Die NachDenkSeiten haben am 2. September das neue Buch von Heiner Flassbeck vorgestellt. Mit großem Interesse habe ich begonnen, das Buch zu lesen. Und dann habe ich nach einem Teil der Volkswirtschaftslehre gesucht, der schon vor über 50 Jahren oft vergessen wurde. Die Wissenschaft von der Nationalökonomie besteht nicht nur aus der Makroökonomie, also der Betrachtung der Konjunktur, des Wachstums, der Arbeitslosigkeit und der Beschäftigung. Zur „Ökonomik“, wie Heiner Flassbeck sagt und schreibt, gehört auch die Theorie von der optimalen Allokation der Ressourcen – man könnte auch von der Theorie der Marktwirtschaft sprechen oder – bei Benutzung eines englischen Begriffs – von „Welfare Economics“. Albrecht Müller.
Für mich ist die Begegnung mit dem Buch von Heiner Flassbeck eine Art Deja-vu. Ich habe das gleiche Phänomen vor nunmehr genau 56 Jahren erlebt. Im Jahre 1968 war ich Assistent bei einem Professor der Nationalökonomie in München, bei Hans Möller. In seinen Seminaren wurden Referate zu Fragen der Makroökonomie gehalten; aber darüber hinaus untersuchten wir Studenten, Doktoranden und Assistenten, wo es Defizite bei der Allokation, also bei der Beanspruchung und Kombination der Ressourcen einer Volkswirtschaft gibt und wie diese bedingt sind und behoben werden könnten.
Eine zentrale analytische Einsicht dieses Zweiges der Volkswirtschaftslehre ist, dass bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen sogenannte externe Effekte auftreten können, im gängigen Englisch ausgedrückt: external economies und external diseconomies. Ein geläufiges Beispiel dafür: Wer an der Ausfallstraße einer Stadt mit viel Verkehr lebt, hat unter dem Autoverkehr zu leiden. Bei der „Produktion von Fahrleistungen“ entstehen nicht nur die Kosten für den Halter des Pkw oder des Lkw und für den Treibstoff. Es entstehen auch Kosten bei Menschen, die mit der Produktion der Fahrleistungen nichts zu tun haben, aber an der befahrenen Straße wohnen und unter Lärm und Abgasen leiden. Das sind die external diseconomies des Autoverkehrs. Es gibt viele andere und auch viele andere relevante – um den Titel von Heiner Flassbeck aufzugreifen – externe Effekte in der sogenannten marktwirtschaftlich organisierten Produktion. Das haben die Studenten im Seminar von Hans Möller und seiner Assistenten gelernt.
Mit diesem wissenschaftlichen Hintergrund kam ich 1968 als Ghostwriter ins Bundeswirtschaftsministerium in Bonn und traf dort auf lauter Ökonomen mit einem ähnlichen wissenschaftlichen Hintergrund wie dem von Heiner Flassbeck. Mein damaliger Chef, der Professor Dr. Karl Schiller, also Hochschullehrer, bevor er Bundeswirtschaftsminister geworden war, hatte eine Vorstellung von Ökonomik, die jener von Heiner Flassbeck glich. Das Gleiche galt für seine Mitarbeiter – für den Staatssekretär Schöllhorn zum Beispiel, den Grundsatzreferenten und späteren Staatssekretär Hans Tietmeyer, den Abteilungsleiter Schlecht, den Abteilungsleiter „Währung“ Wilhelm Hankel usw. Sie alle hätten vermutlich keinen Anstoß an dem Buchtitel von Heiner Flassbeck genommen.
Der von mir angemahnte Teil der Wissenschaft von der Ökonomie ist keine neue Entdeckung. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts haben sich Ökonomen damit beschäftigt, konkret zum Beispiel der Italiener Vilfredo Pareto. Nach ihm ist auch ein Werkzeug dieser Debatte benannt: „Pareto-Optimum“. Zur Zeit meines Studiums dieses Teils der Ökonomie gab es zudem ein einschlägiges interessantes und wichtiges zweibändiges Werk eines britischen Ökonomen zum Thema: „Trade and Welfare“ von James E. Meade.
Die uns während meines Studiums verordnete Lektüre dieses Werkes war hilfreich auch für die später anstehende politische Debatte und Entscheidungsfindung. So war die wirtschaftspolitische Diskussion im Wahljahr 1969 markant geprägt von einem Disput zwischen dem Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller und dem Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß. Dabei ging es um die Korrektur des Kurses der im Vergleich zum Dollar unterbewerteten D-Mark. Die Entscheidung über Währungsrelationen lag damals noch in den Händen der Regierung, im konkreten Fall in den Händen des Bundeswirtschaftsministers, der 1969 auch für Währungsfragen zuständig war.
Hätte dieser damals in traditionellen Denkweisen gedacht, dann hätte er sich über die hohen Zahlungsbilanzüberschüsse unseres Landes freuen dürfen, so wie das sein Kollege und Konkurrent Franz Josef Strauß tat. Aber wer gelernt hatte, welfareökonomisch und damit in realen Größen zu denken, musste zum Schluss kommen, dass bei einer unterbewerteten Währung im damaligen System Realeinkommen, also Wohlfahrt, nach draußen verschenkt wird. Deshalb lautete eine der zusammenfassenden Aussagen in der damaligen Auseinandersetzung zwischen Schiller (SPD) und Strauß (CSU): „Wir verschenken jeden 13. VW“. – Diese Aussage war gegen den Strich des herrschenden monetären Denkens formuliert. Aber die Mehrheit der Zeitgenossen und auch der Wählerinnen und Wähler hat das offenbar und überraschenderweise irgendwie verstanden. Jedenfalls war die Debatte um die Aufwertung der D-Mark einschließlich der erwähnten Botschaften eine von vielleicht vier maßgeblichen Stützen des 1969 stattgefundenen Kanzlerwechsels von Kiesinger (CDU) zu Willy Brandt (SPD).
Die Erkenntnisse der WelfareEconomics fanden dann übrigens auch ihren Niederschlag in den Beratungen einer Steuerreformkommission unter dem Vorsitz von Erhard Eppler und einem entsprechenden Beschluss bei einem Steuerreformparteitag der SPD Ende 1971. Der Beschluss enthält unter Ziffer IX. das Kapitel „Besteuerung umweltfeindlicher Produkte“. Das sollte eine Steuer werden, die einen Ausgleich für die externen Effekte, die external diseconomies, einer Produktion oder einer Dienstleistung darstellen und selbstverständlich auch Einfluss auf die Produktionsrichtung nehmen sollte.
Die Erkenntnisse zu den externen Effekten waren für einige politische Entscheidungen, für Gebote und Verbote in der Umweltpolitik wie auch für Abgaben und steuerliche Regelungen relevant. Der Straßenverkehr ist ja durch Mineralölsteuer und Kfz-Steuer belastet. Der Flugverkehr ist es nicht. Es ist höchste Zeit, dass dieser Sektor einschließlich des militärischen Bereichs für seine externen Effekte bezahlt und dass damit auch wenigstens ein Stückchen einer steuernden Belastung verordnet wird. (Übrigens: Als ich diesen Text am vergangenen Dienstag entwarf, übten über mir NATO-Kampfflugzeuge den Luftkampf – verbunden mit externen Effekten für mich und alle anderen Bürgerinnen und Bürger in meiner Region.)
Die Debatte um die externen Effekte und die Folgen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik liegt schon lange zurück. Ich bin trotzdem darauf zu sprechen gekommen, weil die Abwesenheit dieses Teils der Ökonomie zumindest den Titel eines grundlegenden und guten Buches zur Volkswirtschaftslehre prägen sollte. Der Westend Verlag und sein Autor Heiner Flassbeck täten gut daran, bei einer Neuauflage des Buches den Titel zu ändern und korrekt zu formulieren: „Grundlagen einer relevanten Makroökonomik“.
Titelbild: Buchcover „Grundlagen einer relevanten Ökonomik“ – Westend