Auf der Sicherheitskonferenz Globsec Forum 2024 in Prag hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Frage gestellt, ob jemals die Ungarn für die sowjetische Invasion von 1956 verantwortlich gemacht wurden oder die Tschechen für die sowjetische Unterdrückung im Jahr 1968. Sie wies im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf Politiker in der EU hin, „die die Besetzten für den Krieg verantwortlich machen, nicht den Besatzer“. Ein Kommentar von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Ursula von der Leyen hat Viktor Orbán in ihrer Rede in Prag Ende August wieder einmal „entdeckt“. Warum ist diese Konfrontation nicht gut für die beiden „Hahnenkämpfer“, aber auch für Ungarn und die Europäische Union? Warum untergräbt dieser Dauerstreit die Glaubwürdigkeit der ansonsten grundsätzlich realistischen Lageeinschätzung des ungarischen Premierministers?
Ursula von der Leyen macht da weiter, wo sie aufgehört hat. Die Politikerin, die zum zweiten Mal zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt wurde, sieht weiterhin Wladimir Putin und Viktor Orbán als die größten Herausforderungen für Europa. Natürlich sagt sie dies nicht so, wie es der Chef der litauischen Diplomatie neulich vor einem Treffen der Außenminister in Brüssel statt in Budapest tat, um gegen die Politik der ungarischen Regierung zu protestieren. Wie Gabrielius Landsbergis sagte, ist die ungarische Regierung in der Lage, die EU-Prozesse zu stören, aber sie ist nicht Mainstream und wird es auch nie sein, und viele europäische Länder warten darauf, dass der „Regen“, der von einer bestimmten Person verursacht wird, aufhört.
Wir verstehen, dass Viktor Orbán die Ursache für all die Probleme ist. Die Europäische Union ist da, wo sie ist, weil die Politik des ungarischen Ministerpräsidenten sie spaltet und ihr nicht erlaubt, Putin zu besiegen.
Ja, natürlich! Orbán ist der Grund dafür, dass an der Peripherie Europas ein Krieg tobt, der die Sicherheit des gesamten Kontinents bedroht und seine Wettbewerbsfähigkeit schwächt; dass die Sanktionen nicht wirklich funktionieren und einen großen Rückschlag für Europa bedeuten und dass Putins Russland immer noch steht und sogar besser dasteht als die Ukraine mit dem ganzen Westen im Rücken. Orbán ist auch der Grund dafür, dass Europa immer mehr seine Identität verliert, sich in einem Meer von Einwanderern auflöst und die unkontrollierbar gewordene Migration zunächst das soziale Gefüge zerreißt, das Sicherheitsgefühl schwächt und schließlich die Gesellschaften überrollt und „verschlingt“ – zumindest diejenigen, die das zulassen!
Orbán hat rechtzeitig davor gewarnt, dass dies zu Problemen führen würde – so, wie der ungarische Ministerpräsident jetzt auf das falsche Vorgehen der Europäischen Union im Krieg in der Ukraine aufmerksam macht.
Die oberste Anführerin der EU spaltet
Doch zurück zu Ursula von der Leyen, die es in ihrer Rede auf der regionalen Sicherheitskonferenz Globsec, in der sie die Auswirkungen des Krieges und die Herausforderungen für Europa analysierte, nicht versäumte, eine Botschaft an den ungarischen Ministerpräsidenten zu senden. Das ist verständlich, denn in einem heimischen, stark atlantisch geprägten Umfeld ist dies fast ein Muss. Aber vergessen wir nicht, dass es sich hier um das Gesicht der Europäischen Union handelt, um ihre oberste Anführerin, deren Aufgabe es sein sollte, diese Gemeinschaft zusammenzuführen, und nicht, sie zu spalten – was sie Viktor Orbán immer wieder vorwirft.
Deshalb betonen wir vor allem jenes Element der Rede, das verbindet und nicht spaltet.
Von der Leyen hob hervor, dass Europa die Verteidigungsausgaben lange vernachlässigt habe. Dann folgte die obligatorische Geste, als sie sagte, dass sie die Bedeutung der US-Unterstützung für die Ukraine nicht hoch genug einschätzen könne, für die sie ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, aber auch der Verantwortung empfinde. Dann sagte sie, und wir können ihr vorbehaltlos zustimmen, dass die Verteidigung Europas in erster Linie in der Verantwortung Europas liegen muss, weshalb die europäischen Länder ihre Verteidigungsausgaben in den letzten zwei Jahren erheblich erhöht haben.
Ja, ob man will oder nicht, Sicherheit hat ihren Preis. Und wenn man nicht in seine Sicherheit investiert, kann man sich nicht verteidigen und gerät, wie Europa, in die Abhängigkeit vom Garanten seiner Sicherheit. Im schlimmsten Fall, in einem möglichen Krieg, wird es scheitern, es wird verloren sein. In der gegenwärtigen Situation ist es der erste Fall, Europa ist der Vasall der USA, und es gibt wenig Anzeichen dafür, dass es aus dieser Situation herauskommen will oder kann.
„Natürlich hat die Präsidentin der Europäischen Kommission nicht darüber gesprochen, sondern unter großem Beifall ihre falschen Vorstellungen über Russland wiederholt, nämlich dass Moskau eine Bedrohung für Europa ist und im Krieg in der Ukraine besiegt und gebrochen werden muss. Ergo sollten wir vielleicht nicht aufrüsten, um uns zu verteidigen, sondern um Russland zu besiegen.“
Als unausgesprochene Kritikerin der deutschen Ostpolitik sagte sie, es sei eine Illusion, was viele jahrzehntelang geglaubt hätten, nämlich dass wirtschaftliche Verflechtung der Weg zur Sicherheit sei und dass Russland Europa niemals angreifen würde, solange dieses sein Gas von dort bezöge. Aber sie sagte auch, Putin habe die Bereicherung seines eigenen Landes für seine eigenen imperialen Ambitionen aufgegeben, und die russische Erpressung habe die Energiewende nur beschleunigt.
Von der Leyens These ist falsch
Diese These ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Zum einen hat die gegenseitige Abhängigkeit nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt, sondern auch die Sicherheit selbst während des Kalten Krieges gewährleistet. Zum anderen hat sich in den letzten 30 Jahren nicht Russland nach Westen, sondern die NATO nach Osten ausgedehnt. Damit hat sie, wie wir gesehen haben, die Sicherheit Europas gefährdet.
Aber das war für die USA, die die Organisation dominieren, weniger besorgniserregend, denn für sie ist Europa nur eine Frontlinie, eine Pufferzone gegen Russland. Ja, Russland denkt traditionell imperial, aber in diesem Fall war es nicht das, sondern die Besetzung des westlichen Raums, die Ausdehnung des Einflusses, die in seinen Augen eine Bedrohung, eine sicherheitspolitische Herausforderung darstellte, die es zu einem Schritt veranlasste, der im völkerrechtlichen Sinne eine Aggression darstellt.
Natürlich hat sich der Westen hier verkalkuliert, denn er wollte den Einfluss auf die Ukraine nicht durch einen Krieg zurückgewinnen. Aber der Westen hat sich auch verkalkuliert, als er im Frühjahr 2022 dachte, dass der Moment gekommen sei, Russland zu brechen. Und als Ergebnis dieser beiden Fehleinschätzungen tobt der Krieg nun schon seit fast drei Jahren.
Und dass Putin es aufgegeben hätte, sein eigenes Land bereichern zu wollen? Der Krieg wird Russland kurz- bis mittelfristig kaum aus dem Geschäft bringen, aber er vergrößert eindeutig den Modernisierungsstau. Und das ist das US-amerikanische Minimalziel. Und was den Ausstieg aus den russischen Energieressourcen betrifft, so ist er einerseits unüberlegt und in vielerlei Hinsicht selbstmörderisch, und andererseits beseitigt er vorerst nicht die Abhängigkeit, sondern ersetzt sie lediglich durch ein anderes Land.
Aber gehen wir weiter, denn wie wir bereits gesagt haben, hat von der Leyen auch Orbán „entdeckt“. Erstens hat sie gerade angedeutet, dass es in der EU und sogar in dieser Region Politiker gibt, die die Besetzten für den Krieg verantwortlich machen, nicht den Besatzer. Sie würden nicht Putins Machtstreben, sondern das Streben der Ukraine nach Freiheit beschuldigen.
Sie machte die Andeutung noch deutlicher, als sie sagte, sie wolle Orbáns Leute fragen, ob sie jemals die Ungarn für die sowjetische Invasion von 1956 verantwortlich gemacht hätten. Wurden jemals die Tschechen für die sowjetische Unterdrückung im Jahr 1968 verantwortlich gemacht? Sie fuhr fort, dass die Europäer viele Sprachen sprechen, aber in keiner Sprache ist Kapitulation gleichbedeutend mit Frieden oder Besatzung gleichbedeutend mit Souveränität. Diejenigen, die dafür plädieren, die Unterstützung für die Ukraine einzustellen, plädierten daher nicht für Frieden, sondern für die Unterwerfung der Ukraine.
Der Westen opfert die Ukraine
Zunächst einmal gibt niemand der Ukraine die Schuld, sondern sieht sie als Opfer. Ihr wird nicht die Schuld gegeben, obwohl die ukrainische Elite, die politische Führung, mitschuldig an der Entwicklung der Dinge ist. Jeder versteht, dass die Ukrainer für ihr Heimatland kämpfen, aber es ist ein aussichtsloser Kampf, bei dem die Gesellschaft für 20 Prozent des Territoriums abgenutzt wird und der Staat selbst in Gefahr geraten könnte. Außerdem handelt es sich zu einem großen Teil um Gebiete, deren Besitz historisch gesehen umstritten ist. Harte Worte, die man als Ukrainer nicht gerne hört, aber das ist die harsche und grausame Realität.
Und wir haben noch nicht einmal die Tatsache erwähnt, was die Ukraine nicht wirklich anerkennen will, nämlich dass sie seit dem Scheitern der Gespräche in Istanbul hauptsächlich für ausländische Interessen kämpft. Sagen wir es so: Der Westen opfert die Ukraine, um Russland zu schwächen. Das kann einem auch in den Sinn kommen, wenn ein westlicher Politiker von 1956 spricht.
Und die Europäische Union sekundiert diesem Spiel und finanziert nun dieses Abenteurertum. Die Tatsache, dass die Europäische Union bisher keine Vision für eine Lösung auf den Tisch gelegt hat, ist entlarvend und zeugt von mangelndem strategischen Denken. Denn sie spielt mit falschen Vorstellungen, um Russland zu besiegen, und benutzt dazu zynisch die ukrainische Bevölkerung.
Der Realpolitiker Viktor Orbán warnt ständig vor dem Irrweg dieser Politik. Der kampfesfreudige Viktor Orbán – in der Konfrontation auf Hochtouren –, schießt oftmals unnötigerweise über das Ziel hinaus und schadet dabei seiner Effektivität, Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. Es bringt nicht viel, ständig auf von der Leyen oder anderen herumzuhacken, weil sie mit einer sicheren Mehrheit im Rücken immer noch als die mächtigste Frau Europas gilt.
Wie wir seit einiger Zeit sehen, hat auch von der Leyen den Fehdehandschuh aufgenommen, und das verheißt kurzfristig nichts Gutes für Ungarn. Aber auch dieser Hahnenkampf, der die ungeschriebenen Regeln der Diplomatie auf beiden Seiten eklatant missachtet, wird die ohnehin angeschlagene Europäische Union nicht voranbringen.
Der Beitrag erschien im ungarischen Original auf Moszkvater.