Künstler als außerparlamentarische Opposition

Künstler als außerparlamentarische Opposition

Künstler als außerparlamentarische Opposition

Ein Artikel von Éva Péli

Wer der Cancel Culture zum Opfer fällt, flieht in eine alternative Kulturszene. Die wächst seit der Corona-Krise recht schnell. So haben sich in der Kulturbranche parallele Strukturen herausgebildet. Von ihnen erzählt das Buch von Eugen Zentner mit dem Titel „Kunst und Kultur gegen den Strom“. Eine Rezension von Éva Péli.

„Dass eine offene Gesellschaft ‚Feinde‘ hat, die es zu bekämpfen gilt, ist seit Karl Popper kein Paradox mehr, sondern ein Glaubenssatz, der vor allem dort heruntergebetet wird, wo man etwas zu verlieren hat.“

Das schreibt der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen in seinem Buch „Cancel Culture – Wie Propaganda und Zensur Demokratie und Gesellschaft zerstören“. „Olaf Scholz“, so Meyen weiter, „hat diese Feinde in seiner ersten Regierungserklärung rechts gefunden und die Jagd auf eine kleine extremistische Minderheit eröffnet, die sich angeblich von unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, unserem Gemeinwesen und unserem Staat abgewandt hat und ‚nicht nur von Wissenschaft, Rationalität und Vernunft.‘“

Dieser Jagd setzt sich kritische, unangepasste Kultur entgegen. Deren Vertretern, der alternativen Kulturszene, die inzwischen „einen stattlichen Umfang“ hat, widmet der Literaturwissenschaftler und Journalist Eugen Zentner ein Buch – „eine fulminante Einführung in einen Bereich der außerparlamentarischen Opposition, in dem die Akteure Gegenöffentlichkeit mit den Mitteln der Kunst betreiben“, wie es Meyen bewertet.

Laut Zentner muss die kritische Kunst im öffentlichen Raum präsent sein, um ein Gegengewicht zu bilden. Sie dürfe das Feld nicht der „Cancel Culture“ überlassen, sonst werde die Kunst insgesamt öde und langweilig. Sie verliere ihre gesellschaftliche Funktion als Korrektiv und verkomme zum Propagandainstrument, das den Geist der Aufklärung narkotisiert.

Auf 180 Seiten ehrt Zentner die „außerparlamentarische Opposition“ (APO) in der Kunst, von Kabarettisten, Musikern über Fotografen und Karikaturisten bis zu Schriftstellern und Poeten und ihre Werke. Einige von ihnen sind gestandene Künstler mit jahrzehntelanger Erfahrung, andere entdeckten die Kunst erst mit dem Ausbruch der sogenannten Corona-Pandemie beziehungsweise mit den ersten Anti-Corona-Maßnahmen und den damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen.

„Wer durchblicken ließ, mit der Maßnahmenpolitik nicht einverstanden zu sein, wurde medial zerrieben“, so Zentner.

Hoffnungsvoller Widerstand

Im Laufe der Zeit sind neben den Corona-Maßnahmen der Ukraine-Krieg und andere neue Themen in den Werken der Künstler hinzugekommen. Der Autor kritisiert hier auch die Leitmedien: „Mit Propagandanarrativen und Schmähartikeln verengten sie den Meinungskorridor und warben zugleich für Waffenlieferungen.“

So richten sich die Songs der alternativen Hip-Hop-Szene unter anderem gegen die Politik der Ampel-Regierung und deren negative Folgen für breite Bevölkerungsteile. Die Rapper E1F und Illstar antworteten mit dem Album „Heilige Pflicht“ auf die politisch angestoßene Debatte um die Kriegstüchtigkeit. Eine markante Zeile lautet: „Sie schüren den Krieg im Namen des Friedens“.

Das Hip-Hop-Kollektiv „Rapbellions“ verarbeitet laut Zentner in seinen Songs die Zensurerfahrungen, kommentiert das Zeitgeschehen, thematisiert brisante Fälle politischer Verfolgung und verbreitet Hoffnung und Mut, so in dem Track „Es geht vorbei“, der an die positiven Dinge im Leben erinnert.

Das Buch ist auch als Nachschlagewerk zu empfehlen. Die genauen Beschreibungen der Tätigkeit der einzelnen Künstler und die Hinweise auf ihre Werke laden auf eine Abenteuerreise durch die Szene ein. Sie geben einen Blick in die Herausforderungen für die Künstler, die durch „das Fegefeuer“ der Corona-Maßnahmen gegangen sind.

An manchen Stellen erübrigt es sich das eine oder andere Mal, zu schreiben: „Wenn Kabarettisten heute im Fernsehen auftreten, dürfen sie den Raum des Sagbaren nicht verlassen.“ Oder: „Wer in seinen Gags von den herrschenden Narrativen abweicht, bekommt Schwierigkeiten.“ Ähnliche Äußerungen ziehen sich durch das gesamte Buch hindurch, was nicht bedeutet, dass es dadurch inhaltlich weniger bedeutend ist.

Vielleicht will Zentner damit seine Solidarität mit den Künstlern zeigen und ausdrücken, dass es wichtig sei, dass sie Widerstand leisten und unterstützt werden sollen, wenn wir in einer freien Gesellschaft leben wollen, wo Meinungsfreiheit nicht nur im Grundgesetz steht. Oder so wird vielleicht seine Empörung darüber untermalt, dass es so weit kommen konnte und dass es immer noch nicht aufhört.

Notwendiges Lachen

Der Irrsinn der Corona-Zeit ist ohne Zäsur in den Irrsinn des Ukraine-Krieges übergegangen. In beiden Fällen spielen die Angst und die Manipulation damit eine zentrale Rolle. Dagegen hilft laut dem Autor „Lachen“. So beginnt er das Buch mit der Vorstellung der unangepassten Kabarettisten. „Für uns Kabarettisten ist es Therapie, wenn wir die Ereignisse mit Humor verarbeiten“, zitiert Zentner Martin Großmann. „Dann ist es auch nicht mehr so schwer, sie zu ertragen – und für die Zuschauer auch nicht.“

Der Liedermacher Tino Eisbrenner sagte kürzlich in einem Interview mit den NachDenkSeiten:

„Natürlich war das kein Zufall, dass die Politik in der Corona-Krise zuerst die Kunst ausgeschaltet und damit die Räume geschlossen hat, in denen Diskurs stattfindet. Man hat ja die Kunst auch viel länger im Lockdown gelassen als zum Beispiel den Sport, wo niemand spricht, sondern alle nur brüllen, ob das Tor fällt oder nicht. Dort, wo gesprochen wird, wo Denken und Bildung gefördert werden, nämlich in den Räumen der Kunst, da hat man als Erstes geschlossen und als Letztes erst wieder aufgemacht, aus Angst, es könnte ein Widerstand entstehen oder mindestens ein Widerspruch.“

Zentners Buch ist der Beweis dafür, dass der Widerstand nicht erstickt wurde und die alternative Kulturszene in den letzten Jahren stark gewachsen ist. Der Autor bittet aber die Leserinnen und Leser, die Künstler weiter zu unterstützen.

Genres wie Kabarett, Comic und andere weisen auf die Schieflagen in der Gesellschaft hin und entblößen die Machenschaften der Eliten. Doch, das stellt Zentner auch klar, in Zeiten wie heute genügt es schon, die Geschehnisse unverändert zu schildern, absurder gehe es oft nicht.

Der Kabarettist Ludger K. betont, „die Menschenwürde absprechen, das geht im Kabarett überhaupt nicht“. Deshalb greife er auch nicht jede sich bietende Pointe auf, auch wenn Karl Lauterbach oder Annalena Baerbock genügend Stoff dazu liefern. Ludger K. habe eine eigene Sendung beim Online-Radio Kontrafunk bekommen, so der Autor. Ein roter Faden seiner Auftritte bestehe darin, Nachrichten eins zu eins vorzutragen, „weil man sie satirisch nicht überhöhen kann“. Als Beispiel wird dazu der Hinweis genannt, dass eine Beratung für Hörgeschädigte nur noch telefonisch stattfinde.

Zentner zeugt von seinen profunden Kenntnissen der alternativen Kunstszene mit ihren unterschiedlichsten Facetten: ob es um Kabarett, Musik, bildende Kunst oder Literatur geht. Das unterstützt auch die Sprache, wenn er zum Beispiel zu einem Song der Band „Alien´s Best Friend“ schreibt: „Die Wiederholungen korrespondieren mit einem Sound, der sich aus Electro-Sequenzen, zerhäckselten Samples und tiefgestimmten Gitarren zusammensetzt. Der Song kommt rockig daher und drückt textlich wie musikalisch die Fassungslosigkeit der Band aus.“

Schonungslos mit Angepassten

Er ist auch Journalist, hat früher für die Nachrichtenagentur dpa gearbeitet und ist seit Anfang der Corona-Zeit für die sogenannten alternativen Medien tätig. Der Autor kennt also die andere Seite der Medaille. Umso schonungsloser ist er mit Kritik an Künstlern: „Statt die Regierung dafür zu kritisieren, dass die Grundrechte außer Kraft gesetzt worden waren, redeten sie ihr nach dem Mund.“ Solche „Künstler“ sind zum Beispiel die Staatssatiriker wie Jan Böhmermann, Oliver Welke und Florian Schroeder, die unter Beifall über „Corona-Leugner“ oder „Impfgegner“ herziehen und problemlos Tatsachen verdrehen durften.

Enttäuscht zeigt sich Zentner von Wolf Biermann, einem der bekanntesten Liedermacher der deutschen Nachkriegszeit. Biermann trat vor Corona über Jahrzehnte als Liedermacher der Freiheit auf. Als diese ihn nach den massiven Grundeinschränkungen am dringendsten gebraucht hätte, stellte er sich auf die Seite der autoritären Politik und brach den Kontakt zu Mitstreitern ab, die diese kritisierten.

Auf seinem Blog veröffentlicht Zentner Rezensionen und Berichte über Neuerscheinungen und Kulturveranstaltungen. Die Kurzgeschichten-Reihe „Corona-Schicksale“ leistet Krisenaufarbeitung in literarischer Form, indem sie menschliche Abgründe, politische Willkür und furchtbares Leid der Maßnahmenzeit thematisiert.

In dem Band „Kunst und Kultur gegen den Strom“ schreibt der Autor mit viel Respekt und Anerkennung von denen, die in solchen widrigen Zeiten aktiv geblieben sind und sich gegen den Wind gestellt haben: die „Helden“ unserer Zeit sozusagen. Der ungarische Schriftsteller und Journalist Kepes András zitiert eine alte Weisheit, die an dieser Stelle gut passt: „Arm sind die Nationen, die keine Helden haben, aber arm ist auch die Nation, die Helden braucht.“

Als einer der kritischen Künstler wird Jens Fischer Rodrian erwähnt. Der Berliner Musiker und Lyriker empfand die Grundrechtseinschränkungen, die folgende Diffamierung Andersdenkender und die zunehmende Cancel Culture als einen derartigen Urknall, dass er – wie auch andere Künstler – seitdem politischere Musik produziert als früher.

Präsent gegen den Strom

Aber auch solche Größen wie Lisa Fitz und Uwe Steimle haben den Leitmedien den Rücken gedreht und sind trotzdem in der Öffentlichkeit geblieben, sie haben den Weg zu ihrem (neuen) Publikum gefunden.

„Man hat den Eindruck, dass Fitz heute mehr wagt als damals beim SWR. Der Druck der Sprachregeln scheint abgefallen zu sein. Wer sich ihre Beiträge für die NachDenkSeiten anschaut, erkennt sofort, dass die Kabarettistin im alternativen Bereich das wiedergefunden hat, was im Rampenlicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht mehr existiert: Kunstfreiheit.“

Zentners Buch ist also nicht nur als ein Dank an all jene zu verstehen, die in der künstlerischen APO wach geblieben sind, sondern auch als eine Würdigung ihrer Arbeit. Es ist ein Fundus für alle, die sich für die Szene interessieren. Und es ist auch „Therapie“ für diejenigen, die durch die Corona-Zeit und die Zeit danach auf irgendeine Weise diskriminiert wurden und die sich dem Mainstream nicht mehr zugehörig fühlen können. Zugleich ist es eine Ermutigung für Künstler, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Der Autor selbst gesteht am Ende seines Buches ein, dass es nicht möglich war, jede und jeden Einzelnen zu erwähnen, und dass er es vorhat, das in einem späteren, noch umfangreicheren Buch zu tun. Leider fand ich in der vorliegenden Ausgabe zum Beispiel den Namen von Boris Steinberg nicht, der seit über 30 Jahren die Berliner Kleinkunstszene vor allem als Chansonsänger geprägt hat. Mit seinen Auftritten im „SalonG ChanGsonG ohne Gs“ engagierte sich Steinberg mutig gegen die Ausgrenzung der Ungeimpften und Corona-Maßnahmen-Kritiker, auch bei der Initiative #allesdichtmachen. Aber das lässt sich sicher bei der nächsten Auflage korrigieren.

Das Buch erschien im Masselverlag, der eine Reihe unter dem Motto „The Great We Set“ ins Leben gerufen hat. Sie widmet sich der Gegenöffentlichkeit, die sich in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens formiert hat.

Das Werk ist auch die Dokumentation dessen, was in den Jahren seit 2020 passiert ist und was diese unfassbare „Zeitenwende“, die spätestens dann und nicht erst mit der Rede von Olaf Scholz im Februar 2022 begonnen hat, mit dem Leben – ob privat, beruflich oder künstlerisch – gemacht hat. Viele (Künstler)Schicksale bleiben für immer mit der Zeit verbunden.

Was Zentner zusammengetragen hat, kündet auch von Hoffnung und Optimismus, dass die Kraftanwendung auch Früchte bringt. Und wenn man in der rauen Zeit nicht allein ist, sind zumindest die Hindernisse und die Widerstände besser auszuhalten – oder ist vielleicht auch mehr möglich?

Eugen Zentner: „Kunst und Kultur gegen den Strom. Unangepasst. Mutig. Verbindend.“ Massel Verlag 2024, 224 Seiten, ISBN 9783948576110, 21,50 Euro

Titelbild: Buchcover – masselverlag.de