„Und jetzt einige wichtige, sehr wichtige Worte an alle, die versucht sein könnten, sich von außen in den Gang der Ereignisse einzumischen. Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen für Sie haben, wie Sie sie in ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben. Wir sind auf alle Entwicklungen vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen sind getroffen. Ich hoffe, meine Worte werden gehört“, so die Warnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin am 24. Februar 2022, dem Tag des Angriffskrieges der Russischen Föderation auf die Ukraine, an den Westen adressiert. Es handelt sich um das Ziehen einer unzweideutigen roten Linie: Mischt Euch nicht in unseren Krieg ein, sonst werdet ihr massive Reaktionen erfahren. Von Alexander Neu.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Der Ukraine-Krieg läuft nun seit 30 Monaten. Der Westen hat zunehmend in den Konflikt interveniert, und zwar in steigernden Dosierungen. Angefangen von defensiven Waffensystemen wie Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrsysteme und Helme über Waffensysteme mit eher offensiven Fähigkeiten wie Schützen- und schließlich Kampfpanzer – zunächst sowjetischer, dann zunehmend westlicher Bauart. Das Gleiche mit Kampflugzeugen: Bereits 2022 wurde darüber diskutiert und zunächst als zu gefährlich verworfen, sowjetische Kampfflugzeuge aus den Post-Warschauer-Pakt- und post-sowjetischen Staaten an die Ukraine zu liefern. Mittlerweile werden F-16 Kampfflugzeuge US-amerikanischer Produktion an die Ukraine geliefert. Hinzu kommen westliche Söldner als auch möglicherweise Soldaten aus NATO-Staaten, die in der Ukraine undercover operieren, so russische Verlautbarungen. In all den Fällen warnte die russische Seite, hierdurch würden rote Linien überschritten. Und in all den Fällen folgte – zumindest für die westliche Öffentlichkeit – keine wahrnehmbare Reaktion auf die nächste Interventionsstufe westlicher Staaten. Die zentrale Frage im Westen zu den steigenden Interventionsmaßnahmen ist regelmäßig, ob der Westen damit zur Kriegspartei würde, was stets im gleichen Atemzug der westlichen Politikentscheider verneint wird. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hatte bereits im Jahr 2022 hierzu ein viel zitiertes, aber durch die Bundesregierung wenig beachtetes Gutachten mit dem Titel „Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch NATO-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme“ erstellt. Im Mai 2023 habe ich in der Berliner Zeitung einen Beitrag zur völkerrechtlichen Einordnung der debattierten Kampfjetlieferung mit der Leitfrage, ab wann der Rubikon zur Kriegsbeteiligung der NATO oder einzelner NATO-Staaten überschritten sei, geschrieben. Mein Fazit in dem Beitrag lautete:
„Die roten Linien Moskaus werden mit jeder neuen militärischen Unterstützungsmaßnahme des Westens für die Ukraine Schritt für Schritt „ausgetestet“. Was für den Westen noch eine helle rechtliche Graustufe sein mag, könnte für Moskau bereits eine sehr dunkle Graustufe sein – es liegt immer im Auge des Betrachters. Es ist nicht der Westen, der bestimmt, wie Russland das westliche Engagement für die Ukraine rechtlich einordnet. Das obliegt, in der Natur der Sache liegend, ausschließlich Moskau. Rechtliche Graustufen unterliegen letztlich einer politischen Interpretation, und das sollte auch der Bundesregierung und der Opposition klar sein.“
Zwar wiederholt die russische Seite seit Langem, dass der Westen angesichts seines vielfältigen Engagements zu Gunsten der Ukraine Kriegspartei sei, aber eine entsprechende militärische Handlung gab es bislang nicht.
Rote Linien ohne Bedeutung
In einem Beitrag in den NachDenkSeiten vom Oktober 2023 habe ich darauf hingewiesen, dass es in den Moskauer Sicherheitskreisen zunehmend Unzufriedenheit darüber gebe, dass die selbst gesetzten roten Linien nacheinander und ohne Konsequenzen für den Westen fielen. Seinerzeit war es S. Karaganov, Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Auswärtige und Verteidigungspolitik, der in einem Beitrag mit dem Titel „How to prevent a Third World War“ („Wie ein dritter Weltkrieg zu vermeiden ist“) die „Escalate to de-escalate“-Strategie einforderte. Das heißt konkret bei ihm, im Zweifel Europa mit einem Atomschlag zu überziehen, um auf diese Weise den ganz großen Krieg mit den USA zu vermeiden – also dem „selbst verschuldeten Autoritätsverlust“ Russlands durch das Nicht-„Bestrafen“ der permanenten Missachtung russischer roter Linien entgegenzutreten.
Und jüngst hat auch der als eher moderat geltende renommierte Sicherheitsexperte D. Trenin, in dieses Horn geblasen. Er resümiert:
„Die USA sind zu dem Schluss gekommen, dass Russland eher kapitulieren würde, als einen Atomschlag zu führen. Dadurch werden die NATO-Länder entfesselt und alle „roten Linien“ weggewischt. Der Westen bekämpft Russland, als ob es keine Atomwaffen hätte. (…) Die ständige Eskalation des Krieges durch die NATO-Staaten erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass Moskau seine von Anfang an an den Tag gelegte Zurückhaltung aufgibt und zu Schlägen gegen Ziele in den Gebieten der am aktivsten am Krieg beteiligten NATO-Staaten übergeht.“
Was der von Trenin genannten Zurückhaltung zugrunde liegt, ist spekulativ: Begründet sich die Zurückhaltung aus der Angst vor einer außer Kontrolle geratenen Eskalationsdynamik mit dem Westen, oder ist die russische Armee unterhalb ihrer unbestreitbaren nuklearen Fähigkeiten überhaupt in der Lage, den NATO-Armeen die Stirn zu bieten? Allein der bereits über drei Wochen anhaltende Kampf gegen eine überschaubar große ukrainische Invasionsarmee (schätzungsweise 15.000 Soldaten) im Südwesten Russlands lässt auf den ersten Blick Zweifel an den militärisch-konventionellen Fähigkeiten aufkommen. Und tatsächlich wird in der politischen Klasse des Westens nicht nur dosiert das westliche Engagement erhöht, sondern auch mit küchenpsychologischer Kompetenz „festgestellt“, Putin werde schon nicht zur Atombombe greifen. Und wie in dem von mir benannten Beitrag beschrieben, hatte seinerzeit die Washington Post unter dem Titel „Biden shows growing appetite to cross Putin’s red lines“ über die nur verbal, jedoch faktisch nicht vorhandenen russischen roten Linien geschrieben, die es gelte, nacheinander auszutesten.
Weitere rote Linien
Im Juni griff die Ukraine die Krim mit mit Streumunition bestückten US-ATACMS-Raketen an. Bei diesem Angriff wurde auch ein von Badegästen besuchter Strand getroffen, wie in gut dokumentiertem Filmmaterial zu erkennen ist. Es kam zu erheblichen zivilen Opfern – darunter auch Kinder. Neben der US-amerikanischen Herkunft des Waffensystems komme erschwerend hinzu, dass die Programmierung der Flugroute und das anvisierte Ziel nur mit aktiver Datenlieferung von US-amerikanischen Satelliten möglich sei, so die russische Seite, womit eine direkte US-Beteiligung gegeben sei. Die russische Seite erklärte harte Vergeltungsmaßnahmen. Bislang sind diese – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – allerdings ausgeblieben.
Anfang August griff die Ukraine mit etwa 15.000 Soldaten Russland im Raum Kursk an. Seitdem versucht Russland, die ukrainischen Kräfte wieder zu vertreiben. Wie es dazu kommen konnte, dass erstens die ukrainische Armee so viele Kräfte im Grenzraum zu Russland konzentrieren und zweitens dann auch noch viele Kilometer tief nach Russland ohne nennenswerten Widerstand einmarschieren konnte, ja bisweilen dauerhaft Räume bis dato besetzen kann, ist eine interessante Frage.
Die spekulativen Antworten von Militärexperten im Westen sowie in Russland selbst reichen von: Die nachrichtendienstliche Aufklärung sei unfähig, daher habe sie die sich anbahnende Gefahr nicht erkannt; über: Die nachrichtendienstliche Aufklärung habe die Truppenkonzentration erfasst und an den russischen Generalstab gemeldet. Dieser aber habe das nicht ernst genommen und entsprechend die eigenen Kräfte dort nicht verstärkt; bis hin zu: Es sei eine beabsichtigte Falle der russischen Armee gewesen.
Das erste Szenario scheint mir wenig wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich.
Das zweite Szenario, also das der gelieferten nachrichtendienstlichen Aufklärung, jedoch seitens des russischen Generalstabs missachtet, erinnert unweigerlich an den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion 1941. Es gibt hierzu also einen zeithistorischen „Vorgängerfall“.
Exkurs: Auch damals gab es hinreichende Informationen, sei es durch nachrichtendienstliche und militärische Aufklärung oder diplomatische Hinweise. J. Stalin jedoch, gefangen in seiner ideologischen Welt, in der der intra-imperialistische Widerspruch dominant sei – soll heißen, zuerst würde Nazideutschland die kapitalistischen Länder unterwerfen und sich erst dann gegen die UdSSR wenden –, und untermauert durch den Hitler-Stalin-Pakt, verweigerte sich den Aufklärungserkenntnissen vehement. Schlimmer noch: Selbst Stunden nach dem Angriff auf die UdSSR verweigerte J. Stalin diese Realität. Erst nach über einer Woche Apathie akzeptierte er die politischen Realitäten. Bis dahin handelte der sowjetische Generalstab – jedoch aus Furcht, etwas falsch zu machen – wohl nur unzureichend. Exkurs Ende
Sollte das dritte Szenario zutreffen – was ich für wenig wahrscheinlich halte –, demnach man den Ukrainern bewusst eine Falle gestellt habe, so würde es sich um eine der eigenen Bevölkerung gegenüber menschenverachtende Haltung handeln. Auch sprechen die durchaus beachtlichen Erfolge der ukrainischen Armee in dem Gebiet, die eben nur durch eine unzureichende Truppen- und Fähigkeitsdichte der russischen Sicherheitskräfte zu erklären sind, gegen dieses Szenario. Eine Falle macht nur dann Sinn, wenn sie auch effektiv zuschnappt. Das jedoch ist bislang nicht erkennbar.
Das zweite Szenario, das Versagen des Generalstabs, erscheint mir von außen betrachtet am naheliegendsten. Zumal in diesem Krieg der russischen Armeeführung eine Vielzahl von Fehlern – beispielsweise die häufige Versenkung von Schiffen der Schwarzmeerflotte – unterlaufen, die man von der angeblich zweitstärksten Armee der Welt nicht erwarten sollte.
Ultimativer Tabubruch
Das Überschreiten der russischen Grenze durch Einheiten der ukrainischen Armee stellt einen besonderen Tabubruch in mehrfacher Weise dar: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg finden Kämpfe auf dem Boden Russlands statt – und das auch noch mit deutschen, britischen und US-amerikanischen Waffensystemen, insbesondere Kampfpanzer. Damit wurde ein Tabu gebrochen, mehr noch: Angeblich sollen sich unter den ukrainischen Kräften auch westliche Söldner befinden, darunter laut russischer Seite auch US-Söldner der Söldnerfirma „Forward Observations Group (FOG)“.
Und Moskau beschuldigt insbesondere die USA, an der Planung und Führung dieses Angriffs beteiligt zu sein. Zwar bestreiten die USA eine wie auch immer unterstellte Beteiligung, aber für die russische Seite bedeutet diese Unterstellung – ob diese nun tatsächlich fundiert ist oder nicht, entzieht sich der Kenntnis des Autors dieses Beitrages –, dass in ihren Augen die USA und ihre Verbündeten Russland unmittelbar angegriffen haben.
Die russische Behauptung der Beteilung des Westens an der ukrainischen Operation in Russland wäre sodann das Überschreiten der relevantesten (Angriff auf die russische Souveränität und territoriale Integrität) aller gezogenen roten Linien. Auch hier wurden harte Vergeltungsmaßnahmen angekündigt. Bislang wurden diese jedoch – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – noch nicht umgesetzt. Und auch hier wird als eines der von Kiew verfolgten Ziele der ukrainischen Operation angeführt, man wolle damit den westlichen Unterstützern beweisen, die Russen würden eben nicht mit dem großen Hammer antworten. Es seien alles nur Bluffs, und der Westen könne angesichts der jetzt ultimativ bewiesenen nicht-materialisierten Vergeltungsrhetorik der Russen nun endlich alle denkbaren Waffensysteme an die Ukraine liefern.
Und tatsächlich äußern sich genau die Stimmen derer wieder, die ohnehin keinerlei Bedenken zu grenzenlosen Waffenlieferungen und deren Reichweite haben. Diese Stimmen werden nun vermutlich noch lauter zu vernehmen sein. So ließ es sich das Atlantic Council nicht nehmen, genau dazu einen hämischen Beitrag mit dem vielsagenden Titel „Ukraine’s invasion of Russia is erasing Vladimir Putin’s last red lines“ („Der Einmarsch der Ukraine in Russland löscht die letzten roten Linien Wladimir Putins aus“) zu veröffentlichen. Das Atlantic Council stellt nüchtern fest:
„Die Ziele dieses ehrgeizigen Einmarschs in Kursk sind immer noch rätselhaft und Gegenstand zahlreicher Debatten, aber es ist bereits klar, dass es der Ukraine mit ihrer Entscheidung, in Russland einzumarschieren, gelungen ist, die roten Linien Wladimir Putins und die Ängste des Westens vor einer Eskalation völlig zunichtezumachen.“
Und weiter der ultimative Satz zur faktischen Aufforderung des Einsatzes russischer Atomwaffen, wenn Russland weiter ernst genommen werden wolle. Ironischerweise sind sich hier das Atlantic Council und die oben zitierten russischen Sicherheitsexperten einig in der Analyse und Empfehlung, die nichts weniger als die nukleare Pulverisierung Europas bedeutet:
„Wenn Russland eine mögliche nukleare Eskalation überhaupt ernst meinte, wäre dies der richtige Zeitpunkt, seine zahlreichen Drohungen wahr zu machen.“
Fazit
Wenn sich, wie bereits ausgeführt, die russische Zurückhaltung bei der Vergeltung überschrittener roter Linien durch unzureichende konventionelle Fähigkeiten der russischen Armee erklären sollten, dann bliebe dem Kreml nur noch die nukleare Option, so wie es S. Karaganov und D. Trenin bereits fordern, oder aber das Akzeptieren von rosafarbenen Strichlinien, mithin das Akzeptieren möglicher weiterer Vorstöße – auch auf das russische Staatsgebiet. Wie sehr hier seitens westlicher Befürworter der Fortsetzung des Krieges mit dem Feuer gespielt wird, wird hiermit überaus deutlich. Daher sind eine am besten sofortige Feuerpause sowie darauf aufbauende Friedensverhandlungen, bei denen die legitimen Sicherheitsinteressen aller Beteiligten berücksichtigt werden müssen, alternativlos.
Titelbild: Shutterstock / Anastasiia Gevko