Wie das russische Establishment das Ende des Krieges wirklich sieht

Wie das russische Establishment das Ende des Krieges wirklich sieht

Wie das russische Establishment das Ende des Krieges wirklich sieht

Ein Artikel von Anatol Lieven

Ein Einblick in das, was Russland von einem Waffenstillstand mit der Ukraine erwartet – und was nicht. Seit einiger Zeit diskutieren westliche Politiker und Experten sowie die breite Öffentlichkeit darüber, wie der Krieg in der Ukraine beendet werden sollte. Ich kann bestätigen, dass die gleiche Art von Gesprächen auch in Russland stattfindet. Ein Beitrag von Anatol Lieven, dem Direktor des Eurasien-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Aus dem Englischen übersetzt von Éva Péli.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, unter Wahrung der Vertraulichkeit mit einer Vielzahl von Mitgliedern des russischen Establishments zu sprechen, darunter ehemalige Diplomaten, Mitglieder von Thinktanks, Wissenschaftler und Geschäftsleute sowie einige Mitglieder der breiten Öffentlichkeit. Ihre Vorstellungen über den Krieg und die Form seines möglichen Endes sollten im Westen und in der Ukraine selbst besser verstanden werden.

Nur eine kleine Minderheit war der Ansicht, dass Russland einen vollständigen Sieg in der Ukraine anstreben sollte, einschließlich der Annexion großer neuer Gebiete des ukrainischen Territoriums oder der Errichtung eines Klientelregimes in Kiew. Eine große Mehrheit sprach sich für einen baldigen Waffenstillstand aus, der sich in etwa an den bestehenden Kampflinien orientiert. Es besteht große Zuversicht, dass das ukrainische Militär niemals in der Lage sein wird, die verlorenen Gebiete der Ukraine in nennenswertem Umfang zurückzuerobern.

Die meisten meiner Gespräche fanden vor dem ukrainischen Einmarsch in die russische Provinz Kursk statt. Soweit ich erkennen kann, hat dieser ukrainische Erfolg jedoch nichts an den grundlegenden russischen Berechnungen und Ansichten geändert – nicht zuletzt deshalb, weil die russische Armee zur gleichen Zeit weiter östlich im Donbass erhebliche Fortschritte gemacht hat, wo die Russen sich der Schlüsselstadt Pokrowsk nähern. „Der Angriff auf Kursk kann der Ukraine vielleicht zu etwas besseren Bedingungen verhelfen, aber nicht zu einem echten Sieg“, so ein russischer Sicherheitsexperte, der dann ergänzte:

„Sie werden sich früher oder später aus Kursk zurückziehen müssen, aber wir werden uns niemals von der Krim und dem Donbass zurückziehen.“

Der ukrainische Einmarsch in Kursk ist für Putins Regierung zweifellos eine große Blamage. Er kommt zu einer langen Reihe anderer peinlicher Fehlschläge hinzu, angefangen bei der erschreckend schlechten Planung der ersten Invasion. Und unter den informierten russischen Eliten habe ich kaum das Gefühl, dass der russische Präsident Wladimir Putin als militärischer Führer wirklich respektiert wird – im Gegensatz dazu findet die wirtschaftliche Leistung der Regierung, die sich den westlichen Sanktionen widersetzt und die russische Industrie für den Krieg wieder aufgebaut hat, weitaus mehr Zustimmung.

Ein wichtiger Grund für den Wunsch meiner Gesprächspartner nach einem Kompromiss war jedoch, dass sie der Meinung waren, dass Russland nicht versuchen sollte und wahrscheinlich auch nicht könnte, ukrainische Großstädte wie Charkiw mit Waffengewalt einzunehmen. Sie verwiesen auf die lange Dauer, die hohen Verluste und die enormen Zerstörungen, die die Einnahme selbst kleinerer Städte wie Bakhmut angesichts des starken ukrainischen Widerstands mit sich brachte. Alle ländlichen Gebiete in der Provinz Charkiw, die eingenommen werden können, sollten daher nicht als Beute, sondern als Verhandlungsgrundlage in künftigen Verhandlungen betrachtet werden.

Hinter dieser Haltung steht die Überzeugung, dass der Aufbau einer russischen Armee, die groß genug wäre, um einen solchen vollständigen Sieg zu erringen, eine massive neue Einberufungs- und Mobilisierungsrunde erfordern würde – was möglicherweise zu der Art von Volkswiderstand führen würde, wie er jetzt in der Ukraine zu beobachten ist. Die Regierung war darauf bedacht, die Einberufung von Menschen aus Moskau und St. Petersburg zu vermeiden und Soldaten aus ärmeren Gegenden hohe Gehälter zu zahlen. Beides wäre bei einer Vollmobilisierung nicht mehr möglich.

Zum Teil aus demselben Grund wurde die Vorstellung, über die Ukraine hinauszugehen, um einen künftigen Angriff auf die NATO zu starten, von allen mit Spott abgetan. Mir wurde gesagt:

„Sehen Sie, der ganze Sinn all dieser Warnungen an die NATO bestand darin, die NATO davon abzuhalten, sich dem Kampf gegen uns in der Ukraine anzuschließen, weil dies mit schrecklichen Gefahren verbunden ist. Warum in Gottes Namen sollten wir selbst die NATO angreifen und diese Gefahren auf uns lenken? Was könnten wir uns davon versprechen? Das ist absurd!“

Andererseits erklärten alle Personen, mit denen ich gesprochen habe, dass es keinen Rückzug aus den von Russland gehaltenen Gebieten in den vier ukrainischen Regionen geben könne, die Moskau annektiert hat. Eine Mehrheit schlug vor, dass alle Gebiete in anderen Provinzen wie Charkiw an die Ukraine zurückgegeben werden könnten, wenn sie im Gegenzug entmilitarisiert würden. Dies würde dazu beitragen, einen Waffenstillstand zu garantieren, und Putin könnte zudem behaupten, er habe die Sicherheit der angrenzenden russischen Provinzen gewährleistet, die in den letzten Monaten unter ukrainischem Beschuss standen. Einige optimistischere Russen waren der Meinung, dass es möglich sein könnte, Territorium in Charkiw gegen Territorium in den vier Provinzen zu tauschen, von denen derzeit keine vollständig von Russland besetzt ist.

Ich fand dieses Meinungsbild unter den Menschen, mit denen ich sprach, als Gesamtbild recht plausibel, da es im Großen und Ganzen den Ansichten der russischen Öffentlichkeit entspricht, wie sie in Meinungsumfragen von Organisationen zum Ausdruck kommen, die sich in der Vergangenheit als zuverlässig erwiesen haben. So waren in einer Umfrage des Levada-Zentrums im vergangenen Jahr, die vom Chicago Council on Global Affairs finanziert wurde, die Zahl der Befragten in ihrem Wunsch nach sofortigen Friedensgesprächen und in ihrer Ablehnung einer Rückgabe der annektierten Gebiete an die Ukraine genau gleich (62 Prozent).

Unter meinen Gesprächspartnern gab es keine Meinungsverschiedenheiten in der Frage der ukrainischen Neutralität, die von allen als wesentlich bezeichnet wurde. Es hat jedoch den Anschein, dass Teile des russischen Establishments ernsthaft darüber nachdenken, wie eine Friedensregelung ohne formale westliche Militärgarantien und -lieferungen an die Ukraine gesichert werden könnte. Daher die weithin diskutierten Ideen eines Friedensvertrags, der vom UN-Sicherheitsrat und den BRICS-Staaten ratifiziert wird, und breiter entmilitarisierter Zonen, die von einer UN-Truppe gesichert werden.

Ein führender russischer außenpolitischer Analytiker sagte mir:

„Im Westen scheint man zu glauben, dass nur militärische Garantien etwas bringen. Aber auch politische Faktoren sind entscheidend. Wir haben enorme diplomatische Anstrengungen unternommen, um unsere Beziehungen zum globalen Süden auszubauen, der sicherlich keinen neuen Krieg will. Glauben Sie, dass wir, wenn wir ein Friedensabkommen bekommen könnten, das unseren grundlegenden Anforderungen entspricht, all das wegwerfen würden, indem wir einen Krieg beginnen?“

Die meisten sagten, wenn der Westen in den Verhandlungen den wichtigsten russischen Forderungen zustimme, werde Russland andere zurückschrauben. So sagten einige zu der russischen Forderung nach einer „Entnazifizierung“ der Ukraine, dass Russland immer noch eine „befreundete“ Regierung in Kiew anstreben sollte. Dies scheint der Code für einen Regimewechsel zu sein, da es sehr schwer vorstellbar ist, dass eine frei gewählte ukrainische Regierung für eine sehr lange Zeit Russland freundlich gesinnt sein wird.

Eine große Mehrheit sprach sich jedoch dafür aus, dass Russland sich mit der Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot von Neonazi-Parteien und -Symbolen nach dem Vorbild einer Klausel des österreichischen Staatsvertrags von 1955 begnügen sollte, wenn die russischen Bedingungen in anderen Bereichen erfüllt würden. Meine russischen Gesprächspartner verwiesen in diesem Zusammenhang auf die Bestimmungen des Staatsvertrags über die Beschränkung bestimmter Kategorien österreichischer Waffen und über die Minderheitenrechte – im Falle der Ukraine die sprachlichen und kulturellen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung.

In einem wichtigen Punkt war man sich einig: Dass es keinerlei Chance auf eine internationale formale und rechtliche Anerkennung der russischen Annexionen ukrainischen Territoriums gibt und dass Russland nicht darauf drängen wird. Es wurde eingräumt, dass dies nicht nur von der Ukraine und dem Westen abgelehnt würde, sondern auch von China, Indien und Südafrika, die die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 nicht anerkannt haben.

Es besteht daher die Hoffnung, dass im Rahmen einer Friedensregelung die Frage des Status dieser Gebiete auf endlose zukünftige Verhandlungen verschoben wird (wie die ukrainische Regierung im März 2022 in Bezug auf die Krim vorschlug), bis sie schließlich von allen vergessen wird. Das Beispiel der (nicht anerkannten, aber praktisch unangefochtenen) Türkischen Republik Nordzypern wurde erwähnt. Das bedeutet, dass die Ukraine nicht öffentlich aufgefordert würde, diese Gebiete „aufzugeben“, sondern lediglich anzuerkennen, dass es unmöglich ist, sie mit Gewalt zurückzuerobern.

Letztendlich wird die Verhandlungsposition Russlands natürlich von Putin bestimmt, mit dem ich nicht gesprochen habe. Seine öffentliche Position wurde in seinem „Friedensvorschlag“ am Vorabend des „Friedensgipfels“ des Westens in der Schweiz im Juni dargelegt. Darin bot er einen sofortigen Waffenstillstand an, wenn die Ukraine ihre Streitkräfte aus den restlichen ukrainischen Provinzen, die Russland für sich beansprucht, zurückzieht und verspricht, keine Aufnahme in die NATO zu beantragen.

Oberflächlich betrachtet ist dies lächerlich. Die Ukraine wird die Städte Cherson und Saporischschja niemals freiwillig aufgeben. Putin hat jedoch nicht gesagt, dass Russland diese Gebiete dann besetzen wird. Dies lässt die Möglichkeit offen, dass Putin ein Abkommen akzeptieren würde, bei dem diese Gebiete entmilitarisiert, aber unter ukrainischer Verwaltung stünden und ihr Status – wie der der russisch besetzten Teile der Provinzen Cherson und Saporischschja – Gegenstand künftiger Verhandlungen sein würde.

Niemand, mit dem ich in Moskau sprach, behauptete, mit Sicherheit zu wissen, was Putin denkt. Man war sich jedoch einig, dass er zwar zu Beginn des Krieges schreckliche Fehler gemacht hat, aber ein Pragmatiker ist, der in der Lage ist, militärische Ratschläge anzunehmen und die militärische Realität anzuerkennen. Als russische Generäle ihn im November 2022 darauf hinwiesen, dass der Versuch, die Stadt Cherson zu halten, eine militärische Katastrophe zur Folge haben könnte, ordnete er den Rückzug an, obwohl Cherson in einem Gebiet lag, das Russland besetzte und für sich beanspruchte, annektiert zu haben, und außerdem Russlands einziger Brückenkopf westlich des Dnipro-Flusses war. Der Verlust von Cherson hat die russischen Hoffnungen, Odessa und den Rest der ukrainischen Küste einnehmen zu können, erheblich geschmälert.

Doch auch wenn Putin das jetzt akzeptieren könnte und als Kompromiss betrachten würde, sagten alle, mit denen ich in Moskau gesprochen habe, dass die russischen Forderungen davon abhängen werden, was auf dem Schlachtfeld geschieht. Wenn die Ukrainer in etwa ihre bisherige Linie halten können, dann wird ein möglicher Waffenstillstand entlang dieser Linie verlaufen. Wenn die Ukrainer jedoch zusammenbrechen, dann warten, in den Worten eines russischen Ex-Soldaten, „Peter und Katharina immer noch“ – Peter der Große und Katharina die Große haben zusammen das gesamte Gebiet der heutigen Ost- und Südukraine für Russland erobert.

Dieser Artikel erschien im englischen Original bei Foreign Policy.

Titelbild: Shutterstock / Tomasz Makowski

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