eingeht. Es ging dabei übrigens auch um Informationen, die sich heute als richtig herausgestellt haben. In diesem Kontext spricht einer dieser Journalisten, Michael Shellenberger, auch vom zensorisch-industriellen Komplex (censorship-industrial complex) – in Anlehnung an den sogenannten militärisch-industriellen-Komplex.

Das Grundgesetz soll die Meinungsfreiheit garantieren, und dort heißt es auch: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Es ist also etwas komplizierter, oder?

Ja, in der Praxis ist es komplizierter. Im Prinzip müsste es das aus meiner Sicht nicht sein. Das Grundgesetz gibt hier eine sehr solide Basis, die aus schmerzlicher historischer Erfahrung geboren ist und die zu achten wir gut beraten wären. Tatsächlich haben wir in Deutschland drei Ausnahme-Bereiche von der Meinungsfreiheit, die im Strafgesetzbuch festgelegt werden (und die teilweise noch aus der Kaiserzeit herrühren). Hier geht es um Jugendschutz, um Ehrverletzung bzw. Beleidigungen (§ 185 StGB) und letztlich das Verbot der Holocaustleugnung, die als Teil der Volksverhetzung (§ 130 StGB) gilt. Wie auch immer man diese drei im Detail bewerten mag, sind sie im Grunde Präzedenzfälle für die Einschränkung von Meinungsfreiheit. Alle drei bestehen in ähnlicher Form auch in vielen anderen westlichen Gesellschaften.

Im neuen Klima des Pro-Zensur-Diskurses werden diese Bereiche allerdings immer weiter ausgedehnt. So ist das Konzept Hatespeech deutlich breiter und ungenauer gefasst als der Tatbestand der Beleidigung oder Ehrverletzung. An anderen Stellen wird auch ganz offen gesagt, dass bestimmte Inhalte und Meinungen der Bevölkerung schlicht nicht zur Verfügung gestellt werden sollten. So haben wir nach der Sperrung von RT, der Abmahnung von KenFM und dem Verbotsversuch von Compact nun auch eine solche Abmahnung der Landesmedienanstalt NRW gegen Multipolar zu verzeichnen. Besonders im Multipolar-Fall wird deutlich, dass es um Gesinnungsjustiz geht, da gegen medial getätigte Aussagen, die die journalistische Sorgfaltspflicht in deutlich krasserem Umfang verletzt haben, die aber affirmativ sind, nicht in dieser Weise vorgegangen wird. Man denke dabei nur an Teile der „Impf“-Kampagne, Nord Stream oder im Grunde jeden bewaffneten Konflikt der letzten Jahrzehnte.

Gerade wurde bekannt, dass der Verfassungsschutz 1.600 Bürger in der neu geschaffenen Kategorie „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ aufgelistet hat. In einem Artikel der Jungen Welt heißt es in Bezugnahme auf eine Antwort aus dem Innenministerium: „Die dem Bereich zugeordneten Personen machten vielmehr ‚demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen verächtlich‘. Diese Form der Delegitimierung erfolge oft ‚nicht über eine offene Ablehnung der Demokratie als solche‘, sondern über eine ‚ständige Verächtlichmachung von und Agitation gegen demokratisch legitimierte Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates‘. Damit sind wir doch genau bei dem, was Sie kritisieren, oder?

Ja, das fällt genau in diesen Bereich. Zum einen wird oft argumentiert, die Personen hätten nicht direkt, aber doch über irgendwelche Umwege demokratische Institutionen oder ihr Handeln delegitimiert. Das bedeutet auch, dass Personen, die den demokratischen Charakter von politischen Handlungen gefährdet sehen – demokratische Prinzipien also im Sinne unseres Grundgesetzes schützen wollen – potenziell für die Delegitimierung des Staates bzw. seiner Repräsentanten und seiner Politik unter Beobachtung oder sogar unter Bestrafung geraten können. Die Kritik an staatlichen Institutionen und auch die Kritik an demokratisch gewähltem Personal gehören zur Demokratie. Ohne sie geht es nicht. Demokratie kann keine Begründung dafür sein, die demokratischen Normen aufzulösen. Man muss das nur einmal zu Ende denken: Was für ein politisches System ist es, in dem politische Institutionen, ihre Funktionsweise und das Handeln von Politikern nicht kritisiert werden dürfen?

Der Begriff „Delegitimierung“ ist auch sehr schwammig.

Die Delegitimierung und Verhöhnung des Staates sind, wie Hassrede und Malinformation, außerdem sehr dehnbare und unklare Begriffe, die sich bestens dafür eignen, dem geltenden politischen Klima entsprechend ausgelegt zu werden. Besonders in Deutschland, wo wir ja eine weisungsgebundene Staatsanwaltschaft haben, kann sich daraus ein doppeltes Problem für die Demokratie ergeben. Die Einstufung wird dann auch sehr selektiv angewendet. So scheint das Verächtlichmachen etwa von gewählten AfD-Politikern, aber auch ihrer Wähler und abgegebener Wahlstimmen nicht unter dieser Kategorie geführt zu werden; so etwa, wenn im ZDF durch die Chefredakteurin kommentiert wird, die anderen Parteien müssten ein demokratisches Bollwerk gegen die AfD und das BSW stellen, oder in der ARD konstatiert wird, „der mit den meisten demokratischen Stimmen ist momentan Mario Voigt“. Beide werden damit als nicht-demokratische Parteien bezeichnet. Damit müssten sie eigentlich außerhalb des Systems stehen. Da man sie aber wählen kann, delegitimieren die jeweiligen Sprecher hier die Institution des Wählens und auch die Resultate von Wahlen – im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk.

Sie sprechen von einer „Inversion demokratischer Normen“. Was meinen Sie damit genau?

Damit meine ich, dass die Spielregeln für die demokratische Öffentlichkeit in ihr Gegenteil verkehrt werden. Zentrale Normen wie etwa Meinungsfreiheit bekommen eine Bedeutung, die effektiv zur Abwesenheit von Meinungsfreiheit führt. Natürlich ist dieser Prozess nicht abgeschlossen, aber ich sehe eine sehr deutliche Tendenz in diese Richtung. Zum Beispiel wird der Begriff der Demokratiegefährdung oft sehr frei verwendet. In dieser Lesart wird etwa argumentiert, dass das Hinterfragen des menschengemachten Klimawandels zu gefährlicher Gegenwehr gegen entsprechende Maßnahmen führen kann, was wiederum zu massivem Leid und zum Untergang der staatlichen Ordnung führen würde. Daher werden „Klimaleugner“ gleichgesetzt mit Demokratiegefährdern, gegen die man dann die sogenannte „wehrhafte Klimademokratie“ in Anschlag bringen kann, die man also von demokratischen Rechten ausschließen darf und muss – so nachzulesen etwa bei Jonas Schaible im Spiegel 03/2023.

Sie sehen nun eine Umkehrung oder Verdrehung der Begriffe „Bürger“, „Meinungsfreiheit“ und „Demokratie“. Um das näher zu verstehen, müssen wir über die eigentliche Bedeutung und die verdrehte Bedeutung sprechen. Wie wird ein „Bürger“ eigentlich verstanden?

Der Bürger ist in der Demokratie gedacht als der Souverän, also als derjenige, vor dem sich alle Macht im Staat rechtfertigen muss. Es gibt also keinen Souverän, der wie in vordemokratischen Zeiten über den Bürger herrscht. Die Bürger sollen sich selbst regieren. Dazu gehören auch die Prinzipien, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleichbehandelt werden und sich in politische und öffentliche Angelegenheiten einmischen dürfen und es auch tun sollen! Damit basiert das klassische Bild des Bürgers auch auf seiner Mündigkeit: Jeder ist prinzipiell fähig dazu, sich mit diesen Themen zu beschäftigen, sachlich-rationale, aber auch wertende oder emotionale Beiträge zu machen und Lösungen vorzuschlagen.

Wie sieht es heute aus? Welche Wandlung ist zu beobachten?

Die Bürger werden im Pro-Zensur-Diskurs zunehmend als unmündige, hilfsbedürftige Dummerchen dargestellt. Sie können sich selbst nicht orientieren in der Masse der verfügbaren Informationen und Meinungen, sitzen schnell Falschnachrichten oder gefährlichen Meinungen auf und gefährden damit sich und andere – ein bisschen wie das Kind mit der Herdplatte. Etwa, wenn sie Corona-Maßnahmen nicht beachten, den anthropogenen Klimawandel infrage stellen oder den bösen Russen zuhören und deren Desinformationen automatisch auf den Leim gehen. Deshalb wird oft aktiv dafür plädiert, dass Bürger komplexe Themen nicht selbst recherchieren und sich nicht selbstständig eine eigene Meinung bilden sollen.

In einigen sozialwissenschaftlichen Büchern wird sogar mit dem Gedanken gespielt, eine Art Prüfung einzuführen, bevor Menschen wählen dürfen – so etwa bei Prof. Jason Brannan von der Princeton Universität. Sie sollen die Deutung der Experten frag- und kritiklos akzeptieren. Damit findet eine fundamentale Umkehrung des Verhältnisses zwischen Staatsapparat und Bürgern statt. Der Bürger ist in diesem Verständnis nicht mehr diejenige Instanz, die staatliche Machtausübung auswertet und kontrolliert bzw. legitimiert. Im Gegenteil – es steht ihm gar nicht zu, zu kritisieren. Er ist mental und übrigens auch emotional schutzbedürftig. Der Bürger wird damit völlig infantilisiert und seiner Aufgabe in der Demokratie beraubt. Wenn sich diese Sichtweise weiter durchsetzt, kommt es automatisch zu einer noch stärkeren Zentralisierung der Deutungshoheit.

Übrigens geht diese Infantilisierung im Konzept des ‚nudging‘ noch weiter. Hier wird im Kern argumentiert, dass es in Ordnung ist, wenn Staat und Wissenschaft die Wahrnehmung und das Verhalten von Bürgern zu deren eigenem Besten psychologisch beeinflussen, also manipulieren.

Wie verhält es sich mit dem Begriff „Meinungsfreiheit“? Eigentlich bedeutet Meinungsfreiheit …?

Eigentlich bedeutet Meinungsfreiheit, dass wir uns frei von ideologischen, religiösen oder anderen Gesichtspunkten informieren und eine Meinung bilden dürfen und diese auch in Wort und Schrift publizieren dürfen. Es bestehen gesetzliche Grenzen, die wir schon benannt haben – etwa, wenn andere direkt zu Schaden kommen.

Heute soll der Begriff wie verstanden werden?

Wir hatten eben schon über die bestehenden Einschränkungen der Meinungsfreiheit gesprochen. Im aktuellen Zensurdiskurs geht es aber um mehr. Die Einschränkungen wurden in den vergangenen Jahren immer weiter ausgedehnt und politisiert. Es sollen zuerst einmal für falsch und für gefährlich erklärte Informationen von der Öffentlichkeit ferngehalten werden. Hierbei kann es sich um verschiedene Inhalte handeln. Besonders oft wird Bezug genommen auf die Gefährdung durch falsche Auffassungen zu Corona und den darauf aufbauenden Maßnahmen, die Hinterfragung des menschengemachten Klimawandels, Gefährdung durch eine Nähe zu Positionen von ausländischen Autokraten – meist Putin, Orban oder Trump –, aber auch allgemeingehaltenen, irgendwie „rechten“ Positionen und vielen anderen. Im Begriff der Malinformation geht es sogar um Inhalte, die faktisch richtig, aber politisch unerwünscht sind. Hierbei stellen sich sofort mehrere Fragen: Wer kann wie die absolute Wahrheit festlegen? Geht gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Fortschritt nicht immer mit der Reibung unterschiedlicher Untersuchungsergebnisse und Perspektiven einher? Gibt es nicht auch Gegenstandsbereiche, über die wir gar nicht genug wissen können, um eine letztgültig richtige Haltung zu proklamieren? Und noch fundamentaler: Sollte es in einer Demokratie nicht eigentlich erlaubt sein, auch (potenziell) falsche Dinge denken und sagen zu dürfen? Sollten Demokratien nicht unterschiedliche Meinungen aushalten und eben darüber, dass sie miteinander in Austausch gehen können, auch für alle aushaltbar machen?

Was hier geschieht, ist, dass Akteure – dazu gehören Staat, viele der großen Medien, einige große Tech-Plattformen, Partikularinteressen wie Pharma- und Rüstungsbranchen, aber eben auch Teile des Bildungssystems (das ja substanziell vom Staat und über Drittmittel aus Industrie und privaten Stiftungen finanziert wird) –, die bereits einen beträchtlichen Einfluss über die öffentliche Meinung haben, diesen Einfluss ausdehnen wollen, indem sie die Konkurrenz gesellschaftlich und auch gesetzlich delegitimieren. Falsche und gefährliche Nachrichten werden nicht umsonst von all diesen Akteuren zumeist im Internet und bedingt durch die ‚Entprofessionalisierung des Journalismus‘ vermutet: Jeder kann recherchieren und seine Meinung publizieren. Zweitens wird der Schutz von Individuen so ausgedehnt, dass er in sein Gegenteil verkehrt wird. Bisher ging es darum, die Würde des Einzelnen zu schützen, indem Meinungsfreiheit in Wort und Schrift möglich ist und somit eine Teilnahme aller an gesellschaftlichen Prozessen ebenfalls prinzipiell gegeben ist. Es galt also eine grundlegende Gleichberechtigung im Sinne der Startpositionen: Jeder darf die eigene Meinung aussprechen.

Und das soll sich nun ändern?

Im Pro-Zensur-Lager wird nun argumentiert, dass manche Menschengruppen über diese prinzipielle Gleichberechtigung faktisch benachteiligt werden – etwa Frauen, ‚Nicht-Weiße‘ oder Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit weniger ökonomischen und sozialen Mitteln usw. Um diese zu schützen, sollen also die Stimmen der scheinbar dominanten Kräfte unterdrückt werden, ironischerweise durch Staat und große Plattformen. In der breiten öffentlichen Diskussion finden wir dann Aussagen dazu, dass bestimmte, als dominant wahrgenommene Gruppen und Perspektiven zensiert werden sollten. Im Kern liegt dem die Logik zugrunde, dass diejenigen Gruppen, die andere historisch unterdrückt haben oder so wahrgenommen werden, jetzt ihrerseits unterdrückt – also aus der Diskussion ausgeschlossen – werden sollen. Das ist leider so gar nicht mit rechtsstaatlichen oder demokratischen Prinzipien der Gleichbehandlung kompatibel. Eine Umkehrung der Meinungsfreiheit ist das auch deshalb, weil hier zum Schutz der Meinungsfreiheit die Meinungsfreiheit eingeschränkt, ich würde sogar so weit gehen zu sagen: abgeschafft werden soll. Denn eine Meinungsfreiheit, die nur politisch genehme Positionen zulässt, ist keine.

Und dann gibt es noch handfeste Interventionen über Gesetze.

Im gesetzlichen Anteil dieses Diskurses finden sich eher Formulierungen, nach denen Aussagen, die als benachteiligend – etwa rassistisch oder beleidigend – ausgelegt werden können, zensiert werden sollen. Der EU Digital Services Act geht so weit, von Plattformen zu fordern, dass sie alle Inhalte, die in absehbarer Weise nachteilige Auswirkungen auf „gesellschaftliche Debatte und auf Wahlprozesse und auf die öffentliche Sicherheit“, aber auch „auf geschlechtsspezifische Gewalt, den Schutz der öffentlichen Gesundheit und von Minderjährigen sowie schwerwiegende nachteilige Folgen für das körperliche und geistige Wohlbefinden einer Person“ haben, unter Androhung von hohen Strafen gelöscht werden müssen (Art. 34). Hier sind wir dann in einem Bereich, in dem a) die politische Wertung dessen, was als nachteilig gilt, b) die Effekte von Meinungsäußerungen bei anderen Personen sowie c) die Gefühle von Individuen auf sehr unbestimmte Art zum Maß aller Dinge werden. Darauf geht übrigens auch der Beitrag von Sandra Kostner in unserem Sammelband weiter ein. Mit diesen Kriterien wird eine völlige Willkür eingeführt, die je nach politischem Willen ausgedeutet werden kann. Am extremsten finden wir das derzeit vermutlich in Auseinandersetzungen um die Gender-Sprache wieder.

Zum Begriff Demokratie. Darunter ist zu verstehen …?

Demokratie bedeutet wörtlich die Herrschaft des Volkes – also durch die Bürger, nicht durch einen König oder eine bestimmte Kaste, die für besonders geeignet angesehen werden. Im Kern geht das zurück auf die Feststellung, dass alle Menschen gleichwertig sind und daher auch in der politischen Gemeinschaft gleichwertig teilnehmen dürfen sollten. Es geht also um den Zugang aller zu Prozessen der Entscheidungsfindung. Demokratische Institutionen haben die Aufgabe, diese Form der Regierung zu ermöglichen, indem sie uns Austausch, Debatte und Wahlen ermöglichen, ohne dass wir uns physisch bekriegen und den anderen als Feind ansehen müssen. Demokratische Institutionen müssen daher auch transparent sein und durch Bürger kritisiert und durch den demokratischen Prozess verändert werden können.

Welches Verständnis des Begriffs kommt heute zum Vorschein?

Kritik an der Arbeit von Institutionen in demokratischen Staaten wird regelmäßig als in sich fehlgeleitet und demokratiefeindlich dargestellt und damit delegitimiert. Neuerdings – wir haben es ja schon angesprochen – wird dies über die Begriffe der „Staatsdelegitimierung“ oder auch „Staatsverhöhnung“ sogar strafbar. Demokratische Institutionen müssen aber in ihrer Funktionsweise hinterfragbar und auch veränderbar sein, sonst verlieren sie ihren demokratischen Kern.

In ähnlicher Weise werden basale Prinzipien der Auseinandersetzung durch Verunglimpfung mit Begriffen wie Polarisierung, Spaltung und Verwirrung aus dem demokratischen Repertoire herausgenommen. Demokratien sind dazu da, um Spaltung und Polarisierung aushaltbar zu machen. Sie geben uns die institutionellen Mechanismen, um unterschiedliche Positionen friedlich vortragen und im Idealfall so aushandeln zu können, dass alle damit leben können. Ein Ausschluss von Positionen, weil sie zu unterschiedlich sind, negiert ein zentrales Anliegen der Demokratie. Es hilft übrigens auch praktisch nicht. Diese Positionen lösen sich dadurch ja nicht in Luft auf, sondern die zugrundeliegenden Unzufriedenheiten wachsen schlicht weiter an.

Was bedeutet es für ein demokratisch verfasstes System, wenn politische Akteure zentrale Begriffe wie Bürger, Meinungsfreiheit, Demokratie Stück für Stück so umdefinieren, wie Sie es gerade beobachten?

Es zeigt aus meiner Sicht zum einen eine grundlegende Missachtung demokratischer Normen an und den Willen, die eigene politische Sichtweise auch über den Bruch dieser Normen durchzusetzen. Es ist eine in sich anti-demokratische Haltung. Das ist insofern ironisch, da dies ja genau denjenigen vorgeworfen wird, deren Perspektiven zensiert werden (sollen). Demokratische Institutionen müssen sich hier tatsächlich gegen die Aushöhlung ihrer zentralen Werte zur Wehr setzen, aber eben nicht durch den Ausschluss solcher Positionen, sondern durch das Offenhalten des öffentlichen Diskurses.

Es bringt auch noch eine weitere Gefahr mit sich. Unser Sprachgebrauch ist fundamental dafür, dass wir Ideen, Werte und Überzeugungen zum Ausdruck bringen können. Worte bekommen ihre Bedeutung durch die Art, wie wir sie benutzen. Wenn wir in der Breite anfangen, Begriffe wie Demokratie, Bürger und Meinungsfreiheit zu benutzen, aber mit völlig pervertierten Inhalten verbinden, dann werden diese Inhalte letztlich zu der Bedeutung, die Menschen darunter verstehen.

Haben Sie konkrete Beispiele zur Hand, die die Kernprobleme verdeutlichen?

Es gibt so viele Beispiele, von denen man nur einige wenige kurz benennen kann, die aber stellvertretend für viele weitere stehen. Im Bereich der Coronapolitik wurde an prominenter Stelle etwa argumentiert, dass es gefährlich und ein schlechtes Vorbild sei, wenn jemand wie Joshua Kimmich sich öffentlich weigert, sich impfen zu lassen. Ähnlich ist es Richard David Precht ergangen, als er anfing, Fragen zu den Maßnahmen zu stellen, oder auch, als Stiko-Chef Thomas Mertens sagte, er würde seinen Enkel nicht impfen lassen. Weniger bekannt sind vermutlich die vielen Fälle, in denen auch Wissenschaftler und wissenschaftliche Studien im Themenbereich Corona verunglimpft und auch zensiert wurden. Ein gutes Beispiel ist der Versuch durch ranghohe Mitarbeiter der US-Gesundheitsbehörden, die internationale Great Barrington Deklaration zu unterdrücken.

Im US-Wahlkampf hat Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris sich gerade dazu geäußert, dass soziale Medien stärker reguliert und kontrolliert werden müssten, da diese zu Millionen von Menschen sprechen würden, und das völlig ohne Beaufsichtigung und Regulierung. Ähnlich äußerte sich ihr Vize Tim Walz: Es gäbe keine Redefreiheit für ‚misinformation‘ oder ‚hate speech‘.

Noch ein Beispiel?

Zwei weitere Bereiche, in denen diese Logik häufig angewandt wird, sind die Debatten um Gendersprache und den Ukraine-Krieg. Im Fall der Debatte um Gendersprache haben wir viele Fälle von De-facto-Zensur. In Deutschland wurde gerade den Betreibern des YouTube-Kanals Hoss&Hopf (nach deren eigenen Aussagen) ohne mündliche Verhandlung eine Geldstrafe von 250.000 Euro und eine potenzielle Haftstrafe angedroht, weil sie über eine als männlich geborene und nicht geschlechtsoperierte Person als männlich berichtet haben, die sich derzeit aber als weiblich selbstidentifiziert. Sie haben also das sogenannte Deadnaming praktiziert. In Irland ist ein Lehrer, Enoch Burke, vom Unterricht suspendiert worden, weil er sich ebenfalls weigerte, einen Schüler mit dem von ihm gewünschten Pronomen anzusprechen. Stein des Anstoßes war übrigens, dass er eine schulöffentliche Diskussion über diese Frage gefordert hatte, die offensichtlich nicht gewollt war.

Es wird, denke ich, deutlich, dass hier über das Zensieren von sprachlichen Ausdrücken auch die Debatte über einen ganzen Themenbereich grundlegend erstickt wird. Ein weiterer Themenbereich ist die Debatte um den Krieg in der Ukraine. Auch hier wird immer wieder argumentiert, dass es gefährlich sei, russischen Argumenten auch nur zuzuhören. Etwa Personen wie Gabriele Krone-Schmalz, die sich ja seit Jahrzehnten mit der Politik der Region beschäftigt, haben das zu spüren bekommen – aber auch Patrik Baab. In diesem Fall sieht man auch, wie sich falsche Informationen darüber, was er eigentlich in der Ukraine gemacht hat, sehr hartnäckig halten. Immer geht es hier darum, dass die Bürger die politisch „falschen“ Perspektiven gar nicht erst hören sollen, um sich dann eine eigene Meinung erlauben zu können.

Diese Beispiele zeigen, dass die Zensurlogik erstens schon in sehr viele gesellschaftliche Themenbereiche vorgedrungen ist und dass es zweitens kein deutsches Problem ist, sondern eines, das wir relativ zeitgleich im gesamten politischen Westen wiederfinden.

Was kann, was sollte eine demokratische Gesellschaft dem entgegensetzen?

Eine demokratische Gesellschaft muss an ihren Grundsätzen und Prinzipien festhalten, die es allen Bürgern erlauben, gleichwertig zu sprechen, und die verlangt, dass alle gesellschaftlichen Positionen auch von den Medien aufgenommen und berichtet werden. Dieses Recht müssen wir auch für all jene offenhalten, mit denen wir inhaltlich nicht einer Meinung sind.

Derzeit scheint es mir besonders wichtig, diese Zensurbestrebungen, die ja zum Großteil unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung und des Schutzes der Demokratie befürwortet werden, als vollkommen undemokratisch offenzulegen und auch ihre inneren Widersprüche auszusprechen und sich ihnen auch auf dem Rechtsweg wo immer möglich zu widersetzen. Ob nun erfolgreich oder nicht, es ist wichtig, ein Verständnis für die Unsinnigkeit vieler dieser Vorwürfe herzustellen und außerdem einen Überblick über das Ausmaß dieses Argumentationsstrangs zu bekommen. Dafür müssen wir uns mit unseren eigenen Ängsten auseinandersetzen und trotz möglicher Anfeindungen für demokratische Prinzipien einstehen. Das ist nicht immer ganz einfach, weil es auch bedeutet, dass wir uns wehren müssen, ohne die Impulse, auszuschließen und mundtot zu machen, zu übernehmen.

Im Kern, denke ich, müssen wir verzeihen und trotzdem für die eigene Meinung einstehen. Das bedeutet zuerst einmal Arbeit an uns selbst. Ich denke auch, dass wir nicht auf so verlorenem Posten stehen, wie man bisweilen glauben könnte. Dass etwa Mark Zuckerberg, der ja mit Facebook jahrelang diese Zensurpraktiken mitgetragen hat, sich nun öffentlich dazu äußert und den ausgeübten Druck anprangert, scheint mir ein äußerst positives Zeichen zu sein. Wichtig scheint mir auch, dass wir als Menschheit nicht zum ersten Mal mit diesem Problem konfrontiert sind. Autoritäre Kräfte haben historisch immer wieder versucht, Zensurregime aufzubauen, um ihren eigenen Machtanspruch zu sichern. Früher oder später zerbrechen solche Bestrebungen, die eben nicht auf der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen aufgebaut sind, an ihren eigenen inneren Widersprüchen.

Lesetipp: Hannah Broecker, Dennis Kaltwasser (Hrsg.): Mediensystem und öffentliche Sphäre in der Krise. ‎WESTEND academics, 1. Edition (19. August 2024), 354 Seiten, 34 Euro oder freier Zugang als PDF.

Titelbild: TatMih / Shutterstock