Ist es eine „Retourkutsche” wegen der wichtigen Enthüllungen durch das Magazin Multipolar zu den RKI-Protokollen? Die Landesanstalt für Medien NRW moniert aktuell mehrere, teils Jahre alte Beiträge zur Corona-Politik und droht mit „förmlichen Verwaltungsverfahren“. Dieses Vorgehen ist sehr fragwürdig – es steht symbolisch für massive Doppelstandards in der Betrachtung der deutschen Medienlandschaft. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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„Landesmedienanstalt geht nach Enthüllung der RKI-Protokolle gegen Multipolar vor“, schreibt das Online-Magazin. Die nordrhein-westfälische Medienaufsicht wirft Multipolar laut einem Artikel des Magazins „Verstöße gegen die journalistische Sorgfalt“ vor und droht demnach schriftlich mit einem „förmlichen Verwaltungsverfahren“. Bemängelt würden teils mehrere Jahre alte Beiträge, die die Regierungssicht auf Corona infrage stellen, so Multipolar.
Multipolar hatte bislang nach eigenen Angaben noch gar keinen Kontakt zu der Behörde. Den Brief der Medienaufsicht hat das Magazin unter diesem Link bereitgestellt. Der Deutsche Presserat schreibt zum in diesem Fall relevanten Komplex „Medienstaatsvertrag und Onlinemedien“:
„Der Medienstaatsvertrag (MStV) ist am 7. November 2020 in Kraft getreten. Er bestimmt, dass journalistische Onlinemedien (‚Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, in denen regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen enthalten sind‘) den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen haben (§ 19 Abs. 1 MStV). Die von journalistischen Internetportalen, Blogs und anderen Onlinemedien verbreiteten Inhalte müssen mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit geprüft werden. Bei Verstößen kann die zuständige Landesmedienanstalt Maßnahmen verhängen: Möglich sind die Beanstandung, Untersagung und Sperrung von Texten. Weiter kann die Landesmedienanstalt deren Rücknahme oder Widerruf verlangen (§ 109 Abs. 1 MStV).“
Gipfel der Doppelstandards
Auf den erwähnten Paragraf 19 des Medienstaatsvertrages beruft sich laut Multipolar auch die Landesanstalt für Medien NRW (LfM) in dem aktuellen Schreiben. Multipolar soll der LfM nun bis zum 23. September mitteilen, ob die genannten vier Beiträge „angepasst“ und die „verpflichtenden Informationen ergänzt“ wurden. Die Behörde droht, „zeitnah ein förmliches Verwaltungsverfahren einzuleiten“. In einem ähnlichen Verfahren einer Landesmedienanstalt habe das Portal Apolut laut Multipolar zuletzt pro Artikel 800 Euro „Bearbeitungsgebühr“ zahlen müssen. Zu möglichen Sanktionen, zu den Strukturen der LfM und zum verantwortlichen Personal gibt es im Artikel weitere Hintergründe
Konkret moniert würden im Schreiben der LfM insgesamt vier Passagen aus Artikeln und Interviews, die in den Jahren 2022 bis 2024 bei Multipolar erschienen seien. Bei allen Texten gehe es um die Corona-Politik, so Multipolar. Im Artikel werden die Passagen näher geschildert – und es werden auch die teils fragwürdig formulierten Einwände der LfM zitiert. Darin heißt es etwa, amtliche britische Daten seien vom Magazin „fehlinterpretiert“ worden. Oder es gebe (im angeblichen Gegensatz zu Äußerungen eines von Multipolar interviewten Feuerwehrmannes) „stichhaltige Belege dafür“, dass in „der Hochzeit der Pandemie viele Krankenhäuser unter erheblichen Kapazitätsengpässen litten“.
Diese konkreten Einwände sind zum einen inhaltlich höchst fragwürdig. Zum anderen wird in meinen Augen durch das Vorgehen der LfM auf einer allgemeineren Ebene ein neuer Gipfel der Doppelstandards erklommen: Würde eine solche inhaltliche Strenge und eine so fragwürdige inhaltliche Eindeutigkeit an zahllose Beiträge in großen Medien unter anderem zu den Themen Corona-Politik, Vorgeschichte des Ukrainekriegs oder neoliberale Wirtschaftsordnung angelegt – die jeweils verantwortlichen Gremien kämen aus den Beanstandungen gar nicht mehr heraus.
Diese Feststellungen sollen selbstverständlich nicht die Alternativmedien pauschal und prinzipiell vom Vorwurf der unseriösen Berichterstattung freisprechen – Falschinformationen und Behauptungen, die nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, müssen natürlich auch bei diesen Medien kritisiert werden. Aber: Die Ungleichbehandlung in Form einer oft pauschalen Dämonisierung der Alternativmedien durch Akteure mit großer und privilegierter Reichweite einerseits und einer gleichzeitigen tendenziellen Abschirmung großer Medien von Kritik und echter inhaltlicher Überprüfung andererseits ist so extrem, dass allein dieser Tatbestand skandalös ist.
Medienstaatsvertrag teilweise verfassungswidrig?
Der oben zitierte Presserat eröffnet die Möglichkeit, dass sich „journalistische Onlinemedien (…) auch dem Deutschen Presserat anschließen“ können und sich dadurch „verpflichten, den Pressekodex und die nach der Beschwerdeordnung verhängten Maßnahmen zu befolgen. Sie unterfallen dann nicht der Regulierung durch die Landesmedienanstalten”. Diese Möglichkeit haben die NachDenkSeiten gewählt, Infos zu den Konditionen finden sich auf der Webseite des Presserats.
Laut einer Recherche von Multipolar zu den Landesmedienanstalten bestehen Zweifel daran, „ob der betreffende Paragraf 19 des Medienstaatsvertrags verfassungsgemäß“ sei. So argumentiere etwa der Medienrechtler Wolfgang Lent, die Regelungen träfen ausschließlich Online-Medien, was Indiz für eine „Sonderrechtsregelung“ sein könne. Die NachDenkSeiten haben sich in vielen Artikeln mit dem Thema Medienstaatsvertrag/Landesmedienanstalten befasst, eine Auswahl findet sich unter diesem Text.
Multipolar schreibt, es prüfe derzeit das Schreiben der Landesmedienanstalt, „um das weitere Vorgehen zu bestimmen“.
Titelbild: Pixel-Shot / Shutterstock