Das Jahr 2024 – Teil 2

Das Jahr 2024 – Teil 2

Das Jahr 2024 – Teil 2

Ein Artikel von Rafael Poch-de-Feliu

Gaza, die Ukraine und Eurasien in der Krise des westlichen Niedergangs. Seit dem 24. Jahr des 21. Jahrhunderts hat man das Gefühl, dass die Entwicklungen des Krieges in der Ukraine und des Massakers im Gazastreifen das markieren, was die Russen „vodorazdiel“ (водораздел) bezeichnen, eine „Wasserscheide”, die einen Meilenstein, einen Wendepunkt in der Krise des Niedergangs des Westens und seiner unangefochtenen globalen Dominanz markiert. Von Rafael Poch-de-Feliu, Übersetzung aus dem Spanischen von Walter Tauber.

Lesen Sie auch den ersten Teil des Dreiteilers von Rafael Poch-de-Feliu.

Falscher Abschluss des Kalten Krieges

Der allgemeine Grundsatz, der sich aus der europäischen Geschichte ableiten lässt, ist, dass die Vernachlässigung oder Misshandlung besiegter Großmächte immer katastrophale Konsequenzen hat. Nach den napoleonischen Kriegen bezogen die Sieger das besiegte Frankreich in die Entscheidungsfindung auf dem Wiener Kongress ein, was eine lange Periode des Friedens und der Stabilität auf dem Kontinent einleitete: von 1815 bis 1914, wenn man den Krimkrieg und den französisch-preußischen Krieg nicht mitzählt. Das Gegenbeispiel ist das, was mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und mit dem bolschewistischen Russland nach der Revolution von 1917 geschah. In beiden Fällen hatte die Ausgrenzungspolitik – und im Falle Russlands die militärische Intervention im Bürgerkrieg – verheerende Folgen sowohl für die Entstehung des Nazismus wie auch des Stalinismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden daraus die Lehren gezogen und Deutschland mit Samthandschuhen angefasst, wobei die ursprünglichen Ideen Stalins und des US-Finanzministers Henry Morgenthau, Deutschland zu „zerstückeln” und in ein Agrargebiet zu verwandeln, verworfen wurden.

In Westdeutschland gab es unter anderem keine Entnazifizierung, und die Schulden wurden 1953 erlassen. Das Ende des Kalten Krieges war nicht das Ergebnis einer militärischen Niederlage, sondern ein ungewöhnlicher Fall des bedingungslosen Rückzugs eines der Kontrahenten. Aber in seinem Ausmaß und seinen Folgen für die europäische Landkarte und das globale Gleichgewicht der Kräfte war es mit einer Niederlage vergleichbar – vergleichbar mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Für den Westen war es ein Sieg, ohne einen Schuss abzufeuern. Aus ganz anderen Gründen haben Gorbatschow und Jelzin das Russische Reich aufgegeben. Es war nicht mehr das Reich, das Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg als sowjetischen Block erobert hatte, sondern das von Peter dem Großen und seinen Nachfolgern seit dem 18. Jahrhundert: das Baltikum, das Schwarze Meer und Zentralasien. Die westliche Antwort war in diesem Fall jedoch eine Rückkehr zu dem, wovor uns die europäische Geschichte gewarnt hat, nämlich eine Großmacht von der Entscheidungsfindung auszuschließen und zu ignorieren – sie zu ignorieren, wenn sie sich beschwert und mit Sanktionen und Auflagen zu antworten, wenn sie reagiert. Anstatt die gemeinsame, integrierte kontinentale Sicherheit zu organisieren, die im November 1990 in Paris schriftlich vereinbart wurde, und anstatt die mündlichen Versprechen gegenüber Michail Gorbatschow zu erfüllen, wurde die NATO erweitert, zunächst ohne Russland und dann gegen Russland [28].

All dies war nicht das Ergebnis „historischer Blindheit”, sondern eine ganz bewusste geopolitische Entscheidung der Vereinigten Staaten, die sich die EU zu eigen gemacht hat. Der Grund für das Verhalten der Vereinigten Staaten ist klar und vertraut. Die amerikanische Führungsrolle hängt zum großen Teil von der Aufrechterhaltung der Trennlinien des Kalten Krieges in Europa und Asien ab, wodurch die politisch-militärischen Abhängigkeiten der Verbündeten erhalten bleiben. Die Aufrechterhaltung der Strukturen des Kalten Krieges wie der NATO hing von den anhaltenden Spannungen und Feindseligkeiten ab. Im Februar 1992, mehr als zwei Monate nach der Auflösung der UdSSR, wurde in dem wichtigsten strategischen Dokument der USA, dem Defense Planning Guidance, unter der Ägide von Paul Wolfowitz der Schlüssel zur weltweiten Dominanz der USA allein in der „Verhinderung des Entstehens eines neuen Rivalen”, insbesondere im eurasischen Raum, gesehen. Die Vereinigten Staaten sollten „das Entstehen von ausschließlich europäischen Sicherheitsvereinbarungen verhindern, die die NATO schwächen”, so Wolfowitz. Solche Vereinbarungen hätten unweigerlich zu einer Verschmelzung des wissenschaftlichen und energetischen Potenzials Russlands mit dem technologischen und finanziellen Potenzial Deutschlands und damit der EU geführt. Die Verhinderung eines solchen Zusammenschlusses ist ein genau dokumentiertes und gut bekanntes Ziel der US-Politik in Europa [29].

Die EU-Elite war nicht nur ein passiver Zuschauer, sondern ein aktiver Teil dieses Prozesses. Seit 1993 waren alle Maßnahmen der USA und der EU gegenüber Eurasien darauf ausgerichtet, Russland an den Rand zu drängen und alle von Moskau initiierten postsowjetischen Integrationsprojekte zu zerschlagen: die GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten), Handels- und Zollabkommen, die Euro-Asiatische Wirtschaftsunion oder die Organisation für gegenseitige Verteidigung. Die Energie- und Verkehrskorridore der EU mit Zentralasien dienten dazu, Russland aus dem Weg zu räumen. Im Jahr 1996 startete die EU das Energiekooperationsprogramm INOGATE, das alle ehemaligen UdSSR-Republiken mit Ausnahme Russlands einschloss und Pipelines und Routen zum Kaspischen Meer und nach Zentralasien unter Umgehung des russischen Territoriums vorsah.

Die Instabilität in Afghanistan verhinderte das TAPI-Projekt, eine Pipeline durch Turkmenistan, Afghanistan, Pakistan und Indien, aber die Logik und die Absicht waren dieselbe: die Umgehung Russlands. 1997 starteten die USA und die EU die GUAM-Initiative (Georgien, Ukraine, Armenien und Moldawien), um die Integration der GUS zu untergraben.

Die EU hat sich stets geweigert, diplomatische Beziehungen mit der von Moskau geführten Eurasischen Wirtschaftsunion aufzunehmen, und hat 2009 ihr Programm „Östliche Partnerschaft” ins Leben gerufen, das darauf abzielt, alle ehemaligen Sowjetstaaten, die an verschiedenen Wirtschafts- und Sicherheitsabkommen mit Moskau beteiligt sind, in die westliche Sphäre aufzunehmen. Alle diese Abkommen wurden als unvereinbar mit einer wirtschaftlichen, handelspolitischen und sicherheitspolitischen Angleichung an die EU angesehen, was die Tür für westliche Unternehmen und die NATO endgültig öffnete.

Schon viel früher, im Jahr 1997, gingen einige US-Strategen wie der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski viel weiter und stellten sich vor, Russland in ein „locker konföderiertes Gebilde aus einem europäischen Russland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik” zu verwandeln.

aus Free Nations of Postrussia Forum. Zugriff über: freenationsrf.org/).

Brzezinskis Buch [30] wurde in Moskau viel gelesen, aber warum hat die russische Elite nicht früher militärische Maßnahmen ergriffen? Eine Erklärung ist, dass Russland in den 1990er-Jahren militärisch sehr schwach war. Erinnern wir uns an das Spektakel der 5.000 tschetschenischen Guerillas, die 1994 in Grosny die russische Armee schlugen. Wer in der NATO würde diese Armee ernst nehmen? Aber darüber hinaus gibt es noch eine andere, viel entscheidendere Erklärung für diese militärische Schwäche.

In den 1990er-Jahren konzentrierte sich die russische Elite auf etwas weitaus Wichtigeres: die Plünderung ihres nationalen Erbes mit seinen enormen natürlichen Ressourcen und seinem Reichtum, um ihren historischen Traum zu verwirklichen. Dieser Traum bestand darin, von einer Verwaltungskaste, die diese Ressourcen verwaltete, aber nicht besaß, zu einer „normalen” besitzenden Klasse zu werden (d. h. unter anderem, dass sie in der Lage war, Privilegien zu erben), die mit der Elite im Einklang stand und steht. Dies ist ein entscheidender Punkt, denn er macht uns darauf aufmerksam, dass es der Konflikt zwischen verschiedenen kapitalistischen Fraktionen ist, der diese Geopolitik bestimmt. Dies erfordert einen kleinen Exkurs.

Die Tiefe des derzeitigen Konflikts zwischen Russland und der NATO lässt sich nicht verstehen, ohne einen Blick auf das postsowjetische Szenario zu werfen, das anfing mit der Auflösung der UdSSR. 1991 führte ein Machtkampf innerhalb der russischen Elite zur Auflösung der UdSSR, sodass die Fraktion von Boris Jelzin die volle Macht ergreifen konnte, die sie bis dahin mit dem zentralen Apparat der UdSSR unter der Führung von Michail Gorbatschow geteilt hatte. Das war die „politische” Auflösung, könnte man sagen. Es gab auch einen klaren „Klassen”-Aspekt: Die UdSSR mit ihren ramponierten und diskreditierten symbolischen und historischen revolutionären Bezügen war ein Hindernis für die soziale Umstellung einer administrativ-bürokratischen Kaste in eine besitzende Klasse. Ohne die UdSSR waren die russische Elite und die jeweiligen nationalen Eliten der einzelnen Republiken viel freier, diese soziale Umgestaltung vorzunehmen.

Im Zusammenhang mit dieser Operation, die enorme Bereicherungs- und Machtperspektiven eröffnete, opferte die russische Elite vorübergehend fast alles andere: Russlands menschliche Geographie, die riesigen Gebiete der sozialistischen Sowjetrepubliken Kasachstan und Ukraine, die von Russen bevölkert und überwiegend russischsprachig sind, das Schicksal Tausender Russen, die außerhalb der Grenzen der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) leben und deren Status und Rechte außer Kraft gesetzt wurden, die Identität einer Großmacht in der Welt und so weiter. Die russische Elite schob all dies beiseite, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: den Angriff auf das nationale Erbe, das die UdSSR als „Eigentum des ganzen Volkes” definiert hatte, und dessen Aneignung durch Privatisierung. Als im Dezember 1991 die UdSSR auf Initiative Russlands und mit Zustimmung der ukrainischen und weißrussischen Führung aufgelöst wurde, dachten die russischen Politiker nicht einmal daran, dass der Süden und Osten der Ukraine, der Streifen von Charkow über den Donbas und die Krim bis nach Odessa, in jeder Hinsicht „viel mehr Russland als die Ukraine” war. Noch weniger wurde über den westlichen Teil Kasachstans nachgedacht. Die Plünderungsmentalität war das, was wirklich zählte, und der Rest war nebensächlich. Schließlich, so dachte man, ist die Ukraine ein „Quasi-Russland”, sie wird immer ein fürsorglicher russischer Satellit sein, ganz zu schweigen von Kasachstan. Sie rechneten nicht damit, dass die ukrainischen Führungseliten, die wie die der anderen Republiken hauptsächlich aus schnell umgeschulten ehemaligen kommunistischen Kadern bestanden, ihre neue Macht ideologisch festigen mussten, indem sie sich nicht mehr auf die „ewige Freundschaft zwischen den Völkern der UdSSR” stützten, sondern ihren eigenen Nationalismus entwickelten, was zu zahlreichen Kollisionen mit Russland führte.

Die russische Führung war überzeugt, dass der Westen sie als „freie und gleichberechtigte” Partner in die kapitalistische Globalisierung eintreten lassen würde. Sie hatte alles vergessen, wofür ihre Großväter auf der Suche nach einer Lösung für das Problem der ungleichen kapitalistischen Entwicklung die Revolution gemacht hatten, die das Russische Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer Art kolonialisierter Großmacht machte. Sie hatten das Gefühl, dass ihr Land mit der UdSSR von der „Zivilisation” abgewichen war, zu der sie nun zurückkehren wollten. Moskau wollte New York, Paris oder London sein, aber was die kapitalistische Globalisierung ihm bot, war ein untergeordneter und abhängiger Status, in dem das „Dritte Rom” (Moskau, in der säkularen imperialen Ideologie des 16. Jahrhunderts) auf seine Identität und die Realität einer Großmacht verzichten musste, mit seiner neuen Bourgeoisie in der Rolle des Vermittlers im Rohstoffhandel. Das Ergebnis waren die 1990er-Jahre mit enormen Möglichkeiten der privaten Bereicherung für einige wenige, Elend und demografischem Zusammenbruch für viele andere sowie Demütigung und Ohnmacht auf der internationalen Bühne durch die sukzessive Erweiterung der NATO und die westliche Unterstützung des Sezessionismus in Russland. Mit der erfolgreichen sozialen Re-Konversion der herrschenden Kaste begann Putin die Wiederherstellung der russischen Macht und damit den Zusammenstoß mit dem „real existierenden Kapitalismus”. Die russische Elite verlor ihre Illusionen und begann, einen Plan auszuarbeiten, um sich die Achtung des Westens zu verschaffen. Der hat die internen Prozesse und Realitäten Russlands nie wirklich verstanden.

Russlands räuberische Elite besteht aus „politischen Kapitalisten” [31], d. h. aus einer gesellschaftlichen Gruppe, die ihren Wettbewerbsvorteil aus dem Gewinn zieht, den sie aus ihrer privilegierten Kontrolle über den Staat schafft. Dazu ist sie auf das westliche transnationale Kapital angewiesen, das ihre privaten Rechte anerkennt. Der russische Energiesektor beispielsweise ist „nationales” Eigentum, das von Russland, d. h. von den Eigentümern des russischen Staates, kontrolliert wird. Die russischen „Oligarchen” sind dem russischen Staat untergeordnet, so wie der russische Adel der zaristischen Autokratie untergeordnet war. Dies ist eine jahrhundertealte Tradition in Russland. Im geografischen Umfeld Russlands muss eine Dominanz oder zumindest ein Kondominium anerkannt werden, in dem die Interessen der russischen Kapitalistenklasse vom westlichen transnationalen Kapital respektiert werden [32]. Für die räuberische westliche Elite ist das inakzeptabel. Seine Unternehmen, denen die Regierungen übergeordnet sind, lassen keine „Zurückhaltung” zu. Die natürlichen Ressourcen Russlands müssen für die Plünderung durch das globale Kapital geöffnet werden. Wenn der Traum der amerikanischen Geopolitik darin besteht, den russischen Staat in mehrere Republiken aufzuteilen, dann genau deshalb, um das Reservat aufzubrechen und die russischen politischen Kapitalisten in eine bloße Käufer-, Untergebenen- und Vermittlerklasse zu verwandeln.

Aber die russische Elite akzeptiert diese Rolle nicht. Und weil sie sie nicht akzeptiert, ist der Konflikt entstanden und hat eine ganze Reihe von Veränderungen sowohl in der russischen Außen- als auch in der Innenpolitik ausgelöst, auf die wir später noch eingehen werden. Damit will ich sagen: Hätte das westliche Kapital freien Zugang zur Kontrolle der russischen Energie- und Bodenschätze gehabt und hätte sich die russische Elite in diesem Geschäft damit begnügt, sich den ausländischen Interessen unterzuordnen und ihnen entgegenzukommen, hätte es keine NATO-Erweiterung gegeben und Russland wäre auch nicht ausgeschlossen worden. Es hätte auch keine Dämonisierung des Putin-Regimes gegeben, das aufgrund seiner bekannten Untaten nicht schlimmer ist als die Führer anderer „befreundeter” Länder wie des NATO-Mitglieds Türkei, das in Zypern einmarschiert ist und in der Vergangenheit die Kurden misshandelt hat, oder Israels, eines Kolonialstaates, der in der Vergangenheit die Palästinenser massakriert hat, oder Saudi-Arabiens, dessen theokratisches Regime Dissidenten mit Kettensägen in diplomatischen Räumlichkeiten zerlegt hat, um nur einige der Länder zu nennen, zu denen der Westen enge und freundschaftliche Beziehungen unterhält. All dies wird viel deutlicher, wenn man es vor dem Hintergrund eines Konflikts liest, in dem die einen die Anerkennung ihres „geoökonomischen” Gebiets anstreben, was der Kreml als „unsere legitimen Interessen” (oder zumindest ein Gemeinwesen) bezeichnet, während die anderen dies nicht anerkennen wollen, weil ihr Gebiet die ganze Welt ist, in der Russland und seine Nachbarschaft keine Ausnahme bilden dürfen. In Verbindung mit endogenen Faktoren hatte dieser Prozess Folgen für die „Stimmungen” in Russland, erschwerte seine Demokratisierung und sein Verhältnis zu seiner Umwelt und begünstigte ein Wiederaufleben der traditionellen Moskauer Autokratie unter Boris Jelzin (eine Autokratie, die im ersten Jahrzehnt der Herrschaft Wladimir Putins noch westlich orientiert war).

In der Ukraine haben 30 Jahre chaotischer Staatsführung zu vielen sozialen Katastrophen geführt, aber auch dazu, dass dieses „Fast-Russland” immer mehr zur „Ukraine” wurde. Nach einer Generation, in der die Menschen in einer „souveränen und abhängigen” Ukraine lebten, entwickelte sich eine bürgerliche und plurale ukrainische Nationalidentität, sogar im Südosten des Landes, in den Regionen mit dem höchsten Anteil an ethnischen Russen und, wo das Gewicht der russischen Kultur und Sprache am größten ist.

Eigene Erarbeitung aus Mearsheimer, J.J. (2015). Why is Ukraine the West’s Fault? Featuring John Mearsheimer. The University of Chicago).

In den Regionen der Westukraine, die nie zum Russischen Reich und seinem Christentum gehörten, blühte ein ethnisch-lateinischer Nationalismus auf, der einen stark antirussischen und ausgrenzenden Charakter gegenüber den großen russophilen und russischsprachigen Sektoren des Landes aufwies. Dieser Nationalismus mit rechtsextremen Geschichtsnarrativen, der im ganzen Land in der Minderheit war, gewann allmählich an Boden gegenüber einem bürgerlichen Nationalismus, der in der Lage war, die verschiedenen Identitäten der Ukraine zu integrieren.

Die düstere Realität der „Marktwirtschaft” und der weit verbreitete Diebstahl durch die Eliten im Lande begünstigten auch den Ethnizismus und die Suche nach ausländischen Schuldigen. Im Jahr 2014 wurde dieser ethnische Nationalismus mit einer Mischung aus sozialer Revolte und Staatsstreich, die vom Westen stark unterstützt und im Osten und Süden des Landes abgelehnt wurde, endgültig dem ganzen Land angelastet. In diesem Zusammenhang annektierte Russland mit Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung der Halbinsel die Krim, was einen bewaffneten Aufstand im Donbass auslöste, zunächst ohne große russische Unterstützung. So begann ein Bürgerkrieg, ohne den die anschließende russische Invasion sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen wäre. Die neue, vom Westen unterstützte Regierung in Kiew stellte den Aufstand im Donbass von Anfang an als „Anti-Terror-Operation” dar, die darauf abzielte, die sogenannten nedoukraintsy, d. h. „Menschen, die aus Sicht des ethnischen Nationalismus nicht ausreichend ukrainisch sind”, zu unterdrücken. Laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begann der Krieg der NATO gegen Russland „2014″ und nicht erst 2022 [33]. Und laut dem Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte hatte er vor der russischen Invasion etwa 14.000 Tote zur Folge, die Hälfte davon Zivilisten und die meisten von ihnen aus russophilen Ortschaften. Es waren Opfer der ukrainischen Armee, die damals aus rechten Milizen bestand [34]. Warum 2014? Wegen der russischen Annexion der Krim im März desselben Jahres.

Die Annexion der Krim war die tröstliche Antwort des Kremls auf den schmerzlichen „Verlust der Ukraine”, d. h. auf die Tatsache, dass Kiew zum Westen übergelaufen war und seine Politik endgültig gegen Russland gerichtet hatte. Die makellose russische Militäroperation, die die Annexion ermöglichte, sowie die überwältigende Unterstützung, die sie in der Bevölkerung der Halbinsel fand, waren eine unerträgliche militärische und imagemäßige Herausforderung für die kontinentale Disziplin des Atlantizismus. Das war aber nicht wegen der klaren Verletzung des internationalen Rechts und der territorialen Integrität eines Landes. Schließlich hat Marokko die Westsahara annektiert, die Türkei hat die türkisch-zyprische Republik unterstützt, und Israel hat jahrzehntelang Teile Palästinas und Syriens besetzt, ohne dass der Atlantizismus damit ein Problem gehabt hätte. Darüber hinaus hat die NATO selbst die Unabhängigkeit des Kosovo im Jahr 1999 militärisch unterstützt, und ihre Mitgliedsstaaten haben eine lange Reihe von völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Landbesetzungen durchgeführt, ohne dass dies ein großes Problem darstellte. Der Fall der Krim war anders. Die Überschreitung war das Werk eines gegnerischen Landes und zudem sauber, von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und ohne jegliche Gewaltanwendung; mit anderen Worten, es war nicht nur ein militärischer Bruch der westlichen Ordnung in Europa, sondern auch ein Beweis für die Welt, dass die westliche Hegemonialmacht umgangen werden kann. Von diesem Moment an war es klar, dass es eine westliche militärische Antwort auf Russland geben würde und dass die Herausforderung nicht ungestraft bleiben würde. Der Kreml wusste, was auf ihn zukam, und griff ein Jahr später militärisch ein, um dem syrischen Regime zu helfen. Das diente ihm unter anderem dazu, seine Streitkräfte in einem echten Kriegsszenario zu trainieren.

Die Friedensverhandlungen im Rahmen des Minsker Abkommens, an denen angeblich Frankreich und Deutschland als Vermittler beteiligt waren, waren lediglich ein Trick, um „Zeit zu gewinnen und die Ukraine auf einen Krieg vorzubereiten”, wie die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel [35] und der ehemalige französische Präsident François Hollande zugegeben haben [36] und der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko bestätigt hat [37][38]. In den letzten zwei Jahren vor der russischen Invasion waren die Signale gegen Russland eindeutig. Im Jahr 2019 schlug ein langes Papier der RAND Corporation, der führenden Denkfabrik des Pentagon, mit dem Titel „Overextending and Unbalancing Russia” einen detaillierten Katalog zur Bedrängung Moskaus vor. Erstes und wichtigstes Szenario war die „Unterstützung der Ukraine mit Waffen”, was schon seit 2014 geschah [39][40]. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Dokuments sagten führende ukrainische Politiker wie der wortgewandte und stets nüchterne Berater des ukrainischen Präsidenten, Aleksei Arestowitsch, bereits öffentlich, dass „der Preis für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ein Krieg gegen Russland und dessen Niederlage” sei, ein „unvermeidliches” Szenario, das er für „2021 oder 2022″ voraussah [41]. Im Februar 2019 wurde die ukrainische Verfassung geändert und die NATO-Mitgliedschaft zu einem erklärten Ziel der Regierung gemacht. Im März 2021 verabschiedete Präsident Selenskyj die sogenannte „Krim-Plattform”, ein Programm, das die Wiedereingliederung der Krim in die Ukraine mit militärischen Mitteln vorsah.

Im Juni desselben Jahres unterzeichnete das Vereinigte Königreich ein Abkommen zur Modernisierung der ukrainischen Seestreitkräfte nach den Zwischenfällen zwischen Russland und der Ukraine im Asowschen Meer im April 2021. Im Juni 2021 organisierten die Vereinigten Staaten und die Ukraine außerdem Marineübungen in der Nordsee, an denen 32 Länder teilnahmen, und im August unterzeichneten sie bilaterale Abkommen über militärische Zusammenarbeit und strategische Partnerschaft. Zwischen März und Juni führte die NATO das Manöver Defender 21 durch, einen großen Militäreinsatz mit dem Szenario eines russischen Angriffs auf Europa. Daraufhin verlegte die Ukraine Zehntausende von Truppen in die Nähe der Rebellenregion Donbass, und Russland verstärkte seine Truppen an der Grenze zur Ukraine. Im Dezember schickte Moskau zwei Dokumente an die NATO und Washington, um die Krise durch einen NATO-Rückzug und einen Neutralitätsstatus für die Ukraine zu lösen. Beide Anträge wurden abgelehnt. Drei Tage vor dem russischen Einmarsch drohte Präsident Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz, einem jährlichen Treffen der Atlantiker, das Budapester Memorandum von 1994 aufzukündigen und der Ukraine das Recht auf den Besitz von Atomwaffen zurückzugeben.

Nichts von alledem rechtfertigt die anschließende russische Invasion, aber es verleiht der Behauptung von Präsident Putin, dass die Dinge für Russland schlimmer gelaufen wären, wenn er seine Invasion nicht gestartet hätte, weil die Ukraine militärisch stärker geworden wäre und die Krim und den Donbas angegriffen hätte, einen gewissen Kontext und eine gewisse Plausibilität [42]. Was die Ukraine anbelangt, so besteht die Tragödie darin, dass ihre Führer ebenfalls zur Aufrechterhaltung des Konflikts beigetragen haben. Solange die ukrainische Regierung den inneren Pluralismus des Landes nicht wieder anerkennt, wird es keinen Frieden und keine territoriale Integrität geben [43]. Und das scheint schwieriger zu sein als ein Szenario, in dem Russland einen Großteil seines Territoriums im Süden und Osten annektiert, was ebenfalls nicht zu einer stabilen Situation führen wird.

Der Bruch mit Russland und die Umwandlung des russischen Bonapartistenregimes

Die Ukraine-Krise und die Reaktion des Westens in Form von beispiellosen Sanktionen und der größten westlichen Militär- und Finanzhilfe für ein anderes Land seit dem Zweiten Weltkrieg haben den Bruch Russlands mit dem Westen besiegelt. Schauen wir uns nun an, worin dieser Bruch besteht.

Da die Außenpolitik der EU und der USA in den letzten 30 Jahren darin bestand, die europäischen Trennlinien bis an die Grenzen Russlands zu verschieben, wurde die Situation für Moskau zunehmend ungünstig.

Als die Ukraine-Krise Moskaus letzte Illusionen über ein „Groß-Europa” zunichtemachte, kündigte Russland seinen Bruch an: Es erklärte die EU zu einem „unzuverlässigen Partner” (bei dem berühmten Besuch des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, in Moskau im Februar 2021) und bekräftigte seine Haltung zum Projekt Groß-Eurasien. Hier stehen wir heute [44].

Was ist dieses „Größere Eurasien”? In Moskau sagt man, es bedeute nichts weniger als das Ende von 300 Jahren europäischer Orientierung, einen Bruch mit der von Zar Peter dem Großen im 18. Jahrhundert initiierten Politik. Der neue Ansatz, so heißt es, besteht nicht mehr darin, sich in Europa oder mit Europa zu integrieren, sondern die Situation umzukehren, indem Europa in Groß-Eurasien integriert wird. Moskau betrachtet seine Beziehungen zur EU von der gleichen Position aus, wie China oder Indien ihre Beziehungen zu Brüssel betrachten.

Ich habe den Eindruck, dass die EU noch nicht erkannt hat, dass sie für Moskau wenig zählt und Moskau noch viel weniger kümmert. In Brüssel, Berlin und Paris hielt man sich für unentbehrlich und unersetzlich; man glaubte, die Sanktionen würden Russland – in den Worten der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock [45] – „ruinieren”, „seine wirtschaftliche Basis drastisch aushöhlen” und es zu einer „von der Welt abgeschnittenen Autarkie” verurteilen, die – in den Worten der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen [46] – „jede Aussicht auf Modernisierung” verringern würde. Aber es hat sich herausgestellt, dass dies nicht der Fall ist. Moskau führt bisher erfolgreich ein umfangreiches Programm zur Substitution westlicher Importe durch, indem es seine eigene Produktion aktiviert: Automobilbau, Lebensmittel, Elektronik, Maschinen, Schiffbau, Luftfahrt, Landwirtschaft, Pharmazeutika, Maschinenbau und so weiter. Die Energiekorridore wenden sich allmählich dem Osten zu. Was Russland nicht produzieren kann, wird von China gekauft, das die Alternative zu Deutschland darstellt. Gleichzeitig wird ein größerer innerer sozialer Zusammenhalt angestrebt, und die Kriegsindustrie kurbelt die Wirtschaft an [47].

All dies hat große Auswirkungen auf die Umwandlung des russischen bonapartistischen Regimes, das nicht nur autoritärer und repressiver wird (Debatten sind erlaubt, aber nicht die frontale Kritik am Krieg, mit Gefängnisstrafen für Dissidenten auf der linken und rechten Seite), sondern auch „sozialer” und „sowjetischer” in seinem innen- und außenpolitischen Ansatz. Mit dem Ukraine-Krieg und dem damit einhergehenden großen Wandel ändert das Regime fast alles; es transformiert und konsolidiert sich, um an der Macht zu bleiben. Das Ergebnis ist das „Glaziev-Paradoxon” [48]: Der Kampf zwischen dem westlichen transnationalen globalistischen Kapitalismus und dem russischen politischen Kapitalismus sowie die Weigerung, die russische Elite als gleichberechtigt im globalen Club der Ausbeuter zu behandeln, drängen Moskau zu einer gewissen „Sowjetisierung”. Es ändert den Gesellschaftsvertrag in der Innenpolitik (mehr Verteilung, mehr staatliche Kontrolle, mehr Keynesianismus und weniger Markt und sicherlich mehr Repression) und in der Außenpolitik (Betonung des Antikolonialismus, Antiwestlichkeit, Betonung der Rolle der BRICS, Beziehungen zu Afrika, Lateinamerika und natürlich Asien). Das Ergebnis ist so pittoresk, dass etwa Präsident Putin, ein überzeugter konservativer und antikommunistischer Verfechter der „Marktwirtschaft”, in seiner letzten Rede vor dem Lateinamerika-Forum in Moskau im September 2023 Fidel Castro, Che Guevara und Präsident Allende lobte. Dieser Wandel vollzieht sich jetzt und muss mit größter Aufmerksamkeit verfolgt werden [49].

All dies mag aus dem Munde so konservativer und antikommunistischer Persönlichkeiten wie der derzeitigen russischen Führung eher befremdlich erscheinen, aber in gewisser Weise war dies das Paradoxon der UdSSR: eine autokratische und tyrannische Supermacht, politisch in vielerlei Hinsicht reaktionär und gleichzeitig egalitär und sozial ausgleichend, mit einer grundlegenden Rolle als Gegengewicht zum westlichen Hegemonismus in der Welt [50].

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass 1) das Bestreben, Russland aus Europa auszuschließen, dazu geführt hat, dass Moskau nach strategischen Partnerschaften im Osten Ausschau hält; 2) das eurasische Russland sehr viel weniger abhängig von der EU geworden ist (seine strategischen Industrien, Transportkorridore und Finanzinstrumente sind weniger vom Westen abhängig) und 3) die EU gleichzeitig abhängiger von den USA und damit schwächer wird [51].

Lesen Sie am nächsten Samstag den dritten Teil.

Titelbild: Screencap La Casa Encendida via YouTube

Rafael Poch-de-Feliu (Barcelona, 1956) war 35 Jahre lang Auslandskorrespondent, die meisten davon in Moskau und Peking für La Vanguardia (1988-2008). In den 1970er- und 1980er-Jahren studierte er Geschichte in Barcelona und West-Berlin, war Korrespondent für die Tageszeitung und reiste als Korrespondent durch Osteuropa (1983-1987). Er hat gelegentlich für die spanische Ausgabe von Le Monde Diplomatique und die Pekinger Zeitschrift DuShu geschrieben. Er ist Autor mehrerer Bücher über Russland und China und war Gastprofessor für internationale Beziehungen an der Universitat Pompeu Fabra (UPF) in Barcelona und an der Universidad Nacional de Educación a Distancia (UNED). Außerdem schreibt er für das digitale Magazin Ctxt unter der Rubrik „Combatant Empires” und unterhält einen persönlichen Blog: rafaelpoch.com.

Über das JHU-UPF Public Policy Center

Das JHU-UPF Public Policy Center ist ein internationaler Referenzpunkt für Forscher und Studenten im Bereich der öffentlichen Politik, der 2013 gemeinsam von der Johns Hopkins University (JHU) und der Universitat Pompeu Fabra (UPF) in Barcelona gegründet wurde. Unser Hauptziel ist die Durchführung und Förderung von Forschung, Lehre und Politik in den wichtigsten Bereichen, die sich auf das soziale Wohlergehen, die Lebensqualität und die Gesundheit der Bevölkerung auswirken.


[«28] Die Charta von Paris für das neue Europa der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die im November 1990 im Pariser Elysée-Palast unterzeichnet wurde, enthielt den Entwurf einer integrierten kontinentalen Sicherheit, d. h. das Ende des Kalten Krieges, der Europa und die Welt in zwei Blöcke geteilt hatte. In der Präambel wurde verkündet, dass „die Ära der Konfrontation und der Teilung Europas vorbei ist”. Im Abschnitt über „Freundschaftliche Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten” heißt es: „Sicherheit ist unteilbar. Die Sicherheit eines jeden Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der Sicherheit der anderen verbunden.“ Im Abschnitt über „Sicherheit” wurde „ein neues Konzept der europäischen Sicherheit” angekündigt, das den Beziehungen zwischen den europäischen Staaten eine „neue Qualität” verleihen würde. „Die Situation in Europa eröffnet neue Möglichkeiten für ein gemeinsames Vorgehen im Bereich der militärischen Sicherheit”, wird versprochen. „Wir werden auf den wichtigen Errungenschaften des KSE-Abkommens (Konventionelle Abrüstung in Europa) und der Gespräche über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen aufbauen. Man glaubte sogar an die Verpflichtung, „spätestens 1992 neue Abrüstungs- und vertrauens- und sicherheitsbildende Gespräche aufzunehmen”. Stattdessen wurde Sicherheit auf Kosten der anderen angepeilt. Ein Jahr nach der Unterzeichnung der Charta von Paris, auf dem Gipfeltreffen in Rom im November 1991, zog die NATO zwei Schlussfolgerungen aus der Auflösung des Warschauer Paktes: „Die erste Neuheit dieser Entwicklungen besteht darin, dass sie weder den Zweck noch die Sicherheitsfunktionen des Bündnisses berühren, sondern seine fortdauernde Gültigkeit unterstreichen. Die Zweite ist, dass diese Entwicklungen neue Möglichkeiten bieten, die Strategie des Bündnisses in den Rahmen eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zu stellen.

[«29] Daran erinnerte u. a. George Friedman, der Direktor einer der wichtigsten US-Denkfabriken, Stratfor, im Jahr 2015 auf einer Konferenz in Chicago. Friedman, G. (15. June 2015). STRATFOR: US-Hauptziel war es immer, Bündnis Deutschland + Russland zu verhindern [Video]. Siehe auch: Poch-de-Feliu, R. (2003). La quiebra optimista del orden europeo. In: The Great Transition. Russland 1985-2002. Barcelona: Critica (neu aufgelegt 2022); und Sarotte, M. E. (2021). Not one inch. America, Russia and the Making of Post-Cold War Stalemate. New Haven: Yale University Press.

[«30] Brzezinski sagte: „Das wichtigste geostrategische Ziel der Vereinigten Staaten in Europa ist es, den amerikanischen Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent zu konsolidieren.” Siehe: Brzezinski, Z. (1997). The Grand Chessboard. American Primacy and its Geostrategic Imperatives. New York: Basic Books. [Englische Übersetzung: Brzezinski, Z. (1999). El gran tablero mundial: La supremacía estadounidense y sus imperativos geoestratégicos. Madrid: Taurus].

[«31] Zur postsowjetischen Elite und ihren „politischen Hauptstädten” siehe die Artikel des ukrainischen Soziologen Volodymyr Ishchenko sowie die Ausgabe 2022 von Poch-de-Feliu, R. (2003). The Great Transition. Russia 1985-2002. Barcelona: Crítica, einschließlich eines ukrainischen Nachworts.

[«32] Zur Unterordnung des russischen Adels unter die zaristische Autokratie siehe: Poch-de-Feliu, R. (2019). Understanding Putin’s Russia. From humiliation to revival. Madrid: Akal.

[«33] Stoltenbergs Erklärung am 14. Februar 2023 auf dem jährlichen Treffen der NATO-Verteidigungsminister bestätigte die Kreml-These, als er sagte: „Der Krieg hat nicht im Februar letzten Jahres (2022) begonnen. Der Krieg begann im Jahr 2014. Und seit 2014 haben die NATO-Verbündeten die Ukraine mit Ausbildung und Material so unterstützt, dass die ukrainischen Streitkräfte 2022 viel stärker waren als 2020 und 2014.” Stoltenberg, J. (14. Februar 2023). Erklärung des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg im Vorfeld der Tagung der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel. nato.int/cps/en/natohq/opinions_211698.htm

[«34] Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (2022). Konfliktbedingte zivile Todesopfer in der Ukraine.

[«35] Hildebrandt, T. und di Lorenzo, G. (7. Dezember 2022). „Hatten Sie gedacht, ich komme mit Pferdeschwanz?” Angela Merkel über ihren neuen Lebensabschnitt, mögliche Fehler ihrer Russlandpolitik, ihre Rolle in der Flüchtlingskrise und die Frage, ob mit deutschen Kanzlern ungnädig umgegangen wird. Die Zeit Online. Abrufbar unter: zeit.de/2022/51/angela-merkel-russland-fluechtlingskrise-bundeskanzler/komplettansicht

[«36] Provost, T. (28. Dezember 2022). Hollande: „Es wird nur einen Ausweg aus dem Konflikt geben, wenn Russland auf dem Boden versagt.” The Kyiv Independent. kyivindependent.com/hollande-there-will-only-be-a-way-out-of-the-conflict-when-russia-fails-on-the-ground/

[«37] Poroschenko gab in einer Reihe von Interviews mit westlichen Medien, darunter die Deutsche Welle und die ukrainische Abteilung von Radio Free Europe, zu, dass der Waffenstillstand von 2015 ein Ablenkungsmanöver war, um Kiew Zeit für den Wiederaufbau seiner Armee zu verschaffen. In seinen Worten: „Wir hatten alles erreicht, was wir wollten. Unser Ziel war in erster Linie, die [russische] Bedrohung zu stoppen oder zumindest den Krieg zu verzögern: acht Jahre Zeit zu gewinnen, um das Wirtschaftswachstum wiederherzustellen und eine schlagkräftige Armee aufzubauen.”

[«38] Zwei Monate nach den Interviews mit Merkel und Hollande verwies Präsident Selenskyj in einem Interview mit dem deutschen Spiegel auf die gleiche Situation wie Poroschenko und sagte, dass „in der Diplomatie die Täuschung vollkommen ausreichend ist”. Siehe: Esch, C., Klusmann, S. und Schröder, T. (9. Februar 2023). Wolodymyr Selenskyj: „Putin ist ein Drache, der fressen muss”. Spiegel. spiegel.de/ausland/wolodymyr-selenskyj-im-interview-putin-ist-ein-drache-der-fressen-muss-a-458b7fe2-e15a-49a9-a38e-4bfba834f27b

[«39] Seit 2014 hat der Westen begonnen, Milliarden an die Ukraine zu geben, um ihre Armee für den Kampf gegen Russland zu bewaffnen und zu modernisieren. Sieben NATO-Länder bildeten acht Jahre lang 10.000 ukrainische Soldaten pro Jahr aus (80.000 Mann, laut Berichten des Wall Street Journal. Siehe: Michaels, D. (13. April 2022). Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahrelange NATO-Ausbildung. Das Wall Street Journal. wsj.com/articles/ukraine-military-success-years-of-nato-training-11649861339 – Dokumente der RAND Corporation: Dobbins, J., Cohen, R.S., Chandler, N., Frederick, B., Geist, E., DeLuca, P., Morgan, F.E., Shatz, H.J. und Williams, B. (2019). Overextending and Unbalancing Russia: Assessing the Impact of Cost-Imposing Options. Santa Monica: RAND Corporation. rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html

[«40] Vier Jahre später und angesichts des Fiaskos seines vorherigen Rezepts befürwortete dieselbe Denkfabrik des Pentagon einen langen Krieg. Siehe: Charap, S. und Priebe, M. (2023). Avoiding a Long War: U.S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict. Santa Monica: RAND Corporation. rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html

[«41] Die Erklärung von Aleksei Arestovich ist zu finden in: Roman Vynnytskiy (18. Februar 2019). Prognostizierter russisch-ukrainischer Krieg im Jahr 2019 – Alexey Arestovich [YouTube].

[«42] Am 14. Oktober 2022 antwortete Putin auf die Frage, ob er es bedauere, den Krieg begonnen zu haben: „Jeder muss verstehen, dass das, was geschieht, gelinde gesagt unangenehm ist, aber wenn wir länger gewartet hätten, wären die Bedingungen für uns gleich, aber schlechter gewesen.” Für den unmittelbaren Weg, der zur russischen Invasion am 24. Februar 2022 führte, siehe: Roberts, G. (2022). Now or Never: The Immediate Origins of Putin’s Preventative War on Ukraine. Journal of Military and Strategic Studies; 22(2): 3-27.

[«43] Zu dieser wichtigen Frage: Petro, N.N. (2023) Die Tragödie der Ukraine. Was uns die klassische griechische Tragödie über Konfliktlösung lehren kann. Berlin: De Gruyter Contemporary Social Sciences.

[«44] Das Schema EU 27+1 (Russland) bedeutete, dass der europäische Raum von Brüssel regiert wurde, und das Ungleichgewicht zu seinen Gunsten wurde durch Vereinbarungen mit Russlands Nachbarn, die den Sicherheitsdruck auf Moskau verstärkten, noch vergrößert. Nachdem sich die erlösende Illusion von Gorbatschows „gemeinsamem europäischen Haus” zerschlagen hatte, ging Russland dazu über, bescheidenere Formeln vorzuschlagen: 2008 ein „Größeres Europa”-System mit einem Vorschlag für eine neue integrierte europäische Sicherheit und 2010 einen Vorschlag für eine Russland/EU-Union „von Lissabon bis Wladiwostok”. Sie hatten nicht mehr den erlösenden Ehrgeiz Gorbatschows, aber sie waren Vorschläge für eine Koexistenz, die „unsere legitimen Interessen” anerkannten. Wenn das alles scheitert, kommt es zum Bruch.

[«45] Baerbock, A. (25. Februar 2022) Baerbock über Sanktionen – „Das wird Russland ruinieren”. RedaktionsNetzwerk Deutschland. rnd.de/politik/ukraine-krieg-baerbock-ueber-sanktionen-das-wird-russland-ruinieren-RZDYS2DEPRK5OST7ZGGRZ6UN4I.html

[«46] von der Leyen, U. (3. März 2022). Von der Leyen: „Russland ist isoliert und die Sanktionen erodieren seine Wirtschaft”. BusinessTV [YouTube]

[«47] Die Sanktionen haben diesem Prozess einen außerordentlichen Schub verliehen, aber alles begann 2003 mit der Verstaatlichung des Energiesektors, mit dem Fall Chodorkowski. Ende der 1990er-Jahre sah es so aus, als würde der Energiesektor vom Westen übernommen werden, als Michail Chodorkowski, Eigentümer des Ölkonzerns Yukos, sich anschickte, einen großen Teil seines Imperiums an Exxon Mobil und Chevron-Texaco zu verkaufen. Er prahlte sogar damit, dass er mit zehn Milliarden Dollar die russische Präsidentschaft gewinnen könnte, weshalb er als Exempel für andere Oligarchen für zehn Jahre ins Gefängnis kam. Dies war eine Episode in Putins Operation, den „politischen Kapitalisten” die Kontrolle über den Energiesektor zu entreißen.

[«48] Sergei Glaziev ist ein linker russischer Wirtschaftswissenschaftler, der in verantwortlichen Positionen in der Regierung tätig war.

[«49] Putin, W. (29. September 2023). Eröffnung der internationalen parlamentarischen Konferenz „Russland – Lateinamerika”. Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation. duma.gov.ru/es/multimedia/video/events/93354/

[«50] So wetterte beispielsweise der Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, gegen „das kolonial-imperialistische Projekt des Westens” und dessen „räuberische Zivilisation” und bot der Welt, insbesondere dem globalen Süden, Russlands „alternativen Weg” an. Siehe: Razvedchik (September 2023). Der Bankrott des Parasitenimperiums. svr.gov.ru/upload/iblock/3eb/15092023r.pdf

[«51] Eine ideologische Konsequenz: Russland lehnt die liberale Hegemonie der EU und ihren Kult der Geschlechtervielfalt und des westlichen Lebensstils ab und bekennt sich zu einem Konservatismus, mit dem es sich nicht nur mit den europäischen Konservativen, sondern vor allem mit einem patriarchalen Traditionalismus verbindet, der im globalen Süden absolut mehrheitsfähig ist. Siehe: Diesen, G. (2021). Russian Conservatism: Managing Change under Permanent Revolution. Lanham: Rowman & Littlefield Publishers.

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