Wenn Politik den Bezug zur Realität verliert, ist Gefahr im Verzug. Gefahr ist im Verzug, denn die Politik hat den Bezug zur Realität verloren. Gerade hat die Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Britta Haßelmann einen Tweet verfasst, der den Eindruck entstehen lässt, Weltpolitik sei ein Spiel im Sandkasten – oder auf einem Ponyhof. Raten möchte man ihr: Raus aus dem Sandkasten, weg vom Ponyhof. Doch die Uneinsichtigkeit auf politischer Ebene ist längst im Takt mit dem allgemeinen politischen Realitätsverlust. Die Ignoranz gegenüber dem Außen ist beträchtlich. Und so gewinnt das Drama an Geschwindigkeit. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
Glaubt der Kapitän eines Jumbos, dass er Captain Kirk ist und der Flug mit seinem Flugzeug einem Videospiel gleicht, bei dem ein Neustart jederzeit möglich ist, kann akute Lebensgefahr für die Passagiere nicht ausgeschlossen werden. Ein solcher Pilot würde sofort aus dem Dienst entfernt werden. Vom „Dienst“ ausschließen, das wäre dringend auch im Hinblick auf Teile des Parlaments notwendig. Auf der politischen Kommandobrücke Deutschlands herrscht ein Zustand, der an Anarchie erinnert. Karl Lauterbach kann schalten und walten, wie er will. Nancy Faeser darf Tag für Tag der erstaunten Republik ihr Rechtsverständnis offenbaren, während Habeck ohne Konsequenzen von seinem Chef der Öffentlichkeit erklären darf, dass ein insolventer Betrieb gar nicht insolvent ist – oder so ähnlich, oder irgendwie. Was nun wer vonseiten der Regierung auf welche Weise sagt oder nicht sagt, meint oder nicht meint, wird ohnehin von Sekunde zu Sekunde im Meer der Beliebigkeit in sein Gegenteil verkehrt. Politik im Chaos, Politik im Realitätsbruch. Und dann ist da auch noch Britta Haßelmann. Russland hat gerade zu einem schweren Luftangriff auf die Ukraine angesetzt – vermutlich eine Vergeltungsmaßnahme für das ukrainische Vorgehen in Russland.
Die Bündnis-Grünenpolitikerin setzt zur Außenkommunikation an.
Wieder schwere Angriffe durch Putins Armee auf zivile Ziele und Energieinfrastruktur in der #Ukraine. Dieser Krieg bedeutet so viel Leid und Zerstörung für die Menschen in der Ukraine. #Putin kann diesen Krieg sofort stoppen. Er muss aufhören zu bomben. #StandWithUkraine https://t.co/ZtUPoH1xlC
— Britta Haßelmann (@BriHasselmann) August 26, 2024
Wer als Leser wohlwollend annimmt, ja, vielleicht sogar geradezu annehmen will, dass diese Zeilen aufgrund ihrer Geistlosigkeit nur von einem Fake-Account stammen, wird enttäuscht. Nein, die Aussagen sind dem offiziellen X-Account der Politikerin entnommen.
„Putin kann diesen Krieg sofort stoppen. Er muss aufhören zu bomben.“ So steht es da. Und vermutlich ist das Gesagte auch genau so gemeint. Es gab eine Zeit, da war es eine Selbstverständlichkeit, von Spitzenpersonal Spitzenleistung in Sachen Problemlösungskompetenz zu erwarten. Schließlich: Deshalb zahlten die Unternehmen/Bürger eine beachtliche Summe an Gehalt. Die Vergangenheitsform zeigt es: Das war mal so. Heute fällt einer Spitzenpolitikerin nach über zweieinhalb Jahren Krieg zur Lösung des „Problems“ nichts anderes ein, als Ignoranz zu kultivieren.
Das erinnert an das Verhalten eines Vierjährigen, der im Sandkasten aus einer Laune heraus zu einem Dreijährigen sagt: „Geh weg!“ Die soziale Beobachtung der sich noch im Entwicklungsstadium der Gattung Mensch befindlichen Kinder zeigt: Nach so einem Satz fliegt zunächst der Sand. Das Eimerchen und das Schippchen folgen zugleich. Der sich anschließenden Rauferei müssen die anwesenden Eltern ein Ende bereiten und ihren Sprösslingen erklären, dass so nicht miteinander umgegangen werden darf.
Anders gesagt: Nach über zweieinhalb Jahren Krieg, bei dem längst Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist für eine deutsche Top-Politikerin die Lösung: „Geh weg, Putin!“ Der Beobachter sieht das – und staunt. Was im Sandkasten schon nicht funktioniert, soll also auf der Bühne der Weltpolitik klappen? Muss man Politikern in Deutschland wirklich sagen, dass Politik kein Sandkasten und auch kein Ponyhof ist? Auf einem imaginierten Ponyhof mag einer kleinen Britta immer ein rosa Pony (wenn gewünscht: mit Einhorn) zur Verfügung stehen, auf dem sie immer nach Belieben in jede Richtung reiten kann. Die Realität ist anders. Die politische Realität des Krieges in der Ukraine umfasst handfeste machtpolitische, geopolitische und tiefenpolitische Interessen bei allen involvierten Parteien. Dieser Krieg hat das Potenzial, die Welt in den Abgrund zu reißen. Aus gewissen Gründen, die weder in einem Sandkasten noch auf einem Ponyhof zu finden sind, hat der Verteidigungsminister Deutschlands Boris Pistorius erst vor Kurzem gesagt: „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ Das heißt: Es geht um viel.
Dessen ungeachtet bietet Haßelmann als „Lösung“ an, was die deutsche Politik, die NATO und zuletzt, oder genauer: zuvorderst auch die USA seit 2014 als Lösung wollen: „Putin, geh weg! Wir nehmen die Ukraine unter unsere Fittiche. Schon ist der Konflikt gelöst.“ Das ist politische Ignoranz im Endstadium.
Die Leittragenden sind nicht nur die Ukrainer, sondern alle, die Frieden wollen. Denn bei derartig massiven politischen Konflikten kann nur eine Diplomatie helfen, die einsieht: Frieden ist nur möglich, wenn für alle Seiten annehmbare Kompromisse gefunden werden. Das ist, leider, etwas schwieriger als ein Spiel im Sandkasten. Dazu gehört unter anderem die Reife, einzusehen, dass auch der Gegenüber berechtigte Interesse haben darf. Der deutschen Politik fehlt diese Reife. Oder ist es gar noch schlimmer? Schließlich: Alt genug ist sie, um über diese Reife zu verfügen. Warum also gewinnt das Drama zunehmend an Geschwindigkeit? Ignoranz und Realitätsverlust erklären vieles, aber nicht alles.
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