Es herrscht „Sozialneid nach unten“: Skrupellos wurde von Politikern, Journalisten und „Experten“ eine Stimmung entfacht, in der man mit möglichst harten Forderungen gegen benachteiligte Bürger Sympathien sammeln kann. Gleichzeitig werden Superreiche aus der Verantwortung entlassen. Die gesellschaftliche Debatte ist völlig aus dem Lot. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Nach dem „starken Anstieg“ in diesem Jahr soll es beim Bürgergeld 2025 eine Nullrunde geben, berichten aktuell Medien. Interessant und bedenklich (inzwischen aber auch nicht mehr überraschend) finde ich, dass mit Bundesarbeits- und Sozialminister Hubertus Heil ein SPD-Minister das offensiv begrüßt mit den Worten:
„Das ist auch richtig so.“
Zum einen könnte der Eindruck entstehen, Heil wolle mit der Äußerung indirekt so tun, als sei die Nullrunde nun aktiv von ihm verfügt worden, was nicht stimmt, wie etwa die Wirtschaftswoche betont. Zum anderen, und das finde ich noch viel bedenklicher, macht Heils Verhalten den Eindruck, als denke er, dass er mit dem Bekenntnis zu Schikanen gegen Bürgergeldempfänger Pluspunkte machen kann – weil die öffentliche Stimmung aktuell erfolgreich von einem „Sozialneid nach unten“ infiziert wurde. Demnach sagt der Sozialforscher Christoph Butterwegge:
„Zudem grassiere in solchen Momenten eine Angst vor dem sozialen Abstieg. Dies führe dazu, dass Angehörige der Mittelschicht auf ärmere Menschen herabschauten, um sich vermeintlich abzusichern, ‚weil man ja zu den Fleißigen gehört und die anderen ihre Armut angeblich selbst verschuldet haben‘. Dieser Mechanismus werde ‚von Politikern bewusst ausgenutzt‘.“
Und leider muss man feststellen: Minister Heil hat recht. In der skrupellos von manchen Politikern, Journalisten und „Experten“ entfachten aktuellen Atmosphäre kann man mit möglichst harten Forderungen gegen Bürgergeldempfänger anscheinend Sympathien bei so manchen Bürgern sammeln, auch (und gerade?) bei solchen, die bestimmt nicht zu den besonders Wohlhabenden gehören.
Im Artikel „Hurra: Schikane gegen Arbeitslose kann weitergehen“ hatten wir bereits 2022 anlässlich der damaligen Debatte um Jobcenter-Sanktionen die Tendenz beschrieben, dass es möglich sei, sich auf dem Rücken von arbeitssuchenden Bürgern erfolgreich profilieren zu können:
„Die Debatte um das Bürgergeld, das Einknicken der Ampel-Koalition und das triumphale Auftreten der Verteidiger von Sanktionen gegen Arbeitslose müssen als Skandal bezeichnet werden. Das Lob vieler Medien und Politiker für das Fortführen eines erniedrigenden Systems gegen in Not geratene Bürger offenbart ein fragwürdiges Bild vom Zusammenleben. Die aktuelle Debatte zeigt: Mit einer Gesellschaft, in der sich Politiker und Journalisten in der nun erlebten Form auf dem Rücken von arbeitssuchenden Bürgern (erfolgreich) profilieren können, stimmt etwas nicht.“
Heute muss noch mehr als damals festgestellt werden: Die Sozialdebatte ist völlig aus dem Lot: Es wurde erfolgreich eine heftige Stimmung gegen Benachteiligte entfacht und ein bizarrer Fokus auf die Gelder gelegt, die zur Herstellung von (gerade so) würdigen Lebensbedingungen genutzt werden sollen. Auch dadurch geraten wieder einmal die Superreichen aus dem Blick und sie bleiben einmal mehr von längst überfälligen Forderungen nach angemessener(!) Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft verschont. Dazu hatten wir 2023 im Artikel „Milde für Milliardäre, Härte beim Bürgergeld“ geschrieben:
„Superreiche wurden bei keiner der hausgemachten ‚multiplen Krisen‘ bisher angemessen in die Verantwortung genommen – nicht bei Corona, Ukraine, Klima. Bestehende Vorstöße zu Einmalzahlungen oder erhöhter Reichensteuer bleiben noch ungenügend. Bescheidener Wohlstand soll nicht diffamiert werden. Aber auch bei der akuten Haushaltskrise gelingt es wieder, vom Offensichtlichen abzulenken: Dass das Geld bei den obszönen Krisen-Profiten zu holen wäre. Das hat nichts mit Neid zu tun.“
Die Heuchelei der Ampel
Nimmt man die SPD über Gebühr in Schutz, wenn man Teile ihrer Sozialpolitik verteidigt? Nein. Aber: Die sozialpolitischen Forderungen von SPD und Grünen, die gegen die Angriffe von FDP und CDU zu verteidigen sind, bleiben Heuchelei, wenn beide Parteien gleichzeitig eine massive Militarisierung vorantreiben und so viel Geld für Rüstung und einen ideologischen und wirkungslosen Wirtschaftskrieg ausgeben wollen, dass der zu teilende gesellschaftliche Kuchen extrem zusammenschrumpft.
Zu staatlichen Hilfen zum würdigen Leben für benachteiligte Bürger gibt es keine Alternative. Zwar kann über die jeweilige Höhe trefflich gestritten werden und es muss auch festgestellt werden, dass das Thema stark den Bereich der Flüchtlingspolitik betrifft. Zurückzuweisen ist aber das Argument mit dem Lohnabstand: Dieser Abstand muss selbstverständlich durch höhere Löhne hergestellt werden und nicht durch ein Absenken des Bürgergeldes.
Vorwerfen muss man der Ampelregierung unter vielem anderen, dass sich durch ihr Handeln auf den Gebieten Wirtschaftskrieg, Flüchtlingspolitik und „klimapolitische“ Schocktherapien der Kreis der Bürgergeldempfänger potenziell und zukünftig nochmals stark vergrößern könnte – unter anderm auch durch die Verlängerung des Ukrainekriegs und die folgenden Fluchtbewegungen. Aber darum sollte man nicht das Bürgergeld selber diffamieren.
Die Forderung, „Die Ampel muss weg!“, ist angesichts der auf zahlreichen Gebieten abzulehnenden Politik der Bundesregierung absolut richtig. Gleichzeitig greift die Losung aber zu kurz, wie wir im Artikel „Die Ampel muss weg? Ja! Und dann?“ beschrieben haben – gerade auf steuerrechtlichem und sozialpolitischem Gebiet könnten andere Konstellationen noch problematischer agieren.
Dazu kommt, dass manche der aktuellen Analysen von konservativer Seite meiner Meinung nach daran kranken, dass sie den für Deutschland selbstzerstörerischen Russenhass der Ampel teilen und dadurch unterschlagen, dass ohne Rückkehr zur russischen Energie, ohne eine neue europäische Entspannungspolitik und ohne diplomatische Offensiven zur Verringerung der Rüstungskosten alle Bemühungen der Stabilisierung der deutschen Wirtschafts- und Sozialsysteme nur ein oberflächliches Doktern am Symptom bleiben müssen, wie im Artikel „Russisches Gas – jetzt: Alles andere ist doch nur Theater“ beschrieben wird.
Wer ist hier der „Sozialbetrüger“?
Immer wieder muss angesichts der Haushaltsdebatten auch festgestellt werden, dass die „multiplen Krisen“, die die Regierung zur Rechtfertigung ihrer katastrophalen Bilanz und indirekt zur Rechtfertigung von gesellschaftlichen Kürzungen ins Feld führt, selber hergestellt sind: Es war nicht das Virus, es war die unangemessene politische Reaktion auf das Virus, die viele Bürger auch wirtschaftlich hart getroffen hat und deren Folgen die Gesellschaft heute noch tragen muss. Es ist nicht zuerst der Ukrainekrieg, der die Bürger hierzulande belastet, sondern vor allem die politische Reaktion darauf (Kriegsverlängerung, Aufrüstung und wirkungsloser Wirtschaftskrieg). Es ist nicht zuerst die Klimakrise, die die Menschen (zumindest hierzulande) ärmer macht, sondern eher die hiesige politische Reaktion darauf. Daran ändert auch die aggressive Meinungsmache der Bundesregierung und der sie unterstützenden Journalisten nichts.
Sozialer Ausgleich für benachteiligte Bürger darf meiner Meinung nach nicht verächtlich gemacht werden. Gegen diesen Ausgleich in der aktuell erlebten Form Stimmung zu machen, empfinde ich als skrupellos und gegen die Gesellschaft gerichtet. Missbrauch wird es auch im Sozialsystem immer geben, aber das rechtfertigt keinen Generalverdacht – und außerdem: Vergleicht man den dadurch entstehenden Schaden mit den Unsummen, die der Gesellschaft durch nicht erhobene, nicht durchgesetzte oder „vermiedene“ Steuerzahlungen der Superreichen entgehen, so wird deutlich, welche Gruppe hier tatsächlich „Sozialbetrug“ begeht.
Titelbild: pathdoc / Shutterstock